Chile hat eine neue Jugendbewegung: Sie sind zwischen 13 und 18 Jahre alt, treffen sich nachmittags in Parks und Grünanlagen und nennen sich Gothics, Emos, Visuals oder Pokémons. Die Pokémons sind die größte Gruppe unter ihnen. Ihren Namen verdanken sie dem berühmten japanischen Manga-Animationsfilm. Sie tragen ausgefallene Frisuren und hören Reggaeton, eine Fusion aus Reggae, Salsa und Hip-Hop. Anders als frühere Jugendbewegungen gelten sie als systemkonform. Protest gegen das politische System ist ihnen fremd.
Man könnte in den Pokémons ein Spiegelbild des heutigen Chile sehen: So oberflächlich, so ideologiefrei wie sie sich geben, ist auch das Bild Chiles, das in den Massenmedien entworfen wird. Um zu erfahren, wie ein echter Pokémon tickt, haben wir Juan Maturana Guerra zwei Tage lang begleitet. Wir lernten ihn vor dem Sitz des privaten Fernsehkanals Chilevisión kennen. Das ist kein Zufall: Die Jugend Chiles trifft sich im nahen Umfeld der Macht. Und Chilevisión gehört einem der einflussreichsten und vermögendsten Männer Chiles, Sebastián Piñera.
Juan ist 17. Er trägt einen roten Pulli und Jeans. In ein paar Monaten macht er seinen Abschluss am Liceo Polivalente de La Cisterna, eine Art Fachabitur, die auch eine Grundausbildung als Buchhalter umfasst. Er ist Vorsitzender des Fanclubs von Joyce Castiblanco, einem Fotomodell, das eine Jugendsendung namens Yingo moderiert. Er schwärmt für sie, weil sie so schön tanzt und singt. Juan kennt Joyce sogar persönlich: „Ich begleite sie möglichst oft bei ihren Auftritten. Neulich zum Beispiel hat sie eine Schulparty moderiert und ich war mit dabei.“ Als Dank für seine treue Unterstützung schenkt sie ihm immer wieder Fanpostkarten und Poster von sich.
Als Juan bemerkt, dass die Fotografin ihn aufnimmt, ruft er „Moment!“ zieht eine Creme aus der Tasche und schminkt sich. „Ich liebe Fotos von mir!“ Ein molliges Mädchen ruft ihm zu: „Hey, du kannst das besser als ich, Pokegay.“ Andere Mädchen des Fanclubs machen ähnliche Witze, doch Juan schminkt sich seelenruhig weiter.
„Wie viel gibst du im Monat für Schminksachen aus?“
„Schon 50.000 Peso“ (umgerechnet 58 Euro).
Ich bin überrascht, denn Juan lebt in San Ramón, einer nicht eben betuchten Gegend im Süden von Santiago. Woher er das Geld hat? Von seinen Eltern, sagt Juan, er habe keine Lust zu jobben, das sei viel zu anstrengend.
„Meine Eltern lieben mich und tun alles, damit ich glücklich bin.“
„Was möchtest du später einmal werden?“
„Fernsehschauspieler“, antwortet er.
Der Beginn der Yingo-Sendung rückt näher, weitere Fans stoßen zu uns. Zehn sind es nun schon, und ihre größte Sorge ist, ob sie alle mit in die Sendung reindürfen. „Juan, wir müssen mit Gabriel sprechen“, sagt ein Mädchen. Gabriel ist „Publikumsproduzent“, wie man in Chile den nennt, der darüber entscheidet, wer live bei einer Sendung dabei sein darf. Doch Juan hat es nicht nötig, mit Gabriel zu sprechen, er kann ja seine Beziehungen zur Produzentin spielen lassen, die er auch kennt. Er deutet auf sein Handy: „Beim geringsten Problem brauch’ ich sie bloß anzurufen, hat sie gesagt.“
Die Protagonisten der Sendung sind zwei Dutzend gut aussehende und witzige Typen um die 20, die jeden Nachmittag von Montag bis Freitag die Pokémons mit Scherzen, Wettbewerben, Tanzeinlagen, Songs und Tratsch und Klatsch aus ihrem Privatleben unterhalten. Seit die privaten Fernsehsender die Pokémons entdeckt haben, wird über andere Jugendliche kaum noch berichtet. Bilder von gegen die Misere im chilenischen Bildungssystem protestierenden Schülern, wie sie 2006 über die Bildschirme flimmerten, sind Vergangenheit. Die privaten Medien zeigen Jugendliche als harmlose, oberflächliche Freaks. So auch der Kanal Chilevisión von Sebastián Piñera. Der Unternehmer und Rechtspolitiker ist ein chilenischer Berlusconi. Wie sein italienisches Vorbild nutzt Piñera die marktbeherrschende Stellung seines Senders, um politische Macht zu erlangen. Zum zweiten Mal bewirbt er sich nun schon um die Präsidentschaft. Einige seiner treuesten jugendlichen Zuschauer werden Ende 2009 zum ersten Mal ihre Stimme abgegeben. Für sie hat sein Kanal noch eine weitere ähnliche Sendung über Pokémons im Programm. Die Nachrichten des Senders setzen dagegen auf drastische Bilder. Das Blut spritzt nur so. Piñera tut alles, um die Sensationsgier des erwachsenen Publikums zu befriedigen.
„Interessiert du dich für Politik?“, frage ich Juan.
„Politik ist echt ätzend. Den Ministern geht es doch nur darum, im Rampenlicht zu stehen, das mag ich nicht. Politik und Showbizz muss man auseinanderhalten.“
„Was interessiert dich dann?“
„Joyce!“
Natürlich meint er nicht James Joyce, sondern sein Idol Joyce Castiblanco, die Sängerin und Yingo-Moderatorin. Ihr Name tauchte erstmals in der Boulevardpresse auf, als sie sich von ihrem Mann trennte, einem Studenten der US-amerikanischen Cornell University. Joyce vergoss heiße Tränen in Presse und Fernsehen und meinte, die Beziehung sei gescheitert, weil die USA zu weit weg seien.
„Jetzt geht es ihr wieder gut“, versichert Juan. „Sie hat jetzt ihre eigene Wohnung und Arbeit zum Abwinken.“
„Habt ihr Gemeinsamkeiten?“
„Ohne Ende. Wir essen gern chinesisch, denken und fühlen das Gleiche in bestimmten Situationen. Ich würde sagen, ich und Joyce, wir sind so was wie Seelenverwandte“, erklärt Juan.
Ich würde gerne wissen, wie er sich die Zukunft vorstellt. „So wie jetzt“, antwortet er, „nur mit mehr Hochhäusern und ohne Einfamilienhäuser. Und natürlich werde es genauso viele Roboter wie Menschen geben.“
„Und was machen die Roboter?“
„Den Haushalt, die Hausaufgaben. Alles, was man selbst nicht gern macht.“
Juan beschreibt mir seinen Tagesablauf: Von 8:30 Uhr bis 13:30 Uhr Schule, dann nach Hause, sich umziehen, eine Freundin aus dem Fanclub abholen, weiter zum Sitz des Senders und dort ab 16:00 Uhr anderthalb Stunden auf den Einlass warten, dann eine Stunde auf Sendung und gegen 20:00 zurück nach Hause ... Plötzlich nähert sich Gabriel und fährt Juan an. Der „Publikumsproduzent“ ist sauer, weil man ihm erzählt hat, Juan habe sich bei seiner Chefin, der Produzentin von Yingo, über ihn beschwert. Juan ist inzwischen von den Kids des Fanclubs umringt.
„Willst du, dass sie mich rausschmeißen? Ich kann nichts dafür, dass ihr hier wie die Idioten rumhängt.“
„Ey, Gabriel, aber beschimpfen musst du uns deshalb noch lange nicht“, greift ein Mädchen ein.
„Ich beschimpfe euch nicht, ich sage nur, was los ist.“
Juan hält es nicht länger aus. Er greift zum Handy und wählt eine Nummer. Gabriel, der sich gerade beruhigt hatte, fährt ihn an: „Darf man erfahren, wen du anrufst?“
„Joyce.“
Der Produzent greift sich fassungslos an den Kopf. Er verschwindet hinter der Tür des Senders und kommt nach einigen Minuten mit einem Stück Papier wieder heraus.
„Sieben können rein“, sagt er förmlich.
Bevor ich Juan aus den Augen verliere, frage ich ihn noch, ob ich ihn zu einem Date begleiten darf. „Ponceo“ sagen die Pokémons dazu, wenn sie sich für einen Abend oder eine Nacht und nicht allzu verbindlich auf ein Mädchen, einen Jungen, oder mehrere Mädchen und mehrere Jungs einlassen ursprünglich bezeichnete „Ponceo“ einen sehr körperbetonten Tanzstil des Reggaeton. Feierlich notiert mir Juan seine Adresse. Ich solle ihn am nächsten Tag über Messenger kontaktieren, sagt er.
Nachdem wir ein paar Mal über Messenger kommuniziert haben, lande ich am nächsten Tag auf einer Party in einem Park am Ende der Avenida, die im 19. Jahrhundert Alameda de la Delicias, Allee der Wonnen, hieß. „Party” meint in diesem Fall mehrere Dutzend Jugendliche, die sich in einem Viertel der Mittelklasse, nur wenige Häuserblocks vom Sitz des Senders entfernt, unterhalten, lachen und auf ein „Ponceo“ vorbereiten.
Es ist heiß in Santiago, die Kids tragen Shorts und T-Shirts. Yingo wird von Montag bis Donnerstag live übertragen, nur der Freitag wird bereits am Donnerstag aufgenommen, deshalb hat Juan heute „frei“. Vorsichtig nähere ich mich einem Pokémon. Er sagt, er sei vierzehn, heiße Andrés und käme vom Land. Ich frage, wie er hierher gekommen sei.
„Mit dem Überlandbus“, antwortet er.
„Hast du die Leute vom Joyce-Fanclub gesehen?“
„Nee, aber am Mittwoch.“
„Dann kennst du bestimmt Juan?“
„Klar“, sagt er und strahlt, „der ist cool.“
Es wird Abend, Hemmungslosigkeit liegt in der Luft, und gerade als ich denke, dass Juan nicht mehr auftaucht, steht er da, eine Erscheinung fast, von Weitem sichtbar, und begrüßt Jungs wie Mädchen mit Küsschen. Andrés beobachtet ihn. Mich beachtet Juan nicht, aber als ich ihm zunicke, nickt er zurück. In einer Ecke des Parks küssen sich Mädchen zärtlich, ein paar streicheln sich und tanzen zu einem imaginären Sound. Juan wird von einem ganz in Schwarz gekleideten Pokemón angesprochen, der auf den ersten Blick wie eine Frau aussieht.
Es wird dunkel. Juan ist ins Gespräch mit seinem Freund vertieft. Schließlich spreche ich Juan doch noch an, sage, dass ich noch eine letzte Frage hätte.
„Hast du dich verliebt?“, frage ich ihn.
Juan starrt mich an und bricht in schallendes Gelächter aus. Als er sich wieder beruhigt, flüstert er seinem Freund etwas ins Ohr.
„So eine Frage stellt man nicht, schon gar nicht einer Dame“, sagt er mit geschwellter Brust.
Für heute habe ich genug erfahren, genug Gekicher und verstohlene Blicke ertragen. Ich mache der Fotografin ein Zeichen. Als wir den Park verlassen, fängt die Polizei an, die Pokémons aus ihrem Paradies zu vertreiben. Die Ordnungshüter sorgen sich angesichts der knutschenden Teenager um die öffentliche Moral ...
Doch schon nächste Woche wird es weitergehen und Juan wird wieder im Sendestudio des Präsidentschaftskandidaten der Rechten sitzen. Sollte der 2010 gewählt werden, wird Chile kein Land mehr sein, sondern ein riesiger Fanclub.
Aus dem Spanischen von Odile Kennel