Herr Gasser, Sie forschen über „Digital Natives“. Was ist das?
„Digital Natives“ zeichnen sich durch drei Merkmale aus. Sie sind nach 1980 in eine digitale Welt hineingeboren worden und können sich ein Leben ohne Facebook, Wikipedia und Google gar nicht mehr vorstellen. Zweitens haben sie Zugang zu diesen digitalen Technologien und zum Dritten verfügen sie über die notwendigen Fähigkeiten, diese digitalen Medien zu nutzen.
Was unterscheidet die Digital Natives von älteren Menschen?
Uns könnte man als „Digital Immigrants“ bezeichnen, das sind jene, die sich noch daran erinnern, wie man zum Recherchieren in die Bibliothek ging und nicht einfach eine Suchmaschine im Internet benutzen konnte. Die Digital Natives kommunizieren anders untereinander und auch ihr Verhältnis zu gewissen gesellschaftlichen Institutionen, wie dem Urheberrecht, hat sich gewandelt. Der Hauptunterschied besteht aber in einem völlig anderen Verhältnis zu Information und digitalen Inhalten.
Wie äußert sich dieses neue Verhältnis?
Ein Beispiel ist der Privatsphärenschutz. Das Austauschen von sehr persönlichen Informationen ist die Norm. Auf Gemeinschaftsportalen wie Facebook, StudiVZ oder MySpace erwartet man die Offenlegung von personenbezogenen Daten. In Interviews haben wir oft gehört, dass es merkwürdig sei, wenn ein Teenager in seinem Mitgliederprofil nicht angibt, ob er „Single“ oder „vergeben“ ist. Weiter sehen wir eine starke soziale Norm des Teilens, die dieser Generation inhärent ist. Das Tauschen von digitalen Inhalten, insbesondere von Musik und Videos, ist ein weitverbreitetes Phänomen ebenso wie Filesharing, die Freigabe persönlicher Dateien über ein lokales Netzwerk.
Wie unterscheiden Digital Natives Online- und Offline-Welten?
Während wir Digital Immigrants noch stark zwischen Offline- und Online-Räumen und auch -Identitäten unterscheiden, verschwimmen diese Grenzen bei Digital Natives. Das Erscheinungsbild eines MySpace-Profils übt auf sie einen ebenso identitätsstiftenden Einfluss aus, wie Kleidung oder Freunde in der Offline-Welt.
Wie wirkt sich das auf die Identitätsbildung aus?
Zu einer radikalen Neukonzeption von Identität wird es nicht kommen. Allerdings verändern sich die Modalitäten. Nach wie vor haben wir selbst einen wesentlichen Anteil an unserer Identität – mit unseren Vorlieben, unseren Hobbys und wie wir uns geben. Jedoch bildet die soziale Identität einen weiteren wichtigen Anteil des Identitätskonzepts, und die liegt außerhalb unserer Kontrolle: Andere prägen unsere Identität dadurch mit, wie wir durch sie wahrgenommen werden. Und hier lassen sich Veränderungen feststellen, insbesondere was die Dauerhaftigkeit der sozialen Identitäten anbetrifft, die im Internet geschaffen werden. Wohnte man früher in einem Dorf, dann baute man durch die Nachbarschaft und Klassenkameraden eine bestimmte soziale Identität auf. Diese konnte man relativ einfach hinter sich lassen, wenn man wegzog. Heute ist diese soziale Identität durch identitätsstiftende Bezugnahmen, die andere im Internet auf einen machen, viel „klebriger“. Wenn jemand ein Bild auf Facebook mit meinem Namen versieht, bekomme ich das nicht mehr raus, selbst wenn ich nach Asien umziehe. Und durch Suchmaschinen ist das auch immer wieder auffindbar.
Wie verändert sich die Kommunikation der Digital Natives?
Die elektronische Kommunikation wird zunehmend wichtiger, wobei E-Mail dabei schon wieder veraltet ist. Instant Messaging, also Chatten, ist das Medium schlechthin. Natürlich spielen auch SMS eine wichtige Rolle oder Kurznachrichten, die man auf Plattformen wie Facebook schicken kann. Es wird sehr nahe an Echtzeit kommuniziert.
Ändern sich auch Kommunikationsgewohnheiten?
Im Vergleich zu anderen elektronischen Medien, wie Fernsehen oder Radio, die passiv konsumiert werden, bieten die digitalen Medien eine viel höhere Interaktivität. Digital Natives konsumieren Inhalte nicht mehr nur. Sie lesen nicht lediglich den Blog eines Freundes oder nehmen eine Statusänderung auf Facebook nur zur Kenntnis, sondern sie reagieren darauf, sei es mit einem Kommentar oder einem Link auf den eigenen Blog. Auch die Möglichkeit, dass man selbst als Nobody, als ganz normaler Teenager ein großes Publikum erreichen kann, hat die Kommunikationsweise deutlich verändert. Die jungen Menschen haben nicht mehr nur die Erkenntnis, dass man seine Meinung äußern darf, sondern zunehmend auch die Erwartung, dass jemand zuhört. Beispiele auf der Video-plattform YouTube zeigen, dass man mit der richtigen Message und Kreativität sein Publikum findet.
Wie steht es um die soziale Kompetenz von Digital Natives?
Eine interessante Frage. Die soziale Kompetenz verändert sich gerade dort, wo es um kommunikative Elemente geht. Es kommen vor allem neue Komponenten in der Sozialkompetenz hinzu. Ein Beispiel ist der Umgang mit Fremdem – seien es fremde Inhalte, fremde Meinungen oder schlichtweg auch fremde Menschen, die man online trifft. Hier kann man feststellen, dass sich neue Fähigkeiten und Sensibilitäten herausbilden. Zum Beispiel entwickeln Mädchen, die sich auf MySpace bewegen, intuitiv differenzierte Strategien, wie man mit Freundschaftsanfragen von Personen umgeht, die man nicht gut oder gar nicht kennt. Hier entsteht eine Art Experimentierraum, der sich nicht unbedingt mit Offline-Erfahrungen vergleichen lässt.
Werden Kontakte nicht immer oberflächlicher?
Die Kontakte werden eher vielfältiger. Es kann durchaus sein, dass man durch Freundschaftsempfehlungen mit Leuten Kontakt hat, mit denen man offline nicht unbedingt in ein Gespräch kommen würde. Es entsteht eine größere Bandbreite. Einerseits können die Kontakte tatsächlich relativ flüchtig sein, andererseits trifft es ja nicht zu, dass diejenigen, die viel im Internet sind, weniger Offline-Kontakte hätten. Nur werden diese ebenso vor allem online gepflegt. Dass sich an deren Tiefe etwas verändert, ist nicht unbedingt zu erwarten, da es die Offline-Komponente nach wie vor auch noch gibt.
Wirkt sich die Flüchtigkeit der Internet-Kommunikation auf die Dauer von Freundschaften aus?
Die Flüchtigkeit beeinflusst diese Sozialbeziehungen natürlich grundsätzlich. Ich würde allerdings bezweifeln, dass es sich wirklich überall um „Freundschaften“ handelt oder dass die Digital Natives das selbst so sehen würden. Auch wenn viele Teenager Barack Obama auf ihrer Facebook-Seite als „Freund“ hinzugefügt haben, sehen sie Obama nicht wirklich als ihren Freund an. Insofern ist der Begriff, wie er auf diesen Social Network Sites gebraucht wird, ein Stück weit irreführend. Ich glaube nicht, dass sich das Konzept von Freundschaft verändert, weil Offline-Kontakte nach wie vor eine große Rolle spielen.
Gibt es einen Generationenkonflikt zwischen Digital Immigrants und Digital Natives?
Es gibt in der Tat Konfliktpotenzial. Der Generationenkonflikt besteht darin, dass Digital Immigrants häufig überreagieren, wenn es um die Bewertung der Risiken geht. In den USA wollte man beispielsweise den Zugang zu sozialen Netzwerken verbieten, aus Sorge, dass Schüler dort auf Pädophile treffen könnten. Social Networking Sites sind für junge Menschen extrem wichtig und gelten als zentraler Bestandteil ihrer Online-Erfahrung. Natürlich stößt da eine solche Reaktion auf Unverständnis. Die größte Gefahr, die meiner Ansicht nach aus diesem Generationen-Spannungsverhältnis entstehen kann, ist, dass wir, die ältere Generation, die im Moment noch die Gestaltungsmacht über diese Medien hat, die Chancen dieser neuen Nutzungsmöglichkeiten zu wenig erkennen und unterstützen.
Sehen Sie denn gar keine Risiken für die Digital Natives?
Für mich persönlich, als Vater und auch als Lehrer, sind die größten Sorgen mit Informationsüberlastung und Abhängigkeit verbunden. Internet und digitale Medien haben eine enorme Anziehungswirkung. Gleichzeitig erzeugen sie auch einen Druck – man muss online sein, wenn man mit Freunden kommunizieren und auf dem Laufenden sein will. Die Faszination, Stunden auf Youtube nach neuen Videos zu suchen oder in Wikipedia zu surfen, kann zum Problem werden, wenn es nicht mehr gelingt, Unterbrecher einzubauen und sich Auszeiten zu nehmen von dieser Informationsflut. Ebenso gibt es Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit. Digital Natives haben einen ausgeprägten Hang zum Multitasking. Es fällt ihnen immer schwerer, gewisse Zeiten internetfrei zu verbringen und sich auf nur eine Sache zu konzentrieren – eben nicht gleichzeitig zu chatten, zu surfen, fernzusehen und Schulaufgaben zu machen. Natürlich ist auch Sicherheit im Internet wichtig, aber die Übernutzung stellt wohl die größte Gefahr dar.
Ist diese Generation Internet ein Phänomen der westlichen Welt?
Junge Chinesen haben ein ganz ähnliches Verhalten wie junge US-Amerikaner, wenn sie im Netz sind. Man kann daher von einer globalen Kultur sprechen, die hier entsteht. Der Gegensatz besteht nicht mehr darin, ob man im Osten oder Westen lebt, sondern ob man die Fähigkeiten in der Mediennutzung ausbilden kann oder nicht. Es tut sich ein neuer digitaler Graben auf. Der bisherige bestand vorrangig in der Infrastruktur, also der Zugangsmöglichkeit zum Internet. Den neuen Graben könnte man „participation gap“, Teilhabelücke, nennen. Viele junge Menschen sind schlecht ausgebildet in der Nutzung dieser neuen Technologien. Hier ist die Politik gefordert, da spielen Fragen der Pädagogik und Medienerziehung mit hinein, aber natürlich auch die Rolle der Eltern. Diese Partizipierungslücke ist der eigentliche neue Graben, der entsteht und Kopfzerbrechen bereitet.
Das Interview führte Andrea Heß