Braucht jede Revolution einen Anführer? Im Falle des „Arabischen Frühlings“ ist auffällig, dass die Aufstände in keinem der betroffenen Länder intellektuelle Schutzpatrone, politische Führung oder organisierte Parteien zu benötigen scheinen. Selbst nach den revolutionären Erfolgen in Tunesien und Ägypten tauchen nirgends Parteien auf, die diese Erfolge für sich beanspruchen, oder Anführer, die den historischen Geist verkörpern. Stattdessen betrachten die Revolutionäre alle Parteien und Hierarchien argwöhnisch und vertrauen mehr auf Spontaneität, minimale Planung, lokale Initiativen und den Willen des Einzelnen. Die akute Abwesenheit von Parteien, Anführern, Vertretern radikaler Weltanschauungen und Ideologen liegt aber nicht daran, dass diese der arabischen Welt grundsätzlich unbekannt wären – ganz im Gegenteil.
Jede Revolution ist ein aufklärerisches Experiment. Experimente können gelingen oder scheitern. Manchmal regen sie auch eine Korrektur ihrer Methoden oder Zielabsichten an. Als Quelle des revolutionären Denkens im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts gelten die Philosophen der Aufklärung. Sie kritisierten die Willkür absoluter Macht und erprobten, zu welchen Leistungen ein freier und vernünftiger Geist in der Lage ist. Weil diese philosophischen Überlegungen zwangsweise zu gesellschaftlichen und politischen Schlussfolgerungen führten, bedurften sie großer revolutionärer Experimente, um überprüft zu werden. In diesen wurden unterschiedliche Methoden angewandt. Ich schlage vor, drei verschiedene Arten der revolutionären Aufklärung zu unterscheiden: Erstens die autoritäre Methode, bei der eine aufgeklärte Elite mit staatlichen Mitteln die Modernisierung einer unbeweglichen, widerspenstigen Masse übernimmt, die angeblich von obskuren Traditionen beherrscht wird. Zweitens die liberale Methode, bei der die staatliche Elite weder ein Monopol auf Aufklärung noch die Macht besitzt, dies zu behaupten.Und drittens eine anarchistische Methode, bei der angenommen wird, dass Aufklärung am verlässlichsten von unten kommt anstatt durch staatliche Macht und Gesellschaftsentwürfe am Reißbrett.
Mit ihrer Kritik an Willkürherrschaft, durch das Erzwingen des Volkswillens und als Akt der Befreiung bezeugen die aktuellen arabischen Revolutionen das Scheitern eines früheren aufklärerischen Experiments in den betreffenden Ländern. Dieses Experiment, das Machthaber wie Zine el-Abidine Ben Ali und Hosni Mubarak verkörperten, folgte der autoritären Methode. Es war von Europa und den Vereinigten Staaten unterstützt worden, weil es in Form moderner Staaten den Islamismus unter Verschluss zu halten versprach und in diesem Sinne aufklärerisch wirkte. Heute können wir aber leicht die beiden Grundfehler dieses durch den „Arabischen Frühling“ delegitimierten autoritären aufklärerischen Weges erkennen: Erstens neigt er dazu, eher seine autoritäre als seine aufgeklärte Seite herauszukehren. Und zweitens hat er etwas aus dem Blick verloren, das jetzt überall auf den Straßen zutage tritt, nämlich dass Aufklärung am zuverlässigsten von unten und nicht von oben kommt und dass die arabischen Gesellschaften inzwischen stärker vom Ethos der Aufklärung durchdrungen sind als ihre Regierungen.
Die heutigen arabischen Revolutionen scheinen im Gegensatz zu diesen autoritären Experimenten auf der Annahme zu beruhen, dass ganz gewöhnliche Menschen ohne Führung und Bevormundung zu Aufklärung fähig sind und dass sie diese Fähigkeit berechtigt, die Tyrannen zu stürzen, unter denen sie jahrzehntelang dahinsiechten. Der Akteur dieser Art der revolutionären Aufklärung ist nicht die historische Persönlichkeit, der Held oder der Retter, sondern der kleine Mann und die kleine Frau. Deshalb kommt die derzeitige revolutionäre Welle der anarchistischen Methode am nächsten, welche die Spontaneität betont und das Prinzip der freiwilligen Ordnung als die höchste Form der vernunftbegabten Gesellschaft postuliert.
Dennoch werden sich nur die wenigsten der heutigen arabischen Revolutionäre „Anarchisten“ nennen. Auch hat keine dieser Revolutionen gefordert, den Staat durch einen freiwilligen und hierarchielosen Zusammenschluss selbstbestimmter Individuen zu ersetzen, also durch eine Ordnung im Sinne des Anarchismus. Die Revolutionäre wollen den Staat nicht abschaffen, sondern so modernisieren, dass er nicht mehr autoritär ist, dass er die Bürgerrechte respektiert und Machthabende zur Rechenschaft gezogen werden können. Sie fordern ausdrücklich einen bürgerlichen, liberalen Staat und keine anarchistische Gesellschaft. Insofern erleben wir hier die seltene Verbindung einer anarchistischen Methode mit einem liberalen Ziel.
Methode und Ziel hängen insofern zusammen, als sowohl der Anarchismus als auch der Liberalismus aus der Aufklärung entsprungen sind. Sie sind jedoch nicht exklusiv europäische Traditionen. In der islamischen Geschichte gibt es gesellschaftliche Ordnungsmodelle, die entweder ganz unabhängig von staatlicher Herrschaft sind oder dem staatlichen Zugriff klare Schranken setzen, die also nach heutigem Verständnis anarchistisch oder liberal genannt werden können. Moderne autoritäre Herrscher wie Ben Ali und Mubarak haben im Namen der Aufklärung all ihre Ressourcen auf die Vergrößerung der Macht des Staates über die Gesellschaft verwendet.
Aber der Stil der Revolutionen, die sie gestürzt haben, zeigt das Fortdauern der Elemente des alten bürgerlichen Ethos. Denn die Spontaneität der Revolutionen ist eine Erweiterung der schon vertrauten Spontaneität des täglichen Lebens in arabischen Straßen. Die revolutionäre Solidarität, aus der sich der Wille ergibt zu kämpfen und Opfer zu bringen, ist eine Erweiterung der bekannten Solidarität in Nachbarschaften und Dörfern. Und auch Gewaltlosigkeit als Strategie basiert auf vertrauten, alten Protestgewohnheiten. In den letzten Jahren brachte man uns dazu, diese Traditionen zu vergessen, weil unsere Aufmerksamkeit vom Schauspiel von „Terror“ und „Krieg gegen den Terror“ gebannt war – einem Schauspiel, das keine anderen politischen Ergebnisse brachte, als den Machthunger der autoritären Ordnung zu nähren und ihre Daseinsberechtigung zu untermauern.
Wie wir von Lenin wissen, bedarf die autoritäre Methode der Aufklärung einer revolutionären Avantgarde. Der Psychoanalytiker Frantz Fanon, Autor des antikolonialen Buches „Die Verdammten dieser Erde“, argumentierte jedoch, dass diese Stellvertreterschaft schnell in Paternalismus umschlägt, wenn die Avantgarde an die Macht kommt und sich vom Volk entfremdet. Die einstigen Revolutionäre werden dann selbst zu einer herrschenden Elite und büßen ihren antikolonialen, fortschrittlichen und drittweltlichen Anspruch ein. Aus der Asche der Avantgarde tut sich ein kalter, paternalistischer Autoritarismus auf, der kein Interesse an irgendeiner Art von Legitimation durch das Volk hat und ausschließlich seine eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen verfolgt. Das Ziel der Aufklärung schlägt durch ihre Methode ins Gegenteil um.
Die liberalen Staaten, die jetzt am Horizont auftauchen, sind jedoch nicht das Ende dieser Geschichte. Stattdessen wird, wenn das autoritäre aufklärerische Projekt erst zerstört ist, Aufklärung zur Aufgabe eines jeden Einzelnen. Die Bürger erwarten von einer liberalen politischen Ordnung, dass sie genug Luft zum Atmen außerhalb staatlicher Bevormundung lässt, damit jeder „seine selbstverschuldete Unmündigkeit“ überwinden kann, wie Kant es formulierte. Bereits die anarchistischen revolutionären Prozesse selbst waren der experimentelle Beleg, dass dies gelingen kann: Indem die Tunesier und Ägypter nicht ihre eigene Unmündigkeit überwanden, sondern die, die ihnen der Staat auferlegt hatte, zeigte sich, dass der Austritt aus der „selbstverschuldeten“ Unmündigkeit längst geschehen ist. Die Methode der Revolution bestätigt die Aussagen der Aufklärung, die aus den höheren Sphären des philosophischen Denkens auf die Erde geholt und in die Hände ganz gewöhnlicher Sterblicher gelegt worden sind.
Aus dem Englischen von Rosa Gosch