Der deutsche Klang

von Angela Grünberg

Das Deutsche in der Welt (Ausgabe IV/2010)


Klangwissenschaftler haben uns in den letzten Jahren gelehrt, dass die physische Welt, die uns umgibt, in ihrer Materialbeschaffenheit ein Resonanzmedium ist. Ob der uns umgebende Raum aus Metall, Holz, Beton, Glas oder irgend einem anderen Material ist, bestimmt die Art des Klanges, der in ihm enstehen kann. Die Materialität und auch die Winkelgebrochenheit der in einem Raum vorhandenen Materialien – also welche Kanten, Ecken, Risse und Rundungen das Material im Raum vorweist – bestimmen den Raumklang. Auch unsere Körper im Raum stellen ein Resonanzmedium dar. Klangwissenschaftler betonen die kulturelle Bedeutung der Resonanzbeschaffenheit eines Raumes.

Verfolgt man diesen Gedanken weiter, begreift man, dass Auen, Wiesen, Wälder und Städte ihren eigenen Klang haben vielmehr, dass jede Wiese und jeder Wald und jede Stadt und jede Straßenschlucht ihren eigenen Klang hat – ihr eigenes Scheppern und Raunen. In diesem Sinne lässt es sich also von einem „Münchner“, „Berliner“, „Schwarzwälder“ oder gar dem „deutschen“ Klang sprechen. Es scheint, als habe eine von der Romantik ins Spiel gebrachte Idee, nämlich die den Landschaften entsteigenden Klänge – man denke zum Beispiel an den wie klingelnde Goldmünzen rauschenden Rhein – eine verwandte wissenschaftliche Untermauerung gefunden.

Bisher jedoch machte der Begriff vom deutschen Klang eher in Musiker- und Musikliebhaberkreisen die Runde. Verwendet in diesem Zusammenhang, bezieht sich der Begriff auf eine Art Klangtypus, der viele der in Deutschland tätigen Symphonieorchester auszeichnet. Dieser Klangtyp wird in der Regel mit den Attributen „erdig“, „dunkel“, „satt“ und „schlank“ umschrieben. Ich denke aber, es ist die nüchterne Note, mit der dieser sehr warme Klangcharakter artikuliert wird, der seine Besonderheit ausmacht.

Es ist kein ausschließliches Merkmal deutscher Orchester, eine eigene Klangsignatur zu haben – um hier nur zwei nicht deutsche Beispiele zu nennen: Die Wiener Philharmoniker sind für ihren „goldenen“ Klang berühmt und darauf bedacht, ihn zu erhalten, und das Königliche Concertgebouw-Orchester der Niederlande ist für seinen sachlichen, transparenten und dennoch weichen Klang weltbekannt. Simon Rattle hat einmal diese einem Orchester ganz eigene Klangsignatur mit dem Wesen eines Orchesters verglichen, seinem Geheimnis, das von Musikergeneration zu Musikergeneration durch alle dirigatsbezogenen Klangvariationen hinweg weitergetragen würde. Es ist ein Geheimnis, das sich nicht in Einschwingungsvorgängen und Teiltonstrukturen erschöpft.

Die Existenz nationaler Klangkulturen ist spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert eine Tatsache europäischer Kulturgeschichte. Ihre Entwicklung ist historisch gut belegt. Die Entwicklung eines „französischen“, „italienischen“ oder „deutschen“ Klangtypus folgte keineswegs einem nationalen Dirigat, sondern war Teil eines viel komplexeren historischen Vorgangs, zu dem die Entwicklung bestimmter Musikinstrumente und Spielschulen beitrug beides teilweise sehr lokal bedingte Prozesse. Als Stichwort und Beispiel sei hier die Entwicklung einer „deutschen“ Klarinettenschule – die auf einen reinen, kompakten und kantenlosen Klang abzielt – und einer „französischen“ Klarinettenspielart – die auf einen hellen und unmittelbaren Klang abzielt – erwähnt. Sowohl bei der Klarinette als auch beim Horn ging die Entwicklung baulich sehr unterschiedlicher Instrumente mit unterschiedlichen Klangvorstellungen einher. Musikinstrumente sind Handwerksprodukte, deren Entwicklung nicht selten der Lösung regional oder lokal auftretender Spielproblematiken und Klangwünsche verschrieben ist.

Nicht nur die Musikgeschichte, sondern auch die tägliche Musizierpraxis kennt unterschiedliche pädagogische Methoden, unterschiedliche Spiel-, Anschlag- und Bogentechniken oftmals in „deutsch“, „französisch“ und „russisch“ aufgeteilt, da diese in den jeweiligen Musikhochschulen entwickelt, gepflegt und weitergegeben wurden. Daniel Barenboim lüftete kürzlich auf Anfrage eines Journalisten vom Tagesspiegel das Geheimnis um den deutschen Klang auf die folgende Weise: „Ich kann Ihnen genau erklären, was man tun muss, damit ein Orchester diesen deutschen Klang hat. Es hängt davon ab, wie man einen Ton anfängt. Nicht immer mit Akzent und nicht hart. Es kommt darauf an, dass man den Ton bis zum Ende hält. Dass man während einer rhythmischen Figur den Charakter nicht ändert. Und wenn Sechzehntel oder schnelle Achtel kommen, dass man nicht automatisch mit Akzent spielt. Ich sage dann immer: ‚Lasst Eure Achtelmaschine zu Hause.’ (...) Der Ton muss von Anfang an vibrieren, sodass das Vibrato nicht wie ein künstlich eingesetztes Element wirkt. Auch darf die Entfernung des Bogens vom Körper nicht zu groß sein, sonst wird der Klang viel zu vertikal. Sie sehen, dass der deutsche Klang durchaus etwas ist, das man lernen kann!“

Die Feststellung der Existenz bestimmter Klangkulturen mit nationalem Ursprung ist eine Sache. Die wirklich interessante Frage ist jedoch die nach der Bedeutung und dem Inhalt einer Klangkultur. Das heißt die Frage, weshalb sich zum Beispiel gerade in Frankreich die Tradition eines hellen, leichten, den Lüften verwandten Klangs etabliert hat und in Deutschland ein aus der Erde dräuender, kantenfreier und zugleich nüchterner Klang kennzeichnend geworden ist.

Wenn wir Ästhetik als Ausdruck einer Beziehung zur Welt denken, sollten wir fragen, worauf in der Welt sich dieser oder jener Klang bezieht oder worauf er eine Antwort ist. Im Zusammenhang mit dieser Frage liegt die Mutmaßung nahe, dass eine Klangkultur auch etwas mit jenem anderen da draußen in den Städten und Dörfern und Wäldern und Wiesen liegenden Klang zu tun hat, denn das ist der Sound, der uns täglich umgibt.

In philosophischen Abhandlungen über den musikalischen Klang wird betont, dass der Klang nicht dem eigentlichen musikalischen Raum zugehörig scheint – da er kein eigenes musikalisches Objekt stiftet. Dies unterstreicht meinen eigenen Ansatz, wonach der Inhalt und die eigentliche Bedeutung eines Klangbildes in der Beziehung zum nicht musikalischen Raum zu suchen ist das heißt darin, wie der den Klang Intonierende zur Welt und all ihren Tatsachen steht.

Das mag sich hochgegriffen anhören, aber wir beziehen uns auf die Welt in all unseren Handlungen, für die wir Gründe haben. Wenn wir bei einer roten Ampel anhalten, dann bezieht sich diese Handlung auf die Tatsache, dass die Ampel gerade rot ist und diese Tatsache ist auch der Grund unserer Handlung. Die Erschaffung eines bestimmten Klangbildes ist auch eine Art Handlung, die aus einer vielschichtigen – nicht unbedingt ausschließlich bewussten – Bezugnahme auf jeweilige Tatsachen erwachsen ist.

Diesem Zwischenspiel zwischen der Welt und der persönlichen Befindlichkeitsstruktur eines jeden von uns – diesem Hin und Her zwischen Wahrnehmung und Handeln – hat bereits Aristoteles viel Aufmerksamkeit geschenkt. Er betonte, dass manche Tatsachen nur durch eine bestimmte Befindlichkeitsstruktur wahrgenommen würden. Wenn man die Gründe menschlichen Handelns als Antwort oder Bezugnahme auf die einen selbst umgebenden Tatsachen versteht, so beginnt das Phänomen der nationalen Klangkultur im Allgemeinen und des deutschen Klanges im Besonderen eine klarere Kontur zu gewinnen.

Eine Beziehung zu Tatsachen kann auch als eine Art Wissen dargestellt werden und ich plädiere dafür, den deutschen Klang nicht nur als ein „zu wissen, wie“ sondern auch als ein „Wissen von“ zu verstehen. Das Wissen, das hier zu Gehör gebracht wird, ist ein mögliches Wissen darüber, wie sich ein Dasein innerhalb Deutschlands – innerhalb der klingenden und rauschenden Ufer, der Brücken und der Städte, dieser so und nicht anders klingenden Sprache, einer bestimmten Art des Miteinander, der Normen und des Lebensgefühls, des täglich zu bestimmten Dingen „Ja“- und zu anderen „Nein“-Sagens – anfühlt und anhört.

Der deutsche Klang ist ein Exportartikel geworden. Das West-Eastern Divan Orchestra intoniert ihn deutsche Hörner und deutsche Trompeten finden ihren Weg in Orchester in Amerika und anderswo und Dirigenten und Musiker, die in der in Deutschland gepflegten Kultur vom Musizieren groß geworden sind, sind im Ausland sehr beliebt. Das englische Konzertpublikum zum Beispiel, das ich persönlich einigermaßen gut kenne, liebt die deutschen Orchester und das, was mit ihnen verbunden wird. Sogar ganz gegenwärtige Umsetzungen eines sehr deutschen Lebensgefühls wie der im Mai 2009 in London uraufgeführte Liederzyklus von Thorsten Rasch „Mein Herz brennt“ – mit René Pape und Katharina Thalbach – finden großes Interesse, und Gefallen.

Während Marken darauf abzielen, Lifestyles zu transportieren, transportiert der „deutsche Klang“ tatsächlich nicht nur einen Lifestyle, sondern eine gefühlte (und kognitiv nicht reflektierte) Beziehung zu einer ganzen Lebenswelt eine Art Wissen. Darin liegen sein Wert und seine Besonderheit. 



Ähnliche Artikel

Talking about a revolution (Ich bin dafür, dass ...)

Ich bin dafür, dass wir eine Weile auf „Aida“ verzichten

ein Kommentar von Krystian Lada

Mozart, Puccini, Verdi: Auf den Opernbühnen dominiert das klassische Repertoire, inzeniert von weißen Männern. Ein Plädoyer für neue Spielpläne

mehr


Für Mutige. 18 Dinge, die die Welt verändern (Thema: Erfindungen)

Der perfekte Mensch

von Jeffrey Steinberg

Wie in einer Klinik in Los Angeles Babys nach Wunsch gemacht werden

mehr


Das neue Polen (Thema: Polen)

„Unser Trauma hat Millionen Gesichter“

ein Interview mit Joanna Bator

Die Schriftstellerin ist eine der wichtigsten Stimmen der polnischen Literatur. In ihrem neuen Roman geht es um wütende Frauen und seelische Verletzungen. Ist das Zufall oder ein Statement? Ein Gespräch

mehr


Das ärmste Land, das reichste Land (Thema: Ungleichheit)

Unregierbar

von Josué Kanabo

Warum der schwache Staat eines der größten Probleme des Landes ist

mehr


Für Mutige. 18 Dinge, die die Welt verändern (Thema: Erfindungen)

Der 3D-Drucker

von Dale Dougherty

Die Renaissance der Produktion vor Ort: Wie wir zu digitalen Handwerkern werden

mehr


Geht uns das Wasser aus? (Was anderswo ganz anders ist)

Worüber spricht man in Göteborg

von Ruben Dieleman

Warum den Göteborgern Pizza wichtiger ist, als die NATO-Beitrittsverhandlungen

mehr