In Basel geboren, nur einen Steinwurf von Deutschland entfernt, blieb das Nachbarland für mich lange Zeit dennoch fern und fremd. Tatsächlich erinnere ich mich nicht daran, in meiner Kindheit und Jugend je in Deutschland gewesen zu sein. Es gab Wochenendausflüge nach Strasbourg und Colmar. Manchmal ging man für Spaziergänge oder zum Spargelessen ins Elsass, aber nie kam man auf die Idee, Richtung Deutschland zu fahren, obwohl die Grenze weniger als zehn Minuten entfernt lag. Das vorherrschende Gefühl gegenüber Deutschland war ein latentes Unwohlsein. Man blieb instinktiv auf Distanz. Woher kam diese Berührungsangst?
Es hatte damit zu tun, dass der lange Schatten des Zweiten Weltkriegs auch Ende der 1980er-Jahre – zwei Generationen danach – das Deutschlandbild wesentlich prägte. Im Geschichtsunterricht war der Krieg jahrelang das Hauptthema. Die Zeit des Nationalsozialismus wurde in allen Details ausgeleuchtet. Besonders fasziniert war ich von der Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“, über die ich alles las, was ich finden konnte, und eine Arbeit schrieb, die in der Klasse eine mehrere Unterrichtsstunden anhaltende Diskussion auslöste. Es beschäftigte uns dabei vor allem die Frage, wie wir in der gleichen Situation gehandelt hätten, ob wir ebenso den Mut gehabt hätten, unter Lebensgefahr Widerstand zu leisten, und ob es nicht sogar eine moralische Pflicht dazu gibt. Die Auseinandersetzung kreiste um das Zitat von Kurt Tucholsky: „Nichts ist schwieriger und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“
Aus der Beschäftigung mit dem deutschen Widerstand entwickelte sich eine tiefe Bewunderung für Sophie Scholl und Anne Frank, die wir Schweizer Schüler als Heldinnen verehrten. Das Tagebuch der Anne Frank war mit Abstand das beliebteste und meistgelesene Buch meiner Generation. Das gegenwärtige Deutschland blieb dabei weitgehend im Dunkeln und hatte keinen „appeal“. Im Gegenteil: Der große Nachbar hatte etwas Furchteinflößendes und die geografische Nähe änderte nichts an der Tatsache, dass man sich fremd war. Viele hegten ein Ressentiment nicht nur gegen das Land, sondern auch gegen seine Sprache. Obwohl der Baseler Dialekt von allen Schweizer Dialekten dem Hochdeutschen am nächsten kommt und mit dem Alemannischen verwandt ist, ist die deutsche Hochsprache für Schweizer dennoch eine Fremdsprache, die erlernt werden muss. Hochdeutsch ist die Sprache, in der unterrichtet, geprüft und bewertet wird. Immer wieder gab es erfolglose Vorstöße seitens der Schweizer Schüler, den Dialekt als Unterrichtssprache einzuführen.
Ich teilte diese Animosität gegen die deutsche Hochsprache nicht. Mir war der Schweizer Dialekt lange Zeit geradezu verhasst. Ich empfand ihn gegenüber der Hochsprache als minderwertig und hatte schon als Kind ein starkes Bedürfnis, mich vom Dialekt zu emanzipieren und mir die deutsche Hochsprache möglichst akzentfrei anzueignen. Schon früh hegte ich deshalb ein außerordentliches Interesse an der deutschen Literatur, die ich gierig und in großen Mengen verschlang: Heinrich Böll, Kurt Tucholsky, Thomas Mann, Stefan Zweig, Wolfgang Borchert und Siegfried Lenz. Eine starke Faszination für die Malerei brachte mich mit Emil Nolde, Franz Marc, Max Beckmann, Georg Baselitz und vor allem Joseph Beuys in Berührung, mit dessen Werk ich mich intensiv beschäftigte. Tatsächlich kam die intellektuelle Stimulation und fast alles, was mich in meiner Jugend interessierte – Literatur, Musik oder Malerei – aus Deutschland. Als Teenager hatte ich statt Postern von Popstars das berühmte Zitat von Joseph Beuys „Jeder ist ein Künstler“ über meinem Bett hängen. Das Konzept der sozialen Plastik und insbesondere die Installation „Die Honigpumpe am Arbeitsplatz“ hatten eine inspirierende Wirkung auf mich. Mit jugendlichem Enthusiasmus schlug ich der Schuldirektion vor, eine „Honigpumpe auf dem Schulplatz“ zu installieren, um die „hängenden und müden Köpfe“ zu beleben, aber auch um einer Langeweile entgegenzuwirken, die ich als qualvoll empfand.
Als im November 1989 die Mauer fiel, war ich gerade 16 Jahre alt. Am Fernsehbildschirm verfolgte ich das historische Ereignis. Nie zuvor hatte ich solche Szenen gesehen. Die Freude und Erleichterung in den Gesichtern war überwältigend. Massen glücklicher Menschen, die voller Hoffnung mit ausgestreckten Armen in den Westen stürmten. Diese Bilder aus Deutschland, die um die Welt gingen, veränderten unsere Sicht auf Deutschland grundlegend. Das Land, in dem die Vergangenheit so dunkel wie allgegenwärtig war und das seine Wunden zu konservieren schien, wurde über Nacht zum Sehnsuchtsort. Von einem Tag auf den anderen redete niemand mehr über etwas anderes. In der Schule wie zu Hause war der Zusammenbruch der DDR das Thema jeder Konversation. Mein Bruder fuhr mit ein paar Freunden nach Berlin und kam zurück mit einem kleinen Stück abgebrochener Mauer. Ich erinnere mich, wie wir das Mauerstück fasziniert studierten, als hätte er es vom Mond geholt, von einem anderen Planeten in unsere Welt hinübergerettet. Mit der Mauer zerbröckelten unsere Vorurteile. Plötzlich war Deutschland gegenwärtig, zum Anfassen, real und nicht mehr nur das Land, in dem sich der größte Horror der Geschichte ereignete. Berlin roch nach Zukunft, Abenteuer und Aufbruch. Die Ausstrahlung war unwiderstehlich. Jeder wollte hin. Als in der Klasse darüber abgestimmt wurde, wohin die dreitägige Schulreise gehen sollte, gewann Berlin haushoch gegen Amsterdam. Berlin war hip – und das ist bis heute so geblieben.
Deutschland begegnete mir oft dort, wo ich es am wenigsten erwartete. 1999 wurde ich vom Goethe-Institut für drei Wochen nach China eingeladen, um dort an diversen Schulen und Universitäten aus meinem Roman „Das Blütenstaubzimmer“ zu lesen – damals die Klassenlektüre der chinesischen Deutschstudenten. An der Fudan Universität in Schanghai traf ich auf 16-jährige Chinesinnen, die nicht nur fließend und akzentfrei Deutsch sprachen, sondern ein glühendes Interesse an deutschsprachiger Literatur hatten. Eine der Studentinnen entpuppte sich gar als Kafka-Expertin. Sie kannte sein Werk auswendig und nie wieder führte ich mit jemandem ein derart leidenschaftliches Gespräch über den Autor. Erst in China verstand ich auch, was der Begriff „kafkaesk“ tatsächlich bedeutet. Als ich von meinem Mobiltelefon aus meinen Vater in der Schweiz anrief, ertönte mitten in unserer Konversation eine warnende Stimme, ich möge doch bitte keinen Dialekt, sondern Hochdeutsch sprechen. Offenbar war es völlig normal, als ausländische Schriftstellerin abgehört zu werden. Plötzlich konnte ich verstehen, warum die Deutschlehrer und Lektoren vom Deutschen Akademischen Austauschdienst allesamt irgendwie paranoid wirkten. Nach den Lesungen kamen die Studenten zu mir, um mir hinter vorgehaltener Hand zu versichern, dass die Scheidungsgeschichte in meinem Roman genauso hätte in China geschehen können und sie durchaus wüssten, dass der Zusammenbruch der Familie nicht nur – wie man ihnen vor meinem Besuch eingebläut hatte – ein typisch deutsches, sprich westliches Phänomen sei.
Es sind die kulturellen Erzeugnisse, die die Befindlichkeit und den Zustand eines Landes aufzeigen. Für die Generation, die den Krieg nicht direkt erlebt hatte, war es notwendig, neue Geschichten, „ihre“ Geschichten zu erzählen. In diesem Sinn war der Film „Lola rennt“, der 1989 die Kinos stürmte, ein Befreiungsschlag. Das Großstadtmärchen wurde zum Generationenfilm, mit dem sich nicht nur die Jungen identifizieren konnten, sondern der ein Deutschland zeigte, das viele Menschen auch im Ausland interessierte und faszinierte. Dem Regisseur und Filmproduzenten Tom Tykwer gelang es, mit einer neuen Leichtigkeit eine Geschichte zu erzählen, die wie ein frischer Wind durch Deutschland und die Welt fegte. Der Film half wesentlich mit, das Image Deutschlands im Ausland anzupassen und zu modernisieren. Ich sah ihn in der englischen Fassung „Run Lola Run“ 1999 in einem Kino in New York und weiß noch, wie aufgeregt und stolz ich war, mit meinen amerikanischen Freunden in einen deutschen Film zu gehen. Seit „Das Boot“ von 1989 wurde kein deutscher Film im Ausland mehr mit solchem Interesse aufgenommen. Die Ausstrahlungskraft von „Lola rennt“ war enorm und spielte allein in den USA sieben Millionen Dollar ein. Die Hauptdarstellerin Franka Potente ist neben Diane Kruger eine der wenigen deutschen Schauspielerinnen, die es heute geschafft haben, in Hollywood Fuß zu fassen. Ich sehe in Tykwers Film das von vielen jungen Deutschen geteilte Bedürfnis, aus den Grenzen der eigenen Herkunft auszubrechen, sowohl geschichtlich als auch geografisch wegzukommen. Womöglich ist es kein Zufall, dass Tykwers neuester Film „The International“ heißt.
Dennoch ist das Klischee des „bösen Deutschen“ im Film heute noch so lebendig wie eh und je. Der „bad guy“ in Hollywoodfilmen wie „Die hard“ oder „Indiana Jones“ ist oftmals deutscher Herkunft. Gleichzeitig ist das Interesse an Filmen, die in der Zeit des Holocaust spielen, ungebrochen. Es scheint sogar so, als hätte Hollywood gerade in den letzten Jahren Deutschland für sich entdeckt. Produktionen wie „Valkyrie“ mit Tom Cruise, „Good“ mit Viggo Mortensen als SS-Offizier oder „The Reader“, der Kate Winslet einen Oscar eingebracht hat, waren sowohl große Publikums- als auch Kritikererfolge. Nicht zu vergessen Quentin Tarantinos geniales Werk „Inglourious Basterds“, das wohl als der ultimative Rache-Film in die Geschichte des Films eingehen wird.
Das Nahe und doch so ferne Deutschland meiner Kindheit, der dunkle Nachbar, ist inzwischen transparent und offengelegt. Einen weiteren Wendepunkt in der Wahrnehmung stellte auch die Fußballweltmeisterschaft 2006 dar, die Deutschland austrug. Obwohl es innerhalb Deutschlands hitzige Diskussionen darüber gegeben haben muss, ob die Nationalhymne gesungen werden sollte oder besser nicht, wirkte das Land auf Außenstehende angenehm entspannt. In den Fernsehbildern, die um die Welt gingen, konnte man zum ersten Mal sehen, dass auch die Deutschen ein gesundes und normales Selbstbewusstsein haben.
Seit sieben Jahren lebe ich in London und habe hier viele Deutsche kennengelernt, sowohl Expats als auch Durchreisende. Oft wird man sich erst im Ausland seiner kulturellen Identität bewusst. In der Fremde bekommt das Ureigene eine geradezu exotische Dimension. Was mir immer wieder auffällt, ist, wie sich die Deutschen mit großer Effizienz das Fremde aneignen und es zu ihrem Nutzen zu transformieren wissen. Daher sind gerade die Auslandsdeutschen oft erstaunlich erfolgreich. Alle Deutschen, egal ob Künstler oder Banker, die ich getroffen habe, haben es geschafft, hier in London Fuß zu fassen. Und noch nie ist mir ein Deutscher begegnet, der wieder nach Hause zurückkehren wollte.
So ist es auch mit Christian aus Potsdam. Er war einer von denen, die damals beim Mauerfall voller Hoffnung in den Westen stürmten. Doch im Westen Deutschlands war er noch lange nicht am Ziel. Erst in London hat er seine Heimat gefunden, wo er in einem Glaspalast in Canary Wharf als sogenannter „City Boy“, als Investmentbanker, ein beneidenswertes Salär verdient. Der Mittdreißiger hat sich in einem schicken Appartement im trendigen Stadtteil Notting Hill eingenistet und hat nicht vor, es wieder zu verlassen. „In Deutschland“, sagt er, „würde ich eingehen.“ Er arbeitet hart und schickt einen guten Teil seines Lohns an seine alte Mutter in Potsdam. Kürzlich, an einem lauen Sommerabend bei einem Glas Wein im Pub, fragte ich ihn scherzhaft, ob die Deutschen wirklich Weltmeister darin wären, stets den besten Platz am Pool zu ergattern. Er schaute mich überrascht an und antwortete ganz ernsthaft: „Es liegt einfach daran, dass sie sich die Mühe machen, vor allen anderen, schon im Morgengrauen, aufzustehen, um mit dem Badetuch den Platz zu besetzen.“ Ach so.