Back to Bosporus

von Semiran Kaya

Atatürks Erben. Die Türkei im Aufbruch (Ausgabe IV/2008)


Tradition und Moderne, Heiliges und Weltliches, Politisches und Individuelles: In der 15-Millionen-Metropole Istanbul ist alles eng miteinander verflochten. „Am Anfang habe ich schon schlucken müssen“, lacht Deniz Ova, als sie das Angebot bekam, in der Stadt zu arbeiten. Mit ihren rot gefärbten Haaren und der hellen Haut sieht sie nicht so aus, wie man sich eine typische Türkin vorstellt. Lediglich ihr Name verweist auf ihren familiären Hintergrund.Wie viele andere Deutsche türkischer oder kurdischer Abstammung, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, kannte auch Ova die Türkei nur aus dem Urlaub und wusste nicht, ob sie sich in der restriktiveren Gesellschaft zurechtfinden würde. In Deutschland fühlte sie sich zwar nicht missachtet, doch sie hatte auch keine Lust mehr auf die ewig gleiche Einstellung gegenüber Migranten. Selbst in der deutschen Kulturszene, in der sie tätig war, laufen die Diskussionen immer nach demselben Muster ab: „Wie kann man die Türken integrieren?“, wird gefragt und nicht wahrgenommen, dass manche überhaupt nicht mehr integriert werden müssen, manche es vielleicht auch nicht wollen, resigniert haben oder mit dem Zustand zufrieden sind. Den Migranten, beklagt Ova, spricht man jegliche Kompetenz ab, an Integrations- und Migrationsprojekten im Kulturbereich aktiv mitzuwirken.

Ende 2007 wurde die 29-Jährige von der Istanbuler Kunst- und Kulturstiftung „ISKV“ von Stuttgart abgeworben. Die ISKV ist eine der drei Top-Adressen, wenn es um Kunst und Kultur in der Türkei geht. Die Internationalität, strahlt die heutige Kulturfestivalmanagerin, hat sie gereizt.„Ich hatte genug davon, in dem Land, wo ich geboren bin, ständig ein Ausländer zu sein“, erzählt der Außenhandelskaufmann Özel Aydin. Ein Grund, weshalb er vor drei Jahren Hamburg gegen Istanbul eintauschte. „Die Umstellung war schon schwierig, vor allem sprachlich“, räumt der heutige Sales-Manager einer Schweizer Backwarenfirma ein. „Hier falle ich nicht wegen meinen schwarzen Haaren oder der dunklen Haut auf. Hier gehe ich als Einheimischer durch und meinen Hamburger Akzent finden alle charmant“, grinst der 36-Jährige. Ova und Aydin sind Teil einer Bewegung, die türkisch- und kurdischstämmige Akademiker in Deutschland erfasst hat: Sie verlassen Deutschland und wandern umgekehrt in das Land ihrer Eltern aus. Für viele aus der Elterngeneration eine völlig unverständliche Entwicklung. Ganz gleich, wo man in der Türkei oder in Istanbul ist: Deutschtürken trifft man mittlerweile in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen an. Von der Wirtschaft, Politik, Kunst und Kultur bis hin zum Fußball. Überall dort, wo die deutsche Sprache benutzt und auf Qualität gesetzt wird. Es sind Manager, Akademiker, Unternehmer, Selbstständige oder sonstige kluge Köpfe, die Deutschland zunehmend den Rücken kehren. Entweder, weil sie sich dort unerwünscht fühlen oder weil ihre Fähigkeiten woanders umworben werden. Denn in Deutschland werden sie nicht nur nach ihren persönlichen Leistungen beurteilt, sondern vor allem nach kulturellen und religiösen Zuschreibungen. Aus ihnen wird einfach eine homogene Gruppe gemacht. So wie es seit dem 11. September 2001 in Deutschland keine Migranten mehr gibt, weil sie ja jetzt alle Muslime sind.

Wie viele der im Augenblick rund 2,7 Millionen Menschen in der türkischen oder kurdischen Community aus Deutschland mittlerweile in die Türkei emigriert sind, weiß niemand so genau. „Es gibt rund vier Millionen Menschen, die schon einmal in Deutschland gelebt haben“, zitiert die Deutsche Botschaft in Ankara die türkische Regierung. Der Migrationsforscher Ayhan Kaya von der Bilgi Universität in Istanbul schätzt die Zahl der Migranten auf 4.000 bis 5.000 jährlich. Andere Schätzungen liegen wesentlich höher. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, weil die letzte Erhebung in der Türkei aus dem Jahre 1975 stammt und niemand weiß, wie viele Doppelstaatler sich darunter befinden, eines ist sicher: Die Tendenz ist steigend. Studien wie die des Zentrums für Türkeistudien im Jahr 2003 und die der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2004 belegen, dass schon damals über 28 Prozent der jüngeren Deutschtürken (unter 30 Jahren) in die Türkei gehen wollten. Als Gründe gaben sie an: um sich beruflich zu verbessern oder aber weil ihnen in Deutschland das „Heimatgefühl“ fehle. Andere, aktuellere Untersuchungen wie das Krefelder future.org kommen gar auf 38 Prozent auswanderungswillige Akademiker türkischer und kurdischer Herkunft. Dass immer mehr Türken oder Kurden in der Türkei aus Deutschland stammen, weiß auch der Migrationsforscher Kaya. Von tausend nach ihren „Rückkehrerabsichten“ gefragten Deutschtürken würde jeder Dritte, wenn er könnte, in die Türkei gehen, lautet seine Bilanz. Noch lässt sich darüber streiten, ob es sich um eine Art „Abwanderung der Intelligenzija“ handelt. Aus den Frauen und Männern der zweiten Generation aber sogenannte „Rückkehrer“ zu machen, ist nicht nur eine verwirrende, sondern auch fälschliche Bezeichnung. Denn ein Kind, das nie in der Türkei gelebt hat, kehrt nicht zurück. Selbst wenn der gedankenlose und gar verantwortungslose Umgang mit Migranten ein Merkmal der deutschen Politik ist, stellt sich die Frage, ob man sich im Zeitalter von Internet und Billigfliegern überhaupt für ein Heimatland entscheiden muss. Diese Entwicklung wird in der deutschen und türkischen Forschung noch kaum beachtet.

Für Kaya steht fest, dass man bei dieser Bewegung nicht von Auswanderern sprechen könne. Für diese Menschen gibt es einen neuen Begriff: Transmigranten. Denn ein Migrant, ein Ein- oder Auswanderer, so Kaya, verlässt ein Land und bricht seine Verbindungen dazu weitgehend ab, um in einem anderen Land heimisch zu werden. Diese Menschen aber sind anders: Sie behalten ihre Verbindung zu Deutschland und bauen sich ein weiteres Leben in der Türkei auf. Eine Verbindung zu Deutschland, die Deutsche türkischer oder kurdischer Abstammung in Istanbul pflegen, ist ein regelmäßiges Treffen, das – obwohl es gar nicht so heißen dürfte – „Rückkehrer-Stammtisch“ genannt wird. Einmal im Monat kommen hier alle zusammen, die irgendeinen Bezug zu Deutschland haben, um sich auszutauschen oder einfach mal wieder unter Gleichgesinnten zu sein. Denn die Mentalitätsunterschiede sind nicht von der Hand zu weisen. Cigdem Akkaya, die den Stammtisch mit ihrer Geschäftspartnerin initiiert hat, weiß, wie wichtig solch eine Anlaufstelle ist. Sie selbst, die ehemalige Wissenschaftlerin, emigrierte vor mehr als sieben Jahren mit ihrer Familie nach Istanbul. Die Türkei sei ihre Heimat, sagt sie. Und wie Akkaya finden manche Deutschtürken hier ihren Seelenfrieden. Andere wiederum kämpfen mit den Mentalitätsunterschieden. Schließlich sind etliche von ihnen in deutschen Dörfern groß geworden und hatten nie oder nur selten Kontakt mit anderen Türken oder Kurden. Hier aber sind sie plötzlich umgeben von Türken und ihrer Kultur. Für Ayfer Tunc eine harte Erfahrung.

Die blonde Marketingfachfrau aus Lübeck, die kürzlich erst bei einem österreichischen Unternehmen angefangen hat und sich noch mitten im Kulturschock befindet, erzählt mal lachend, mal wütend: „Ich kenne die deutsche Literatur, Kultur, Gott und die Welt. Aber hier bei den Türken bin ich entsetzt über den Egoismus und die harte Ellenbogengesellschaft. Ich dachte, die sind hier so toll und menschlich. Von wegen, die Nachbarn grüßen ja nicht mal im Hausflur. Aber der Verkehr hier ist klasse: Ich kann fahren, wie ich will, zwischendurch rasen und mitten auf der Spur anhalten und die hilflose Frau spielen.“ Die deutschtürkischen Transmigranten erfinden in der Türkei das Rad nicht neu. Vielmehr bringen sie verschiedene Ideen mit und setzen diese meist in den türkischen Großstädten wie Istanbul, Izmir oder Ankara erfolgreich um. Doch mit Deutschkenntnissen allein kommt man in der Türkei nicht weiter. Ohne Qualifizierung und gute Türkischkenntnisse hat man weder bei den rund 3.300 deutschen Firmen in der Türkei noch auf dem türkischen Markt eine Chance. Schließlich sind 60 Prozent der 70 Millionen Einwohner jünger als 30 Jahre. Selbst Unternehmen wie die Lufthansa, deren Personal im Kundendienstcenter in Istanbul zu 98 Prozent aus Deutschtürken besteht, legen Wert auf die deutsche Arbeitsweise. „Was uns oder mich hier ausmacht“, so der Hamburger Jung Özel Aydin, „ist der Auslandsaufenthalt in Deutschland und die andere Art zu arbeiten: mehr Leistung zu erbringen, schneller, effektiver und verantwortungsvoller als Einheimische die Sache anzugehen. Die deutsche Schule und Genauigkeit halt.“

Doch auch der Praxisbezug der Ausbildung, welche die Deutschtürken und -kurden in ihrer ersten Heimat absolviert haben, stellt sich nun als Vorteil heraus, denn die Türkei kennt kein duales Bildungssystem, und auch an den Universitäten kann es vorkommen, dass ein Ingenieur die Maschinen, über die er eventuell sogar promoviert hat, noch nie gesehen oder angewendet hat. Was die Deutschtürken und-kurden aber vor allem auszeichnet, ist die sogenannte Feedbackkultur, die sie mitbringen: Kritik annehmen und konstruktiv umsetzen. Eine Eigenschaft, die sie von lokalen Fachkräften positiv abhebt.So werden aus den einst belächelten „Almancis“, den „verdeutschten Türken“, wie sie in der Türkei genannt werden, Vermittler der deutschen Kultur. Und weil sie sich in beiden Kulturen auskennen und bewegen können, hinterlassen sie im türkischen Alltagsleben überall ihre Spuren. Lediglich Deutschland, das meisterhaft ausbilden kann, verpasst wieder einmal die Chance, das geistige Potenzial seiner Neubürger zu nutzen, das es selbst geschaffen hat.



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