Mütter und Muezzine

von Peggy Reeves Sanday

Frauen, wie geht's? (Ausgabe IV/2007)


Unter Anthropologen als die größte matriarchale Gesellschaft der Welt bekannt, bildet das Volk der Minangkabau die viertgrößte ethnische Gruppe in Indonesien. Zu ihr zählen vier Millionen Menschen, die in der Provinz von West-Sumatra ansässig sind. Die Minangkabau sind gläubige Muslime, die kulturelle Traditionen aus vor-islamischer Zeit in Form des Adat pflegen – die ungeschriebenen Regeln matriarchaler Bräuche, die von Generation zu Generation überliefert werden und einen festen Bestandteil der Minangkabau-Kultur bilden.

Wie hat man sich so etwas vorzustellen? Zum Beispiel erklingt fünfmal am Tag der Muezzin, der zum traditionellen Gebet aufruft. Die Eingangstüren der Häuser hingegen blicken zum Berg Merapi, der heiligen Stätte der Minangkabau aus vor-islamischer Zeit. Dies soll das Wohlergehen der Familien sichern. Inmitten der modernen und traditionellen Häuser, die entsprechend der matrilinearen Tradition von Mutter zu Tochter vererbt werden, befindet sich auch immer ein Gebetshaus. Hier werden junge von älteren Männern in die Lehren des Korans eingeweiht und in den Traditionen und Bräuchen des Adat unterrichtet.

Ein altes Sprichwort verdeutlicht, wie Islam und Adat zusammenkamen: „Adat kam herab, Islam kam herauf.“ Denn laut Volksglauben stammen die Regeln des Adat noch aus der vorchristlichen Zeit, als die Minangkabau oben auf den Bergen lebten. Als sich der Islam zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert durchsetzte, kombinierten die Minangkabau beide Praktiken. Sie erklärten die matrilineare Erbfolge als heilig und stellten sie auf eine Stufe mit dem Koran. Weil beide als Gott gegeben gelten, dürfen die zwei Praktiken auch nicht miteinander konkurrieren oder sich widersprechen, sondern müssen harmonisch in Einklang gebracht werden.

Wie grundlegend dieses Verständnis für den Erhalt der Minangkabaukultur ist, zeigen die Herausforderungen durch die Moderne. Die Zeremonien des Adat schützen die Männer vor der Verführung durch den fundamentalistischen Islam, indem sie an die kulturellen Wurzeln und das Vermächtnis der mütterlichen Prinzipien erinnern. Andererseits wiederum trägt der Islam mit seinen religiösen Praktiken dazu bei, das Adat vor den Einflüssen einer säkularen Moderne zu bewahren. Stellt der Islam das geistige Fundament innerhalb der Kultur der Minangkabau dar, so werden die matriarchalen Bräuche des Adat mit der Naturphilosophie gerechtfertigt. Das Nähren und die Fürsorge werden hierbei als wichtigster Pfeiler des Naturkreislaufes betrachtet. Wie die Samen in der Erde, so müssen auch die Kinder genährt werden, damit sie groß und stark werden. In diese Tradition ist auch das matrilineare Erbrecht einzuordnen, mit dem etwa festgelegt wird, dass Männer nach der Hochzeit in das Heim der Ehefrau ziehen. So wird Mutter und Kind im Falle einer Scheidung ein sicheres Obdach garantiert.

Sowohl Männern als auch Frauen wird das Recht auf Scheidung zugestanden. Wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennen will, stellt sie seine Schuhe vor die Tür. Verlassen Männer ihre Ehefrauen, kehren sie entweder zu ihren Familien zurück und warten, bis beide Familien zusammenkommen und eine Lösung für die Probleme des Paares finden – oder fangen ein neues Leben in anderen Teilen von Sumatra an. Bei einer endgültigen Trennung ist es beiden Geschlechtern erlaubt, eine neue Ehe einzugehen. Einige der älteren Frauen, die ich getroffen habe, waren bis zu fünfmal verheiratet.

Man könnte die Kultur der Minangkabau zwar als ein weibliches Herrschaftssystem auslegen, aber der Begriff „Matriarchat“, der in Anlehnung an Patriarchat eine von Frauen dominierte Gesellschaft meint, trifft auf die Minangkabau nicht wirklich zu. Ihre Kultur gründet auf einem ausgewogenen Gemeinschaftssystem, bei dem Männer und Frauen die Aufgaben, bis auf ein paar wenige Ausnahmen untereinander aufteilen. So wird das Zubereiten der Mahlzeiten ausschließlich von den Frauen übernommen, für das Säen und Pflügen hingegen sind die Männer verantwortlich. Stehen wichtige Entscheidungen an, so werden diese von den männlichen Stammesoberhäuptern getroffen, nachdem man sich mit den Frauen beraten hat.

Daher schlage ich vor, die Definiton des Begriffes „Matriarchat“ zu überdenken. Denn es hat noch niemals in der gesamten Geschichte der Menschheit eine Gesellschaft gegeben, in der Frauen nach männlichen Dominanzmustern geherrscht hätten. Wie das Beispiel der Minanagkabau zeigt, ist ein Matriarchat vielmehr eine Kultur, die auf Prinzipien und Werte der Mütterlichkeit baut und nicht auf Herrschaft. 

Aus dem Englischen von Evi Chantzi



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