Zusammenleben | Frankreich

Eine ziemlich zarte Bande

Eine Pariser Wohnung, drei Töchter und mindestens genauso viele Wahlverwandte: Die Familie des 63-jährigen Witwers Mouss Ould Kaci sprengt konventionelle Rahmen. Ein Besuch in Frankreich
Porträt eines älteren Mannes mit Brille und grauem Bart im Halbprofil.

Mouss Ould Kaci wurde in Frankreich geboren und ist Familienvater und Aktivist.

Ich komme an einem verregneten Sommernachmittag nach Paris, um die Fotografin und Aktivistin Alexia Fiasco zu treffen. Vor kurzem hat sie mit ihrem Projekt „ADN“ („DNA“), ausdrucksstarken Porträts von französischen Migrantenfamilien, auf sich aufmerksam gemacht. Eines dieser Bilder ließ mich nicht los, es zeigt Mouss Ould Kaci. Auf dem Foto ist er von seinen sechs Kindern umgeben, seinen drei leiblichen Töchtern Sofia, Inès und Célia, die er seit dem Tod seiner Frau im Jahr 2014 allein großzieht, sowie Dourane, Jackie und Lalla, Freunde seiner Töchter, die in seiner Pariser Wohnung ein zweites Zuhause gefunden haben.

Sieben Personen unterschiedlichen Alters stehen nah beieinander und halten sich teilweise im Arm.

Von links im Uhrzeigersinn: Inès, Sofia, Jackie, Lalla, Lili, Dourane und Mouss (Mitte).

Ich will sie alle zusammen mit Alexia treffen, bin aber ein wenig eingeschüchtert von dieser unkonventionellen Familie: Jede und jeder Einzelne von ihnen wirkt extrem charismatisch. „Keine Sorge, du wirst sie lieben“, beruhigt mich Alexia, während wir zur Wohnung der Familie im 10. Arrondissement schlendern – dem hippen Viertel zwischen Gare du Nord und Canal Saint-Martin, welches trotz all seiner angesagten Hotels, Bars und Restaurants so lebendig und vielfältig geblieben ist.

Mouss öffnet uns mit einem breiten Lächeln die Tür. Er umarmt erst Alexia, dann mich. „Ich bin Moustapha, nenn mich Mouss, darf ich euch etwas zu trinken anbieten?“ Meine Aufregung verfliegt. Mouss freut sich, mich zu sehen, zu plaudern, zu teilen. Er führt mich in das Wohnzimmer mit Blick auf die Hochtrasse der Metro, über der sich unterdessen ein Regenbogen gebildet hat. Die Doppelhaushälfte der Familie ist einfach eingerichtet, ein Kreis von Sofas und bequemen Sesseln nimmt den größten Teil des Wohnzimmers ein, als ob sich das ganze Haus um die tiefgründigen Gespräche dreht, die hier geführt wurden und werden. Die Kinder sind noch nicht zu Hause, also habe ich zunächst etwas Zeit mit Mouss allein. Er setzt sich auf seinen Platz auf der großen orangefarbenen Couch und zündet sich eine Zigarette an. Ich setze mich ihm gegenüber und beginne mit der Aufnahme.

Ein Kinderfoto von Mouss und das Bild seiner Frau stehen auf einem Schrank.

Fotos von Mouss als Kind und seiner Frau.

Mouss kam 1960 als Sohn algerisch-kabylischer Eltern auf die Welt. „Aber obwohl wir in Frankreich geboren und aufgewachsen sind, waren ich und meine Geschwister offiziell Algerier“, sagt Mouss. Er lebte mit seinen Eltern, fünf Schwestern und zwei Brüdern in einem kleinen Pavillon in La Courneuve, einer der größten Cités in der Pariser Vorstadt, neben Einwandererfamilien mit niedrigem Einkommen, Tür an Tür in standardisierten Mietwohnungen. Mouss war ein ruhiges Kind, später begann er ein Studium der Rechtswissenschaften und der soziokulturellen Arbeit. Doch dann entgleiste sein Leben: „Ich wurde drogenabhängig und musste dealen, um über die Runden zu kommen, wurde erwischt und landete im Gefängnis“. Nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, wurde Mouss nach Algerien abgeschoben. Die von Menschenrechtsaktivisten oft kritisierte „double peine“ („doppelte Strafe“) ermöglicht es dem französischen Staat, Einwanderer nach verbüßter Haft in ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Mouss hatte keine andere Wahl, als sich zu fügen, und wurde 1987 nach Algier geschickt, ohne mit einem Anwalt sprechen zu können.

„Plötzlich musste ich einen Job und eine Wohnung finden und mich an ein Land gewöhnen, das mir völlig fremd war. Ich konnte kaum Arabisch sprechen“. Es gelang ihm dennoch, ein neues Leben zu beginnen – und er lernte die Liebe seines Lebens, Wahiba, kennen. Sie heirateten, 1993 kam ihre erste Tochter Sofia zur Welt, die just in diesem Moment zu uns ins Wohnzimmer tritt. „Dann bekamen wir eine zweite Tochter, Melissa, aber sie wurde sehr schnell krank. Wir konnten nicht herausfinden, was los war. Bald darauf wurde auch ich krank. Nach vielen Tests und Untersuchungen fanden wir heraus, dass ich HIV-positiv war.“

„Alles, was ich bis dahin kannte, war die Sonne und unsere große Wohnung in Algier.“

Wie durch ein Wunder hatte sich die ältere Sofia nicht mit dem Virus angesteckt; Melissas Symptome waren jedoch eindeutig. Da sie noch ein Baby war, konnte sie nicht gerettet werden und verstarb kurz darauf. „Noch heute fühle ich mich so schuldig. Wahrscheinlich habe ich mich wegen meines Drogenkonsums mit HIV angesteckt und meine Frau und mein Kind infiziert; das werde ich mir nie verzeihen können.“ Es bricht einem das Herz, dies aus dem Mund eines so liebevollen, warmherzigen Menschen zu hören. Heutzutage mag Aids eine kontrollierbare Krankheit sein, damals war sie jedoch meist ein Todesurteil. Das Virus war hochgradig ansteckend und die Behandlungsmöglichkeiten noch nicht so effizient und zugänglich wie heute. „Wir benötigten eine Therapie, die in Algerien unmöglich zu bekommen war“, sagt Mous. „Also mussten wir um jeden Preis nach Frankreich zurückkehren.“ Dank der Hilfe eines algerischen Diplomaten erhielten sie ein französisches Visum. 1997 zog die Familie dann zurück nach La Courneuve und fing noch einmal von vorn an.

Inès steht am Fenster mit einer Bandage am Bauch.

Inès in ihrem Zimmer. Die Bandage ist die Folge einer ihrer zahlreichen Operationen.

Sofia (dreißig Jahre alt, Sozialarbeiterin und Musikerin) setzt sich mit einer Teekanne in der Hand zu uns auf das Sofa. Als sie damals nach Frankreich kam, war sie erst vier Jahre alt. Trotz Mouss’ Eltern und Geschwistern fiel es der dreiköpfigen Familie schwer, in der neuen, alten Heimat anzukommen. „Alles, was ich bis dahin kannte, war die Sonne und unsere große Wohnung in Algier. Plötzlich waren wir von Beton umgeben“, sagt Sofia. Und doch: „Ich sprach Französisch und Kinder haben eine große Anpassungsfähigkeit. Ich fühlte mich in der Schule wohl, hatte gute Noten. Bald unterschied ich mich nicht mehr von den Anderen in meiner Klasse.“

Nach der Rückkehr nach Paris engagierte sich Mouss bei AIDES, einer großen französischen Non-Profit-Organisation gegen Aids, während Wahiba, von Beruf Psychologin, als Pädagogin und Aktivistin arbeitete. „Sie hatte wichtige Jobs und gründete sogar eine eigene gemeinnützige Organisation, „Le Comité des Familles“, um Migrantenfamilien zu helfen, die von HIV betroffen waren“, sagt Mouss. Er und Wahiba begannen das französische Einbürgerungsverfahren. Sie schrieben Briefe an Minister und mobilisierten ihr gesamtes Netzwerk, um schließlich den heiligen Gral zu erhalten: die französische Staatsbürgerschaft. „Als wir unsere offiziellen Papiere erhielten, konnten wir endlich in Ruhe leben“, sagt er. 1999 brachte Wahiba dann Inès zur Welt, im Jahr 2000 Célia, die beiden jüngsten Töchter des Paares. Sofia erinnert die Geburten ihrer Schwestern als den Beginn einer neuen Ära: „Ich verbinde diese Zeit mit Stabilität, auch wenn sie ihre eigenen Traumata mit sich brachte.“ Während eines Familienurlaubs in Algerien verschluckte Inès versehentlich ein Abbeizmittel, das ihre Speiseröhre verbrannte und irreversible Schäden hinterließ.

Lili steht am Geländer eines Daches in Paris.

Lili auf dem Dach des Familienhauses im 10. Arrondissement von Paris.

Mit ihrer Schwester im Krankenhaus, einer schwangeren Mutter und einem Vater, der Vollzeit arbeitete, lernte Sofia, selbstständig zu sein. Aus ihrer Kindheit hat sie lebhafte Erinnerungen daran, von Aktivisten umgeben zu sein: „Meine Eltern gingen immer zu irgendwelchen Protesten oder beteiligten sich an Komitees und Aktivitäten mit anderen Aids-Aktivistinnen und -Aktivisten.“ Darunter Organisationen wie die „Soeurs de la Perpétuelle Indulgence“ („Schwestern der Ewigen Nachsicht“), ein Kollektiv von Queer-Aktivistinnen und -Aktivisten, deren Mitglieder sich als Drag-Nonnen verkleideten. „Ich glaube nicht, dass ich damals wusste, was Aids wirklich war, und das war wahrscheinlich auch besser so“, sagt Sofia. „Für mich als 7-Jährige wäre es sehr beängstigend gewesen, zu verstehen, dass meine Eltern am Virus sterben könnten, vor allem, nachdem ich bereits meine Babyschwester verloren hatte“. In ihren Teenagerjahren engagierte sie sich für die Sache ihrer Eltern und debattierte im Radio, wie man mit Kindern über Aids sprechen kann.

Während Sofia von ihrer Kindheit erzählt, setzen sich Inès (24, Nageldesignerin) und Célia (oder Lili, wie alle sie nennen, 22, Studentin im Fach Nachhaltige Entwicklung) zu uns aufs Sofa. Die beiden scheinen eng wie Zwillinge zu sein. „Es stimmt“, lacht Lili. „Wir sind nur knapp zwei Jahre auseinander und haben uns über zehn Jahre lang ein Zimmer geteilt“. Sie lächeln sich gegenseitig an und Inès fügt hinzu: „Ich wurde infolge meines Unfalls mehrfach operiert und habe viel Zeit in Krankenhäusern verbracht; Lili war mein ganzes Leben lang an meiner Seite. Sie hat mir den Hintern abgewischt. Wir stehen uns wirklich sehr nahe.“

„Bei uns gab es keine Tabus. Wir konnten jede Frage stellen.“

Es ist offensichtlich, dass sich die Erfahrungen von Inès und Lili sehr von denen von Sofia unterscheiden. „Ich würde sagen, dass wir trotz meines Unfalls eine glückliche Kindheit hatten“, sagt Inès. „Unsere Eltern haben uns vor vielem bewahrt, was nicht heißt, dass wir nicht alles wahrgenommen und gemeinsam darüber gesprochen hätten. Bei uns gab es keine Tabus. Wir konnten jede Frage stellen: über unsere Schwester, die in Algerien gestorben war, über die Krankheit unserer Eltern, über psychische Gesundheit.“ Lili ergänzt: „Unsere Mutter hat mit uns auch über Sexualität gesprochen. Sie hat mich ermutigt, geselliger zu sein, mich freier zu kleiden, sie war sehr fortschrittlich.“ Sofia erinnert sich an die überschwängliche Liebe und Wärme ihrer Mut ter: „Mama hat es genossen, Leute zu Gast zu haben und sich um sie zu kümmern. Als wir aufwuchsen, waren unsere Freunde immer willkommen. Sie liebte es, intensive Gespräche zu führen und sich jungen Menschen nahe zu fühlen“. Sie wendet sich an Mouss: „Als Mama noch hier war, hast du dich mehr im Hintergrund gehalten und immer viel gearbeitet. Als sie dann starb, hast du ihre Rolle übernommen.“ Mouss arbeitet noch immer bei AIDES, auch wenn er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands zurückstecken muss. „Aus Überzeugung, aber auch, weil es für mich sehr wichtig ist, die Miete für unsere Wohnung bezahlen zu können. Wir sind 2014 hierhergezogen, kurz bevor meine Frau an Herzversagen verstarb. Das ist unser Zuhause, wir brauchen diesen Freiraum.“

Seine drei Töchter sind heute erwachsen, leben aber noch immer im gemeinsamen Haus. Im Laufe der Jahre kamen öfters Freunde vorbei, die für ein paar Tage oder auch länger unterkommen mussten. „Ich war immer bereit, mein Haus mit jedem zu teilen, der Hilfe brauchte. Ich betrachte sie als Familie und behandle sie auch so“, sagt Mouss. Immer wieder bot er ausgegrenzten Menschen einen sicheren Ort an, an dem sie sie selbst sein konnten und dafür geliebt wurden. „Nach dem Tod meiner Frau wollte ich ihren großzügigen Geist am Leben erhalten“, erzählt mir Mouss mit einem traurigen Lächeln. „Ich dachte, ich möchte für diese Kinder da sein, ich möchte nicht, dass sich jemand einsam fühlt, vor allem, wenn er eine schwierige Zeit durchmacht.“

Seine drei Töchter sind heute erwachsen, leben aber noch immer im gemeinsamen Haus. Im Laufe der Jahre kamen öfters Freunde vorbei, die für ein paar Tage oder auch länger unterkommen mussten. „Ich war immer bereit, mein Haus mit jedem zu teilen, der Hilfe brauchte. Ich betrachte sie als Familie und behandle sie auch so“, sagt Mouss. Immer wieder bot er ausgegrenzten Menschen einen sicheren Ort an, an dem sie sie selbst sein konnten und dafür geliebt wurden. „Nach dem Tod meiner Frau wollte ich ihren großzügigen Geist am Leben erhalten“, erzählt mir Mouss mit einem traurigen Lächeln. „Ich dachte, ich möchte für diese Kinder da sein, ich möchte nicht, dass sich jemand einsam fühlt, vor allem, wenn er eine schwierige Zeit durchmacht.“

„Aber eigentlich habe ich nur zugehört und versucht, für sie da zu sein.“

Einer dieser jungen Menschen ist Dourane (29, Casting-Direktorin und Musikerin), die Sofia in ihren frühen Teenagerjahren kennengelernt hat. „Wir waren ständig zusammen“, erzählt mir Dourane am Telefon. Zum Zeitpunkt des Gesprächs nimmt sie gerade eine Auszeit in der Normandie. „Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter verbrachte ich die meiste Zeit allein oder mit Erwachsenen; als ich Sofia und ihre Familie kennenlernte, fand ich etwas, das ich bisher nur im Fernsehen gesehen hatte“. Im Laufe der Jahre hat Dourane eine starke Bindung zu allen Familienmitgliedern aufgebaut und schließlich auch ihre queeren und transsexuellen Freunde bei Mouss und seinen Töchtern vorgestellt, darunter Jackie und Lalla, die auch heute noch vorbeikommen wollen.

Queerness war für Mouss nie ein Fremdwort: Sein bester Freund war schwul und militant, queere HIV-Aktivistinnen und -Aktivisten waren allgegenwärtig. Und während das Thema Transidentität für viele Menschen in Frankreich auch heute noch ein recht abstraktes Thema ist, über das sie nur in Debatten über Pronomen und in verschwörerischen Videos über Hormonblocker hören, ist es in Mouss’ neu zusammengestellter Familie eine Selbstverständlichkeit. „Dourane, Jackie und Lalla haben mir viel beigebracht“, sagt Mouss. „Ich habe erfahren, wie sie sich fühlten und was sie durchgemacht haben. Ich habe viel darüber gelernt, was eine Transition mit sich bringt, über die ganze Fluidität der Geschlechter. Aber eigentlich habe ich nur zugehört und versucht, für sie da zu sein.“

Inès erinnert sich an eine Phase, in der sie diese neue Familie ablehnte. „Im Nachhinein denke ich, dass ich einfach nur ein Teenager war, der wütend auf Sofia war, weil sie dreißig Leute zu Partys in unser Haus einlud und diese das Haus verwüstet zurückließen.“ Ende 2019 verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand plötzlich und sie musste erneut operiert werden; die Ärzte entfernten ihr schließlich die Speiseröhre, den Magen und die Gallenblase. Doch sie erholte sich wieder: „Ich hatte damals viele Gespräche mit queeren Menschen, und mir wurde klar, wie viel wir gemeinsam hatten: die gleiche Widerstandskraft.“ Während unseres Telefongesprächs erzählt mir Dourane etwas Ähnliches: „Wenn ich mir unsere Familienmitglieder ansehe, denke ich, dass wir alle gesellschaftlichen Merkmale haben, die uns von der Norm ausschließen: sei es das Queersein, HIV, nordafrikanische Wurzeln oder Behinderung. Durch dieses Außenseitertum sind wir alle miteinander verbunden.“

Es ist fast 20 Uhr, als Jackie (29, Model-Agent) zu uns stößt. Der Raum füllt sich mit Gelächter. Plötzlich wird unser Interview zu einem ganz normalen Familientreffen; ich bin keine Journalistin mehr, sondern nur eine weitere junge Frau am Tisch, die Tee trinkt und über Lilis Geschichten aus dem Fitnessstudio lacht.

„Wir denken zu oft, Kinder seien naive Geschöpfe, die um jeden Preis vor der Realität geschützt werden müssten.“

Genau wie Dourane wurde auch Jackie von Sofia in die Familie aufgenommen. Das war etwa zu der Zeit, als Inès nach ihrer letzten Operation ins Krankenhaus kam. „Ich wollte Sofia in einer schwierigen Zeit unterstützen. Wir standen uns sehr nahe“, sagt Jackie. Natürlich waren Mouss und seine Töchter auch für ihn da: „In diesem Haus war ich nicht ›der Trans-Typ‹, sondern einfach ›Jackie der Idiot‹“, sagt er. „Niemand hier hat mich in Frage gestellt“.

Die Aussicht vom Dach des Hauses der Familie in Paris zeigt mehrere Schornsteine und Dächer, hinter denen die Sonne hervorschaut.

Aussicht vom Dach des Hauses der Familie in Paris.

Als Lalla (23, Sängerin und Rapperin) schließlich die Wohnung betritt, erfüllt ihre positive Energie den ganzen Raum. Sie sagt mir: „Keine Ahnung, ob du das weißt, aber ›Ould Kaci‹ bedeutet in der Berbersprache Amazigh ›Sohn des Teilens‹; der Name dieser Familie ist kein Zufall.“ In ihrer Heimat Marokko hatte Lalla eine Familie, die nicht akzeptierte, wer sie war; in Paris fand sie inmitten ihrer auserwählten Familie einen Raum, in dem sie ganz sie selbst sein konnte. „Lange Zeit musste ich eine ›akzeptable‹ Version meiner selbst darstellen. Hier hatte niemand Erwartungen an mich“, sagt sie.

Mouss und Wahiba erkannten immer die Autonomie und Individualität ihrer Kinder an. Für Lalla, die in einem restriktiven Umfeld aufgewachsen ist, ist dies ein entscheidender Punkt: „Wir denken zu oft, Kinder seien naive Geschöpfe, die um jeden Preis vor der Realität geschützt werden müssten. In Wahrheit sind sie natürlich Teil der Welt. Ob man will oder nicht, sie werden dunkle Gefühle haben und unangenehme Fragen stellen. Man kann dann entweder so tun, als gäbe es diese Gefühle und Fragen nicht, oder sie anerkennen und diskutieren.“

Ich frage Mouss, ob es etwas gibt, das er von seinen Kindern gelernt hat. „Sie haben mich vor allem dazu gebracht, mich weiterzuentwickeln und relevant zu bleiben. Das bedeutet mehr, als sich mit neuer Technologie zurechtzufinden, die richtigen Klamotten zu tragen oder sich mit Rap-Musik auszukennen. Es geht darum, mit sehr verschiedenen Menschen in Kontakt zu kommen, unabhängig vom Alter oder der Herkunft. Dank ihnen bin ich kein mürrischer alter Mann geworden, der sich über die Jugend beschwert und denkt, dass früher alles besser gewesen sei.“ Ich frage ihn, ob er glaubt, dass er bei der Erziehung seiner Kinder Fehler gemacht hat, und er antwortet selbstbewusst: „Nein“. Ich wende mich an seine Kinder und frage sie, ob das stimmt; ohne mit der Wimper zu zucken, bestätigen sie es. „Alles, was er seit meiner Geburt getan hat, war absolut perfekt. Ich habe nichts, was ich ihm vorwerfen könnte“, sagt Lili. „Er ist sehr engagiert und wirklich interessiert an dem, was wir tun“, fügt Inès hinzu. „Die Zeit, die Aufmerksamkeit, uns hat es nie an etwas gefehlt. Unsere Eltern waren immer auf unserer Seite“. So viel bedingungslose Liebe und Wertschätzung überwältigt mich. Lalla auch: „Ich kann das schwer nachvollziehen. Mein Vater hat mich nie in Schutz genommen. Ich bin mit der Erfahrung aufgewachsen, dass ich immer allein sein werde. Dank Mouss und seinen Töchtern begreife, dass es einen anderen Weg gibt. Ich habe das Gefühl, dass ihre Liebe mich heilt.“ Jeder Mensch macht schwierige Phasen durch. Was uns die Ould Kacis lehren ist, dass es schon gut geht, solange man sie nicht allein durchstehen muss und von Liebe umgeben ist. Dann traumatisieren einen solche Erfahrungen nicht, sie machen einen stärker.

Wir haben nun fünf Stunden am Stück geplaudert. Es ist, als sei ich in die Familie aufgenommen worden. Aber es ist doch die Zeit für mich gekommen zu gehen; Mouss begleitet mich zur Tür. „Komm wieder und besuche uns, wenn du das nächste Mal in Paris bist, okay?“ Das werde ich sicher tun.

Aus dem Englischen von Ruben Donsbach