Stolz und sichtbar

von Gundula Haage

Schuld (Ausgabe II/2019)


Im Video schlägt eine Frau ein missglücktes Rad, formt mit dem Körper die Flagge der Sinti und Roma und betont damit die Schwierigkeiten, denen sie als Roma ausgesetzt ist. Großformatige Europakarten, so mit Gesichtern übermalt, dass keine Ländergrenzen mehr zu erkennen sind, erschaffen die Utopie eines grenzenlosen „Gypsyland“. Im RomArchive, dem Anfang diesen Jahres erstellten Online-Archiv, präsentieren sich die Kulturen der Sinti und Roma bunt, vielfältig und sehr politisch. Als erste umfassende Sammlung von Kunst und Kultur der größten Minderheit Europas zeigt das Archiv in den Sektionen Bildende Kunst, Film, Literatur, Musik, Tanz, Theater und Flamenco den Reichtum ihres kulturellen Erbes.

Für Tímea Junghaus, die Geschäftsführerin des European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC) und Kuratorin der Bildende Kunst-Sektion des Archivs, ist Roma-Kunst „ein Akt der Verteidigung“. Denn während der Praxis vergangenen 600 Jahre wurde die Minderheit nicht nur in die Unsichtbarkeit verdrängt. Ein Großteil des Wissens über ihre Kultur erschufen Außenstehende – meistens voller Stereotype. Bis in die 1960er-Jahre wurden ihre Kunstgegenstände in Museen nur unter dem Namen des jeweiligen Sammlers gezeigt, und nicht unter dem Namen des Künstlers selbst. Darum ist ein Kapitel des Archivs der europäischen Sinti- und Roma-Bürgerrechtsbewegung gewidmet: Sie erkämpfte, dass viele Artefakte in Museen als eigenständige Kunst anerkannt wurden. Auch die Verfolgung während des Zweiten Weltkrieges findet im Archiv seinen Raum: In der Sektion „Voices of the Victims“ sind Selbstzeugnisse von Opfern des Holocausts zu hören. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, legt aber Wert darauf, dass „wir nicht nur Opfer des Holocausts sind, sondern viel zu geben haben“. Die vielfältigen Kulturen von Sinti und Roma sind fest verwoben mit der europäischen Geschichte. Ihr Einfluss ist in der gegenwärtigen Musik, Poesie, Kunst und Literatur spürbar – von Spanien bis Ungarn.

Für Tímea Junghaus ist das Archiv ein gelungenes Mittel, um diese Bedeutung ins Licht zu rücken und daraus Stolz zu schöpfen. Denn mit Kunst kann die kulturelle Identität oft erfolgreicher thematisiert werden als innerhalb der politischen Diskurse; denn selbst heute noch gibt es in vielen europäischen Ländern auf politischem Niveau wenig Verständnis. „In der Kunst erzählen Sinti und Roma ihre subjektiven Geschichten und schreiben damit die Geschichte der Roma neu“, erklärt Junghaus. Degradierende Darstellungen der Vergangenheit müssen, wenn sie noch gezeigt werden, kritisch eingeordnet werden.

Ob emanzipatorische Bewegung, Film oder Tanz: In allen Abschnitten des Archivs geht es um Selbstschreibung. Alle entscheidenden Posten sind von Sinti und Roma besetzt, die das Archiv gestaltet und ein weltweites Netzwerk an Wissenschaftlerinnen, Aktivisten und Künstlern geschaffen haben.

Das Archiv kam als Kooperationsprojekt zustande und wurde von der Kulturstiftung des Bundes finanziell unterstützt. Nun, nach der Eröffnung, wurde es an ERIAC übergeben. „Ein Archiv zu erben ist eine lustige Erfahrung“, erzählt Junghaus, denn „man erhält etwas, das niemals fertig sein wird.“ Doch sie hofft, dass der unkomplizierte Zugang dafür sorgen wird, „dass das gesammelte Wissen über unsere Kultur das Leben der zukünftigen Generationen von Sinti und Roma in ganz Europa bereichern wird“.



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