Frau NDiaye, sind die Ideale, für die Frankreich steht – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, heute noch aktuell?
Ich glaube, dass die Werte von Freiheit und Gleichheit in Frankreich immer noch garantiert sind, auch wenn man nicht vergessen sollte, dass wir seit den Attentaten im Ausnahmezustand leben und dadurch potenziell die Grundfreiheiten eingeschränkt werden können.
Denker wie der indische Schriftsteller Pankaj Mishra kritisieren an den Idealen der französischen Revolution vor allem den Umstand, dass sie von weißen alten Männern formuliert wurden ...
Auch wenn diese Werte von weißen Männern formuliert wurden, finde ich sie exzellent, ich bin kein alter weißer Mann, aber sie passen sehr gut zu mir, diese Werte. Ich sehe nicht, warum man daran etwas ändern sollte, denn sie schützen trotz allem jene, die am schwächsten sind. Und ich finde, dass die westlichen Werte, was den Schutz der Frauen angeht, gut und richtig sind.
In ihren Büchern erkunden Sie oft Figurenkonstellationen, in denen das Ideal der Gleichheit nicht eingelöst ist. In Ihrem Roman »Ladivine« empfindet die Figur Malinka Scham, als ihre Mutter Ladivine, eine Schwarze, unerwartet in das Bistro kommt, in dem sie arbeitet. Gibt es diese Scham heute noch?
Die Geschichte, die ich über diese Tochter erzähle, die sich ihrer Mutter schämt, spielt in den 1970er-Jahren. Damals war es in Frankreich außergewöhnlich, eine schwarze Mutter zu haben, und die Frau in der Geschichte ist obendrein eine Hausangestellte. Sie steht also ganz unten auf der sozialen Leiter. Malinka hätte meiner Ansicht nach heute keinen Anlass mehr, sich für ihre Mutter zu schämen. Was das angeht, hat es einen großen Fortschritt gegeben.
Dennoch beschäftigt auch die Protagonistin Ihres gerade auf Deutsch erschienenen Romans »Die Chefin« ihre Herkunft – warum?
Hier ist es fast umgekehrt; die Protagonistin empfindet zwar eine Art von Scham beim Gedanken an ihre Eltern, aber das liegt daran, dass sie das Gefühl hat, ihnen moralisch unterlegen zu sein. Sie schämt sich ihrer selbst, wenn sie sich mit ihren Eltern vergleicht. Es macht sie verlegen, eine Wohlstandsebene erreicht zu haben, die ihre Familie nicht erreicht hat, und dass sie sich selbst über soziale Barrieren hinweggesetzt hat, die für ihre Eltern noch gelten. Aber dass eine Köchin aus sehr bescheidenen Verhältnissen stammt, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Heute ist das anders, weil das Kochen in Mode gekommen ist, aber bis vor Kurzem kamen alle Köche aus dem Arbeitermilieu oder aus bäuerlichen Verhältnissen.
Die Hauptfigur in »Die Chefin« hat es geschafft, aufzusteigen. Dies ist vor allem für Kinder aus Einwandererfamilien heutzutage schwer. Macht sich da Ärger und Frustration breit?
Ja, sicher. Es gibt auch eine gewisse Anzahl junger Menschen arabischer oder afrikanischer Herkunft, die hier studiert haben und dann in England oder anderen Ländern arbeiten, weil sie den Eindruck haben, dass man in Frankreich nicht zuerst darauf schaut, was sie erreicht haben, sondern darauf, wer sie sind oder zu sein scheinen, und man sieht in ihnen vor allem junge Menschen ausländischer Herkunft. Sie denken, dass dies im angelsächsischen Raum nicht das Erste ist, worauf geachtet wird, wenn man Arbeit oder eine Wohnung sucht. In Frankreich ist dieses instinktive Misstrauen gegenüber Menschen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft noch sehr stark, besonders, wenn es junge Männer sind; Mädchen misstraut man weniger.
Hat dies auch mit den islamistischen Anschlägen zu tun?
Ich glaube, dass es heutzutage schwieriger denn je sein muss, ein junger, arabischstämmiger Mann in Frankreich zu sein. Wenn man ein arabisch aussehendes Gesicht hat und mit seinem Rucksack im Zug sitzt – das muss viele junge Männer sehr unglücklich machen. Sie haben doch genau so viel Angst wie alle anderen, einem Attentat zum Opfer zu fallen. Ich glaube, es ist wichtig, sich einen gerechten und ausgewogenen Blick auf die jungen arabischstämmigen Männer zu bewahren, die einem im Zug oder am Flughafen bedrohlich erscheinen können. Es ist aber schwierig, gegen ein Gefühl des Misstrauens und der Angst anzukämpfen.
Trotz dieses aktuellen Misstrauens blickt Frankreich auf eine lange Geschichte der Migration zurück ...
In Frankreich ist man seit Langem daran gewöhnt, dass es in der Kunst und in der Literatur verschiedene kulturelle Einflüsse gibt, und zwar deswegen, weil Frankreich als Kolonialmacht in Afrika und Asien vertreten war und es schon seit einiger Zeit frankophone Schriftsteller aus diesen Ländern gibt. Der französischsprachige senegalesische Schriftsteller Léopold Sédar Senghor wurde in den 1950er-Jahren in die Académie française aufgenommen. Und dann gibt es da die ganzen französischsprachigen Schriftsteller von den Antillen, die in Frankreich sehr wichtig sind.
Aber ist das Gefühl von Klassenzugehörigkeit in Frankreich nicht sehr ausgeprägt?
Das ist kulturell bedingt. In Frankreich ist nach wie vor die Aristokratie sehr wichtig, die Tatsache, dass man ein »von« im Namen hat. Das geht in mehrere Richtungen. Zum Beispiel wäre es auch schwierig, ein Anführer der Linken zu sein, wenn man einen aristokratischen Namen hat, es gibt auch immer Leute, die einen deswegen anfeinden.
Seit Jahren wählt eine treue Wählerschaft den Front National, der Frankreich für Einwanderer abschotten möchte. Warum glauben Sie, ist das so?
Etwas, das der Linken nie ausreichend bewusst war, ist, dass es in Frankreich sehr viele arme Weiße gibt. Bei der armen weißen Bevölkerung im Norden gibt es eine große Frustration, die zweifellos auf Einbildung beruht, denn diesen Menschen steht nicht weniger zu als den Einwanderern. Doch sie haben den Eindruck, dass sie weniger finanzielle Unterstützung und weniger Wohnungen bekommen. Daher rührt die Idee, dass die Franzosen an erster Stelle stehen sollten. Und die Linke hat sich dieser weißen kleinen Leute nicht genügend angenommen. Sie haben den Eindruck, dass den Linken nur das Schicksal der Einwanderer am Herzen liegt und dass sich niemand für sie interessiert.
Viele Franzosen gehen gar nicht mehr zur Wahl.
Es ist seltsam – wenn man in Frankreich über Politik spricht, sind alle eifrig dabei, aber es gibt ein Misstrauen, wenn es um Wahlen und um Politiker geht. Es stimmt, dass die Menschen nach der Affäre um François Fillon, der sich als sehr unehrlich entpuppt hat, auf eine Art desillusioniert sind. Aber ich habe festgestellt, dass es bei den jungen Leuten trotz allem ein starkes Interesse an Politik gibt. Und das ist neu, darin liegt eine Form von Hoffnung.
Sie haben Frankreich verlassen, als Sarkozy Präsident wurde. Was halten Sie von Macron?
Das ist zu diesem Zeitpunkt schwer zu sagen, man hat ja noch nichts gesehen. Es geht mir immer ein bisschen auf die Nerven, wenn Leute sagen: »Er wird dies oder jenes tun«. Ich ziehe es vor, abzuwarten, was er wirklich tut, und ein bisschen Vertrauen zu haben. In Frankreich sagt man viel zu häufig: »Es wird furchtbar werden«.
Macron, der junge Präsident als Figur, verheiratet mit einer älteren Frau, wäre das literarisch interessant?
Ja, dieser Mann hat etwas Faszinierendes an sich, auch dieses Paar, umso mehr, als es in Frankreich bis dato so gewesen war, dass man sich bereits einmal oder zweimal zur Wahl gestellt hatte, bevor man Präsident wurde. Man hatte Jahrzehnte auf diesen Posten hingearbeitet, und wenn man dieses Ziel dann mit fünfzig, sechzig Jahren endlich erreicht hatte, dann war es eine Art Belohnung. Bei diesem Mann hingegen ist alles anders. Und es war sehr interessant zu sehen, bis zu welchem Grad sich die Leute auf der Straße und die Zeitungen entsetzlich machohaft aufgeführt haben, wenn es um Macrons Frau ging, und welche extrem hohe Bedeutung dem Altersunterschied beigemessen wurde. Ich finde es sehr gut, einen Präsidenten zu haben, dessen Frau älter ist als er, denn das ist noch nie vorgekommen. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass es auch in dieser Hinsicht so eine große Veränderung gibt.
Sie selbst haben sich sehr früh Ihren eigenen Weg gesucht. Man bot Ihnen einen Platz in einer Eliteschule an, Sie entschieden sich dagegen. Würden Sie das heute wieder tun?
Nein, ich denke, dass ich das heute anders entscheiden würde. Ich war sehr jung, ich hatte eine sehr romantische und radikale Vorstellung davon, was es heißt, Schriftsteller zu sein, und ich dachte, dass ein Schriftsteller keine Universitätsausbildung braucht. Heutzutage sehe ich das nicht mehr so, ich glaube nicht, dass die Tatsache, dass man keine Universität besucht hat, einen zu einem guten Schriftsteller macht.
Es stellte sich aber für Sie als guter Weg heraus, Ihr erstes Manuskript wurde angenommen, als Sie 17 waren...
Ja, aber das war Zufall, es ist in keiner Weise exemplarisch. Wenn meine Kinder dasselbe machen wollten, würde ich ihnen abraten. Denn ich fände es schade, wenn man sein Leben von glücklichen Zufällen abhängig macht.
Das Interview führte Timo Berger
Aus dem Französischen von Caroline Härdter