Es ist schwülwarm unter dem Wellblechdach. Nebenan hat jemand die Anlage laut aufgedreht. Energiegeladener Latin Pop mischt sich mit den piepsenden Tönen, die fünf Kinder auf ihren Blockflöten spielen. Wir sind Ohrenzeugen im Barrio La Luz in Managua. Kevin Herrera, ein junger Musiker, unterrichtet hier im Rahmen von „Música en los Barrios“, eines Projekts der nicaraguanischen Stiftung „Casa de los Tres Mundos“, das vom deutschen Partnerverein Pan y Arte finanziell unterstützt wird.
Die Barrios sind Viertel mit oft hoher Kriminalität, in denen die Ärmsten wohnen. Um den Musikunterricht müssen sie sich eigen-initiativ bewerben. Das Projekt füllt eine Lücke, weil es an den Schulen des Landes keinen Kunst- oder Musikunterricht gibt. Stattdessen formieren sich begabte Schüler zu Ensembles oder werden selbst Musiklehrer. „Was fehlt, sind Weiterbildungsmöglichkeiten“, erklärt die Direktorin Paola Moreira. „Es gibt keine Musikhochschulen und ein Studium im Ausland kann sich niemand leisten.“ Nicaragua ist das zweitärmste Land Lateinamerikas.
Als eines von wenigen Projekten verknüpft „Música en los Barrios“ Kultur und Entwicklungszusammenarbeit. Dieser Ansatz beruht auf der Überzeugung, dass die Ursachen für Unterentwicklung und Armut nicht nur in materiellem Mangel zu suchen sind. Nachhaltige Entwicklung wird vielmehr durch mehrschichtige, also auch kulturelle Förderung möglich. Hildegard Hamm-Brücher, die ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, sah diese Zusammenhänge bereits 1982 und forderte, Kultur neben Ökonomie, Technik, Politik und Sozialem zur fünften Säule der Entwicklungspolitik zu machen. In zehn Thesen beschrieb sie, welche Schlüsselrolle Kultur und Bildung für emanzipatorische Prozesse in der soziokulturellen und sozio-ökonomischen Entwicklung spielen. Damit Entwicklungszusammenarbeit Hilfe zur Selbsthilfe sein kann, müsse sie sich an der kulturellen Identität des Landes orientieren und Vielfalt fördern. Kultureller Austausch solle gegenseitig und gleichwertig sein, nur so sei der erwünschte Dialog auf Augenhöhe möglich.
Heute, 27 Jahre später, sind Hamm-Brüchers Forderungen Allgemeingut, doch sie werden nur langsam von der internationalen und auswärtigen deutschen Politik umgesetzt. Ein Ergebnis ist das UNESCO-Übereinkommen zum „Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ von 2005, das eine Struktur für internationale Entwicklungspolitik im Kulturbereich festlegt. Die Konvention schafft eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für das Recht aller Staaten auf eigenständige Kulturpolitik. Indigene Minderheitenkulturen etwa sind demnach explizit geschützt und staatliche Kulturinvestitionen von wettbewerbsrechtlichen Einschränkungen internationaler Handelsabkommen ausgenommen.
Lucero Millán, Leiterin des Theaters „Justo Rufino Garay“ in Managua, sieht ihre Spielstätte als politischen Ort, an dem die Menschen zum Nachdenken angeregt werden sollen. Was sie in den 1980er-Jahren als Revolutionstheater gründete, ist heute das einzige freie Theater Nicaraguas. Momentan unterstützt eine Schweizer Entwicklungsorganisation ihre Arbeit.
„Ich wollte immer Theater für die Ärmsten machen“, sagt Millán. „Früher haben wir die Alphabetisierungskampagnen der Sandinisten unterstützt. Heute greifen wir Themen auf, die von der Regierung unterdrückt oder vernachlässigt werden, wie die Zensur der Medien oder familiäre Gewalt, und diskutieren nach der Aufführung mit dem Publikum darüber.“
Die meisten Menschen in Nicaragua waren nie im Theater oder können sich wenig darunter vorstellen. „Auf Tourneen gibt es manchmal Beschwerden, weil die Leute Kino erwartet haben“, erzählt Millán. Von der einheimischen Kulturpolitik wünscht sich Millán mehr Ausbildungsplätze und Geld für kreatives Schaffen.
Entwicklungszusammenarbeit soll dabei helfen, internationalen Künstleraustausch zu organisieren und Druck auf das korrupte Regime von Staatschef Daniel Ortega auszuüben. Bislang sind nur 0,0001 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts für Kulturpolitik vorgesehen.
Blockflötenunterricht, freies Theater oder ein Bus, der Dörfer mit Büchern versorgt, lindern nicht die Armut. Aber sie helfen der Gesellschaft, ihre Zukunft zu gestalten.