Unsichtbare Schätze

von Christine Müller

Menschen von morgen (Ausgabe I/2009)


Erzähl mir was 

Ägypten: Das Al-Sirah Al-Hilaliyyah Epos.
 Familiengeschichten reichen heute oft nur noch zwei Generationen zurück. Wie die Urgroßeltern gelebt haben, wissen die meisten schon nicht mehr. Die Geschichte einer ganzen Volksgruppe, der Bani-Halil-Beduinen, die im 10. Jahrhundert von der arabischen Halbinsel nach Nordafrika emigrierten, erzählt das Al-Sirah Al-Hilaliyyah Epos. Es zählt zum Hauptwerk arabischer Dichtkunst und wird seit dem 14. Jahrhundert mit Perkussionsinstrumenten oder einer zweisaitigen Fiedel aufgeführt – früher im gesamten Mittleren Osten, heute nur noch in Ägypten. Die Dichter, die diese Großfamiliengeschichte hauptberuflich bei Hochzeiten, Beschneidungszeremonien oder Familienfesten aufführten, durchliefen ab dem fünften Lebensjahr eine zehnjährige Ausbildung.

Die Großmütter von Bistritsa

Bulgarien: Die Bistritsa Babi.
Bis in die Internetplattform YouTube haben es die Seniorinnen bereits geschafft, nun auch auf die Liste des immateriellen Kulturerbes: die Bistritsa Babi, die Großmütter von Bistritsa, die traditionelle Tänze und polyphone Gesänge aus der Shoplouk-Region in Bulgarien bis heute aufführen und damit eine Tradition bewahren, die bei Initiationszeremonien junger Frauen praktiziert wurde. Beim polyphonen Gesang wird die Melodie von ein bis zwei Stimmen getragen, während die anderen ein monotones Summen anstimmen und die Leadsängerinnen begleiten. Bei ihren Auftritten tragen die Frauen traditionelle Kostüme und halten sich an den Händen, während sie sich im Kreis bewegen. Heute hat sich die soziale Funktion der Tänze gewandelt, sie werden vor allem auf der Bühne vorgeführt oder sind im Internet zu sehen.

Magische Waffe

Indonesien: Das Kris oder Keris.
Im siebten Band von Joanne K. Rowlings „Harry Potter“ macht sich dieser auf die Suche nach einem Schwert. In Indonesien wiederum suchen Klingenschmiede Nachwuchs, dem sie ihre Kenntnisse weitergeben können. Der Kris ist ein asymmetrischer Dolch, der von Männern und Frauen sowohl als Waffe als auch als spirituelles Objekt getragen wurde. Die Ursprünge gehen bis ins 10. Jahrhundert zurück. Die Handwerker, die die Herstellung der Kris beherrschen, gelten auch als Kenner der Literatur, Geschichte und Magie. Rund 120 Varianten an Mustern zur Klingengestaltung haben die Schmiede in ihrem Repertoire.

Vom Winde verweht

Vanuatu, Ozeanien: Sandmalereien.
Lange bevor Künstler in den 1960er-Jahren die „Environmental Art“ entdeckten, kommunizierten die Einwohner von Vanuatu mithilfe von Sandmalereien. Mit einem Finger zogen sie schlangenförmige Linien in den Sand, in vulkanische Asche oder Lehm. Die so entstandenen grafischen Gebilde vereinfachten die Kommunikation der Bevölkerung – 80 unterschiedliche Sprachen gibt es im Zentrum und im Norden der Inselgruppe. Des Weiteren dienten sie auch als Gedächtnisstütze, um Rituale, landwirtschaftliche Kenntnisse oder Lieder weiterzugeben. Die Sandgemälde sind also nicht nur reine Bilder, sondern mit Traditionen, Liedern, Geschichten oder praktischen Hinweisen verbunden. 

Kunst des Heilens

Bolivien: Die Kosmovision der Kallawaya.
Die Kallawaya leben in der Bergregion „Bautista Saavedra“ nördlich von La Paz. Ihre religiösen Praktiken gehen bis in die Präinkazeit zurück und verbinden diese mit der christlichen Religion. Die Priester der Kallawaya sind in vielen südamerikanischen Ländern bekannt. Sie verfügen über großes botanisches Wissen und kennen um die 980 Pflanzenarten. Ihre Heilungsriten sind eng mit ihren religiösen Vorstellungen verbunden. Musik dient als Mittel, um mit der Welt der Geister in Verbindung zu treten.

Was künftig noch geschützt werden soll: Armenien: Duduk-Musik (Holzoboe), China: die Kunque-Oper, Costa Rica: die Tradition des Bemalens von Ochsenkarren, Dominikanische Republik: der Kulturraum der Bruderschaft des Heiligen Geistes der Congos aus Villa Mella, Kambodscha: das Schattentheater der Khmer, Russland: das Olonkho-Heldenepos der Yakut.
 
 

Der Schutz von „Weltkulturerbe“ und „Weltnaturerbe“ wird durch die UNESCO seit den 1970er-Jahren vorangebracht. Nun gibt es erstmals eine „Liste des repräsentativen immateriellen Kulturerbes“. Wie beim „Welterbe“ findet keine finanzielle Förderung des entsprechenden „Erbes“ statt. Das „Label“ der UNESCO ist aber schon so renommiert, dass sich politische Akteure bei innerstaatlichen Entscheidungsprozessen auf dieses berufen können, wie sich in Deutschland zuletzt beim Fall der Waldschlösschenbrücke in Dresden deutlich zeigte. Weitere Informationen unter: www.unesco.de



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