Die Generation meines Vaters, geboren in den 1920er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, kam in der Schule in den Genuss sämtlicher Früchte der Aufklärung. Die neue türkische Republik hatte eine Kulturrevolution in Gang gesetzt mit dem Ziel, einen neuen Menschen zu schaffen, einen Bruder des zivilisierten „aufgeklärten“ Abendländlers, der als Vorbild und Ideengeber fungierte.
Aufklärungsprozess und Zivilisation wurden gleichgesetzt, während die Tradition in ihrer islamisch inspirierten Religiosität und in den orientalischen Raum reichenden Symbolik lediglich eine zu überwindende, dem Alten verhaftete irrationale Gegenwelt darstellte. Die moderne Türkei wurde im binären Denken geboren und war somit ein Musterschüler der Aufklärung.
Die Schule wurde zur paradigmatischen Institution der Modernisierung. In den jungen Jahren der Republik wurde sie zum mächtigen, vom Staat gestützten und geschützten Gegenspieler der Moschee und zum Begegnungsraum der Geschlechter. Junge Männer und Frauen sollten miteinander kommunizieren und sich von den Fesseln der Traditionen befreien können. So wurde ein Raum geschaffen, der von den Gesetzen und Glaubensvorstellungen der Religion nicht reglementiert werden konnte. Die Emanzipation des Menschen, so glaubte man in Anlehnung an die Erfahrungen in Europa, konnte in der traditionsverhafteten Welt der Voraufklärung nicht verwirklicht werden. Hierzu waren Bildung, ökonomischer und sozialer Fortschritt die Voraussetzung. Somit standen das weltliche Gesetz und die koranische Scharia einander unversöhnlich gegenüber.
Die junge türkische Republik hatte sich die Werte und Maximen der Aufklärung auf ihre Fahnen geschrieben. Es waren allerdings Fahnen, die nach vielen Schlachten um die Rettung des Vaterlandes einen blutigen Schatten warfen. Das Programm der Aufklärung und des Nationalstaats waren untrennbar. Der Staat hatte einen Erziehungsauftrag. Er wollte aus anatolischen Bauern republikanisch gesinnte Bürger und aus Kurden Türken machen. Für Griechen und Armenier gab es in diesem Nationalstaat keinen Platz. Bis heute ist dieser große Widerspruch zwischen der Entwicklungsgeschichte des Nationalstaats, der seine Bürger national und kulturell formatiert, und den Bürgerrechten einer demokratisch gesinnten Gesellschaftsordnung unaufgelöst und in den meisten Ländern, so auch in der Türkei, unaufgearbeitet geblieben. Die aufgeklärten, säkular orientierten Eliten der Türkei sind nationalistisch gesinnt. Nation, Republik und Aufklärung gingen einen Pakt ein, der unzertrennlich zu sein scheint.
Der Nationalstaat erscheint aus heutiger Sicht wie ein Geburtsfehler der Moderne. Und da er nach wie vor existiert und seine Überwindung wohl mehr Zeit beanspruchen wird, als man nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung am Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa dachte, muss man sich mit diesem Geburtsfehler heute wieder intensiver beschäftigen. Denn der nationale Reflex überschattet alle supranationalen Entwürfe, auch den europäischen Einigungsprozess.
Ein naives Verständnis der Aufklärung als ein Allheilmittel für das menschliche Dasein war nach zwei Weltkriegen, nach der kolonialen Ausbeutung, die vom aufgeklärten Teil der Welt ausging und deren Spuren auch heute noch nicht verwischt sind, unmöglich geworden. Philosophen wie Horkheimer, Adorno und Foucault haben dies zum Ausdruck gebracht.
Heute betrachten wir deshalb die Aufklärung auch immer mit Wehmut und Skepsis. Genährt wird dies von der Bedrohung der menschlichen Existenz durch die Technologie, durch einen menschenverachtenden Kapitalismus, durch die Konsumgesellschaft und nicht zuletzt durch eine Sehnsucht nach ordnenden Prinzipien, die die Mündigkeit des einzelnen Menschen infrage stellen. Dennoch besteht nach wie vor auch ein Streben nach Freiheit, das dem Menschen nicht nur anerzogen zu sein scheint, sondern ein wesentliches Element seiner Existenz ist.
In den letzten Jahrzehnten macht sich die Tendenz bemerkbar, nach einfachen Antworten auf komplexe, widersprüchliche Phänomene zu suchen. Vermeintliche Gegensätze werden zum Ordnungsprinzip. Das binäre Denken wird wiederbelebt. Das ist auch eine Folge der Überforderung, die durch die komplexe globale Vernetzung entstanden ist. Hier die aufgeklärte, demokratische westliche Welt, dort die autoritär und despotisch regierte Welt, die mittelalterlich anmutende islamische Gesellschaftsordnung, in der die Frauen diskriminiert werden und jungen Menschen jegliche Entfaltungsmöglichkeit genommen wird.
Dieses Bild ist nicht grundlegend falsch, aber es ist auch bequem. Denn es verstellt den Blick auf universelle Fragen, die sich heute der Menschheit jenseits von Religionszugehörigkeit und kultureller Prägung stellen: Wie sind wissenschaftliche Erkenntnis und spirituelle Erfahrung vereinbar? Wie kann die Institution der Familie mit ihren überlieferten patriarchalischen Strukturen mit der Emanzipation von Frauen harmonieren? Wie sind soziale Gerechtigkeit und ökonomische Effizienz zu vereinbaren? Fragen, auf die auch die modernen Gesellschaften bisher keine befriedigenden Antworten gefunden haben. Statt die Gefährdung der aufklärerischen Prozesse nur dem muslimisch geprägten Teil der Welt zuzuschreiben, sollten wir ganz andere Fragen stellen: Inspirieren aufklärerische Werte heute Menschen in aller Welt? Lassen sie sich kulturübergreifend übersetzen?
Die antagonistische Wahrnehmung der Kulturen müsste einem neuen universellen Denken Platz machen, das die Brüche nicht zwischen den Kulturen ortet, sondern innerhalb der Kulturen selbst. Während das als ein Ganzes imaginierte Bild der eigenen Kultur mit einem anderen als Ganzes imaginierten Bild niemals deckungsgleich sein kann, da sonst jegliche Unterscheidungsmöglichkeit verloren ginge, kommunizieren die gebrochenen Bilder miteinander, ohne ihre besondere Struktur aufgeben zu müssen. So werden aus den Herausforderungen der Moderne, die beispielsweise das Arbeitsleben, das Leben in den Metropolen oder das Verhältnis der Geschlechter, die Ehe und das Familienleben betreffen, kulturübergreifende Fragestellungen.
Beim Nachdenken über unser Wertesystem ziehen wir uns oft in eine mentale Festung zurück. Doch wie ist in einer Festung Freiheit denkbar? So wie die Präsidentenpaläste in arabischen Ländern sind auch unsere Denktürme nicht auf Ewigkeiten gesichert. Wer den polarisierenden Schlachtstrategien des Kulturkampfes nicht folgt, wird den neuen, ursprünglichen Drang nach Freiheit verspüren, der unbelastet von kurzfristigen ökonomischen und politischen Interessen und halbherzigen Freiheitsfloskeln die Grenzen der Kulturen längst passiert hat. Bagdad und Florenz zum Beispiel verbindet als Quellen modernen Denkens, wissenschaftlicher Neugier und künstlerischer Inspiration mehr, als uns gegenwärtig ist. Der Kulturtransfer, der zur Renaissance und zur Aufklärung führte, übersprang die Grenze, welche die Religionsspaltung zwischen Ost und West schuf. Es gilt wiederzuentdecken, welchen aufklärerischen Wert kulturübergreifende Befruchtungen haben können.
Die Türkei ist heute Schauplatz einer solchen Fortschreibung der Aufklärung, die nicht mehr auf Polaritäten und Gegensätzen zwischen Morgen- und Abendland, zwischen dem „rationalen“ Westen und dem „irrationalen“ Osten beruht. Wenn die Türken heute die geistigen und spirituellen Quellen ihres Erbes wiederentdecken, sind sie weitgehend gefeit davor, hinter die Errungenschaften der Aufklärung und der Säkularisierung zurückzufallen. Doch diese islamische Moderne scheint manchen Beobachter im Westen fast mehr zu irritieren als die mittelalterlich anmutenden Gesellschaftsvorstellungen muslimischer Fundamentalisten.
Zivilisation und Barbarei stehen sich keineswegs immer unversöhnlich gegenüber, sondern entspringen viel zu oft dem gleichen Boden. Die Schatten des Kolonialismus, der Weltkriege und eines entfesselten Nationalismus, die Schatten von Erlösung versprechenden Ideologien lasten schwer auf der modernen Zivilisation. Wir müssen uns dieser Last stellen, lernen sie zu tragen. Wir sollten uns einem melancholischen Aufklärungsgeist verbunden fühlen, der immer dann aufhellt und heiter wird, wenn sich jemand in der weiten, fernen Welt seiner naiven, unbelasteten Ursprünge erinnert, ob auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder auf den Straßen von Riad, wo Frauen um ihr Recht kämpfen, Auto zu fahren.