Als die NATO im Frühjahr 1999 ihre Bomben über Belgrad abwarf, klingelte jeden Abend das Telefon bei Borka Pavićević. Am Apparat: Helmut Schäfer, der künstlerische Leiter des Theaters an der Ruhr. Wie es der Freundin gehe, wollte er wissen, um dann wie all die Abende zuvor mit ihr Kants Gedanken „Zum ewigen Frieden“ zu erörtern. Gespräche über Kant, während Bomben fallen? Ist das intellektuelle Verstiegenheit? – Nicht bei einer Frau, die sich ganz in Ruhe einen Kamm in den schweren grauen Haarknoten zurücksteckt, als ich sie frage, ob ihre Vorstellung von politischem Theater nicht elitär sei, die sich dann über ihren Schreibtisch zu mir beugt und mit tiefer Stimme feststellt: „That’s a bloody lie.“
Kurz vorher hatte ich in glühender Juni-Hitze das schmiedeeiserne Tor rechts neben der alten DDR- und neuen deutschen Botschaft in der Birčaninova 21 in Belgrad aufgestoßen, war über den gepflasterten Hinterhof auf ein einladendes weißes Gebäude zugelaufen, das sich hinter den kargen sozialistischen Botschaftsbau duckt, und hatte das kleine Büro der Leiterin des „Zentrums für kulturelle Dekontamination“ (CZKD) über eine schmale Stiege erreicht.
Von der gesellschaftlichen Wirkung des Theaters und der Kunst muss überzeugt sein, wer nach seiner Entlassung als regierungskritische Dramaturgin des Belgrader Drama Theaters gegen alle Widerstände einen solchen Ort schafft. Das war 1994. Heute stemmt das CZKD nicht nur rund 20 eigene Veranstaltungen im Jahr, sondern ist auch ein wichtiger Kooperationspartner für Nichtregierungsorganisationen. Dabei wird die Arbeit des CZKD durch den Fund for an Open Society der Soros Foundation und das Helsinki-Komitee, eine NGO deren Mitgliedsorganiationen aus den OSZE-Staaten stammen, unterstützt. Inzwischen finanzieren auch das Serbische Kulturministerium und die Stadt Belgrad einzelne Projekte.
Die treibende Kraft hinter dem CZKD ist ohne Zweifel Borka Pavićević. Dieser Grande Dame des jugoslawischen Avantgardetheaters sitze ich nun also an einem alten, mit Papieren überhäuften Schreibtisch gegenüber und will von ihr wissen, was und wie hier dekontaminiert wird, während sie in zwei Telefone gleichzeitig spricht.
Pavićević stellt die Telefone ab. Als Tito 1980 starb, sei als Erstes die nationalistische Propaganda in die multiethnische Gesellschaft eingesickert. „Im Krieg ist dann eine neue Klasse entstanden, die der Ladies und Yuppies.“ Sie erzählt, wie vor allem die Männer mit ihren Jeeps – getöntes Fensterglas, Handy am Ohr – heute durch Belgrads Straßen rasen und die Melodie der Stadt verändern, indem sie den öffentlichen Raum bebauen, der unter Tito niemandem gehört habe. Ist dieser Lebensstil, dieser Umgang mit dem öffentlichen Raum eine der Kontaminationen, gegen die sie mit ihren Leuten arbeitet? „Ja, weil es zu einer Kultur wird. Wenn du Löcher in der Straße hast anstelle von Asphalt, und du löst dieses Problem, indem du einen Jeep kaufst, ist etwas extrem falsch mit dir.“ Es entstehe eine Rhetorik der leeren Floskeln, das Unvermögen, größere Zusammenhänge zu verstehen, und eine „Do-your-job-Mentalität“, die mit den Vereinten Nationen ins Land gekommen sei.
Pavićevićs Entgiftungsstrategie ist bestechend und schlicht: miteinander sprechen, sich anhören und erzählen, versuchen, eine gemeinsame Erinnerung zu entwickeln, denn das wurde nach dem Zweiten Weltkrieg versäumt. „Wenn es den Yuppies möglich ist, die Kultur so zu verändern, dann muss es auch vice versa möglich sein.“ Und es gebe ein Bedürfnis dazu, das beweise ein Durchschnitt von 50 Theaterzuschauern am Abend. Dafür arbeite sie mit ihren Mitarbeitern, auf die sie immer wieder verweist, etwa die Politik-Studentin Saša. Sie würden die Arbeit machen, nicht Pavićević. Sie und ein weiter Kreis von Künstlern und Künstlerinnen aus Zagreb, Priština, Sarajevo, auch aus Deutschland, die ihre Projekte im CZKD realisieren. Zum Beispiel Kunstaktionen wie „Walls in the street“: Kunst auf den Mauern der Stadt, um den öffentlichen Raum zurückzuerobern für eine andere Sprache als die der Politiker, Geschäftsmänner und Journalisten. Oder die deutsch-serbische Performance, die fragt: „Will you ever be happy again“, während eine andere Veranstaltung fordert: „Let there be light“ und Geschichten von Widerstand und gegenseitiger Hilfe im Krieg erzählt, die in den (ausländischen) Medien nie vorkommen.
Gegen Patriotismus habe sie nichts, hat Pavićević einmal gesagt. Aber dekontaminiert müsse er sein, der Patriotismus, frei von Mythen, Lügen und Halbwahrheiten.