Sie beschäftigen sich seit über 30 Jahren mit virtuellen Welten. Warum zieht es Menschen in ihrer Freizeit in solche Sphären der Fantasie?
Wenn man die Spieler fragt, antworten sie: weil es Spaß macht. Als Wissenschaftler sage ich: Die Menschen genießen die Freiheit, sich von den Zwängen ihres realen Lebens zu befreien. Sie begeben sich in virtuelle Welten, um herauszufinden, wer sie sind. Dort lassen sie sich von einer selbst gewählten Figur vertreten, die womöglich ganz anders ist als sie selbst. Vielleicht kann diese zaubern oder mit Schwertern kämpfen, und über sie lernen die Spieler, sich selbst besser zu verstehen.
Indem ich mich nach Feierabend als Elfe durch die virtuelle Welt bewege, lerne ich mehr über mich selbst? Ist das Ihr Ernst?
Natürlich. Denn diese Figur und ihre Handlungen spiegeln auch immer meinen eigenen Charakter wider. Die Figur macht ja nur, was ich ihr auftrage. Weil ich in der virtuellen Welt aber als anderes Wesen erscheine, kann ich mit Aspekten meiner Persönlichkeit auf eine Art experimentieren, wie das in der wirklichen Welt nie möglich wäre. Denn dort hätten solche Handlungen Konsequenzen. In der Realität kann ich das Spiel nicht einfach wieder von vorn starten.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Ich entscheide mich vielleicht dafür, ein dämonischer Zauberer zu sein, der Feuerbälle auf seine Feinde regnen lässt. Kein Spieler glaubt, dass er das tatsächlich könnte. Man ist sich der Fiktion absolut bewusst. Darum geht es aber auch gar nicht.
Sondern?
Die Fiktion ist nur der Vorwand für die Handlung. Man muss in der virtuellen Welt immer wieder Entscheidungen treffen. Etwa: Helfe ich jemandem in meiner Gruppe oder lieber nicht, weil ich dann selbst noch mächtiger wirke? In der virtuellen Welt sehen dich die Leute, wie du bist. Jemand ist zum Beispiel hässlich, aber so witzig und clever wie Cyrano de Bergerac. In der virtuellen Welt spielt das reale Aussehen keine Rolle. Das ist befreiend.
Wie viel Zeit verbringen Spieler durchschnittlich in virtuellen Welten?
Bei einem typischen Verlauf sitzt der Spieler über einen Zeitraum von 18 Monaten bis zu zwei Jahren täglich zwei bis drei Stunden vor dem Rechner. Nach dieser Zeit ist die fiktive Figur praktisch mit dem Spieler identisch. Denken Sie ans Theater: Ein Schauspieler, der den Macbeth verkörpert, versteht seine Rolle im Laufe der Vorstellungen immer besser und reflektiert darüber, wie er an Macbeths Stelle gehandelt hätte. Am Ende der Spielzeit wird er als Mensch gewachsen sein. Im Theater ist seine Rolle fix angelegt, aber in der virtuellen Welt wandelt sie sich mit dem Spieler.
Spiele, die Gewalt beinhalten, stehen im Kreuzfeuer. Zu Recht?
Wird ein Schauspieler, der Macbeth verkörpert, deshalb selbst zum Mörder? Nein. In 30 Jahren wird der zukünftige deutsche Bundeskanzler oder europäische Präsident, den wir bis dahin vielleicht haben, selbst mit virtuellen Welten gespielt haben oder zumindest seine Freunde. Und sicherlich sind sie deshalb nicht weniger reife Erwachsene als die Nichtspieler. Ist es etwa besser, fernzusehen, als sich in einer virtuellen Welt auszuprobieren? Es ist lächerlich zu denken, dass Computerspiele per se Gewalt fördern.
Also schadet es uns nicht, in der Freizeit virtuelle Gegner zu erschießen?
Es gibt so viele Filme, so viele Bücher, so viele Theaterstücke, in denen Leute einander erschießen. Warum sollte ausgerechnet nur die Schießerei in der virtuellen Welt verboten sein? Diese Art von Spiel hat eine längere Geschichte als jede Kunstform. Historische Epen, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden, funktionieren nach diesem klassischen Muster: Der Spieler startet in der wirklichen Welt, gerät in eine Fantasiewelt, bewältigt dort Herausforderungen und kehrt in die reale Welt zurück. Denken Sie nur an die Mythengestalt Agamemnon oder König Artus’ Suche nach dem Heiligen Gral. Es geht am Ende immer darum, sich selbst zu verstehen.
Das Gespräch führte Carmen Eller