Gleichberechtigung | USA

Die Erwählten

Anhänger des Dritte-Welle-Antirassismus treiben den Kampf für Gleichberechtigung voran. Nicht selten schießen sie dabei über das Ziel hinaus. Wann ist es zu viel des Guten?

Ein Porträtfoto des Autors John McWorther. Er hat dunkle kurze Haare und lächelt in die Kamera.

Der Autor John McWorther

Eine Geisteshaltung, die wir als „Third Wave Antiracism“, als dritte Welle des Antirassismus, bezeichnen könnten, gewinnt an Einfluss, eine Bewegung, deren Anhänger allerdings häufiger „Social Justice Warriors“ oder „der woke Mob“ genannt werden.  [...]

Genau wie der Feminismus lässt sich auch der Antirassismus in drei Wellen unterteilen. Die erste Welle kämpfte gegen die Sklaverei und die gesetzlich verordnete Rassentrennung. Die zweite Welle, während der 1970er- und 1980er-Jahre, kämpfte gegen rassistische Einstellungen und brachte Amerika und der Welt bei, dass Rassismus ein moralischer Makel ist. Der in den 2010er-Jahren zum Mainstream gewordene Third-Wave-Antirassismus lehrt uns, dass Rassismus fest mit den gesellschaftlichen Strukturen verquickt ist.

Die ›Komplizenschaft‹ der in diesen Strukturen lebenden Weißen konstituiert diesen Rassismus überhaupt erst, wohingegen das Ringen mit dem sie überall umgebenden Rassismus den gesamten Erfahrungsraum Schwarzer Menschen definiert. Das wiederum verlangt eine ganz besondere Feinfühligkeit Schwarzen Menschen gegenüber, unter anderem werden gesellschaftlich etablierte Erfolgs- und Verhaltensstandards extra für sie aufgehoben.

Innerhalb dieses Paradigmas verdienen es alle, die sich ihrer Existenz als weiße Person als einer lebenslangen Schuld nicht ausreichend bewusst sind, bitter verurteilt und ausgegrenzt zu werden, und zwar in einem derart obsessiv-abstrakten Grad, dass es den meisten Beobachterinnen und Beobachtern nicht gerade leichtfällt, dem irgendeinen Sinn abzugewinnen. Für Leute links der Mitte stellt sich die Frage, seit wann und warum sie als rückständig klassifiziert werden. Millionen unschuldiger Menschen haben eine Höllenangst davor, ins Visier einer Rotte eifernder Inquisitorinnen und Inquisitoren zu geraten, die in unserer heutigen Gesellschaft so gut wie jede Äußerung, jedes Vorhaben und jede Errungenschaft zu überwachen scheint. [...]

„Menschen werden regelmäßig ihrer Posten enthoben, weil sie angeblich unzureichend antirassistisch sind“

Ich schreibe hier nicht über Dinge, die einigen wenigen Pechvögeln zustoßen, sondern über eine im innersten Gewebe der Gesellschaft wirksame Dynamik. Auch wer heute einfach nur seinen Job macht, ist nie gefeit davor, aus heiterem Himmel vom Missionierungsdrang des Third-Wave-Antirassismus erwischt zu werden.

Unschuldige verlieren ihren Job. Akademische Forschung bekommt einen gewissen Farbschlag, wird auf andere Wege geleitet und manchmal wie von rankenden Kudzu-Bohnen erstickt. Wir sehen uns gezwungen, den Großteil unserer öffentlichen Diskussionen zu drängenden Themen in einer Doppelzüngigkeit zu führen, die schon ein zehnjähriges Kind durchschaut. Damit die Zehnjährigen nicht die ganze Show auffliegen lassen, sehen wir uns gezwungen, ihnen beizubringen, im Namen der Aufklärung an spitzfindige Sophistik zu glauben.

Der Third-Wave-Antirassismus-Guru Ibram X. Kendi hat ein Buch darüber geschrieben, wie man Kinder antirassistisch erzieht. Es heißt „Antiracist Baby“. (Prima Titel, bringt die Sache recht schlicht auf den Punkt.) Das und manches andere sind Anzeichen dafür, dass uns die dritte Welle des Antirassismus zwingt, so zu tun, als sei Performance-Kunst Politik. Diese neue Ausprägung des Antirassismus verdonnert uns dazu, endlos viel Zeit darauf zu verwenden, uns als Weisheit verkauften Nonsens anzuhören und in aller Öffentlichkeit so zu tun, als fänden wir das gut.

Mein Podcast-Partner, der Wirtschaftswissenschaftler Glenn Loury, und ich bekommen massenhaft Post von Promovierenden und von Professorinnen und Professoren, die Angst davor haben, dass die neue Ideologie ihre Karrieren, ihre Fachbereiche oder ihre Forschungsfelder kaputt macht. Sie wenden sich auch an andere Organisationen, oft von privaten Mailadressen aus, damit sie an ihren Instituten nicht aufgespürt und entlarvt werden können. Menschen an einflussreichen Stellen werden regelmäßig ihrer Posten enthoben, weil es Anschuldigungen oder Petitionen gibt, weil sie angeblich unzureichend antirassistisch sind.

Quer durchs Land zwingen Schulbehörden Lehrkräfte und Verwaltungen, in den Lehrplänen Zeit zu verschwenden mit Antirassismusspritzen, die nicht mehr Sinn ergeben als das, was während der Kulturrevolution in China angeordnet wurde. Wussten Sie schon, dass Objektivität, Pünktlichkeit und das geschriebene Wort weiß sind? Und dass Sie, wenn Ihnen das abwegig erscheint, gemeinsame Sache machen mit George Wallace, Bull Connor und David Duke?

„Die Stimmung hat sich in jüngster Zeit massiv verändert“

Erst 2008 schrieb Christian Lander in „Stuff White People Like“ mit trockenem Humor, dass eine bestimmte Sorte weißer Menschen, die gern zu Filmfestivals geht und Secondhand-T-Shirts trägt, auch mit Vorliebe „beleidigt ist“. Wenn man dieses Kapitel nur zwölf Jahre später erneut liest, ergreift einen ein Schauder. Denn die Sorte Mensch, von der Lander spricht, könnte sich angegriffen fühlen und zu einer geifernden Tirade darüber ansetzen, wie wenig lustig es sei, wenn Menschen die Vorherrschaft der Weißen, die „White Supremacy“, sowie die „Komplizenschaft“ der Weißen mit dieser Dominanz zu dekonstruieren versuchten.

Schriebe Lander sein Buch heute, würde er diesen Witz sehr wahrscheinlich nicht drinlassen. Und das wiederum ist ein Indiz dafür, wie massiv sich die Stimmung in jüngster Zeit verändert hat. Von denjenigen, auf die Lander sich bezog, bilden einige eine kritische Masse und sind nicht länger schweigend stolz auf ihr aufgeklärtes Wissen um die Dinge, die sie empörend finden, sondern sehen es heute als ihre Pflicht, diejenigen zu verurteilen und zu meiden (Schwarze Menschen eingeschlossen), die nicht im gleichen Maße empört sind wie sie.

Manche mögen das für eine bloße Frage von Habitus und Feinabstimmung halten. Aber der Third-Wave-Antirassismus fügt Schwarzen Menschen im Namen seiner Leitimpulse regelrecht Schaden zu. Er beharrt darauf, dass es Rassismus ist, wenn Schwarze Jungen unter den wegen Gewalt an der Schule suspendierten oder verwiesenen Schülerinnen und Schülern überrepräsentiert sind, was – in Politik rückübersetzt – nachgewiesenermaßen zu einem dauerhaften Gewaltproblem an den Schulen und zu schlechteren Noten geführt hat. Der Third-Wave-Antirassismus beharrt darauf, dass es Rassismus ist, wenn Schwarze Kinder an den New Yorker Schulen, die ihre Schülerinnen und Schüler über einen standardisierten Leistungstest zulassen, unterrepräsentiert sind.

Er fordert von uns, dieses Testverfahren über Bord zu werfen – statt Schwarze Schulkinder an die Hilfsangebote (viele davon kostenlos) heranzuführen, die sie auf den Test vorbereiten, oder wieder mehr Stipendienprogramme aufzusetzen, die nur eine Generation zuvor viele Schwarze Kinder an genau diese Schulen brachten. Dass das im Endergebnis zu einer geringeren Bildungsqualität an den Schulen führen wird – und zu Schwarzen Schülerinnen und Schülern, die weniger gut darauf vorbereitet sind, den für spätere Prüfungen notwendigen Denkmuskel zu trainieren –, wird als nebensächlich betrachtet.

Die dritte Welle des Antirassismus mit ihrem extrem scharf gestellten Fokus auf einen stark vereinfachten Begriff davon, was Rassismus ist und was dagegen getan werden kann, gibt sich damit zufrieden, Schwarzen Menschen zu schaden, und zwar im Namen von etwas, das sich nur als Dogma bezeichnen lässt.

Aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann

Dieser Text ist ein Auszug aus seinem 2022 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“ (Hoffmann und Campe, Hamburg).