Was in digitalen Welten verloren geht
In Taiwan verdrängt die digitale Welt die physische. Selbst die Tradition wandert ab in die Cloud. Unser Autor macht sich auf die Suche nach einer verlorenen Zeit
Ich wuchs in den Nullerjahren in Taiwan während der Ära des „Pokémon“-Spiels auf, dieses globalen Phänomens, bei dem Spielerinnen und Spieler auf Spielkonsolen Monster fangen und trainieren mussten, um es einmal zum Meister in diesem „Sport“ zu bringen.
Diese Zeit fühlt sich noch so nah und unmittelbar an – gleichzeitig aber doch schon so fern. Wohl niemand würde sich heute noch für ein Gameboy-Spiel begeistern, in dem verpixelte Figuren herumspringen und -irren: immer nur hoch und runter, von links nach rechts, gefangen in dem hermetischen Raster der ersten digitalen Weltordnung, in dem Millionen Kinder und Teenager damals einsam ihre Freizeit verbracht haben.
Beim Aufschreiben dieser Gedanken erinnere ich mich an die Videokunstarbeit „How Not to Be Seen: A Fucking Didactic Educational“ der deutschen Filmemacherin Hito Steyerl. Da heißt es an einer Stelle: „Die Pixelauflösung entscheidet über die Sichtbarkeit.“ Als Kind fühlte ich mich unsichtbar, war unsichtbar für die Außenwelt, versteckt in der verpixelten Rasterstadt „Alabastia“, in der viele der Pokémon-Spiele ihr virtuelles Territorium fanden.
„Damals existierten die physische und die digitale Welt ja noch klar nebeneinander, und das Physische war für uns noch erkennbar und vertraut“
Das Digitale haben wir zunächst im Modus des Spiels erfahren. Nicht mit einem Mal, es verlief ganz graduell. Damals existierten die physische und die digitale Welt ja noch klar nebeneinander, und das Physische war für uns noch erkennbar und vertraut. In dieser Zeit des Übergangs spielte ich gerne Monopoly.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf dem Boden meines Zimmers saß, zwei Würfel in der Hand, und unbeholfen das Spielgeld zählte. Heute ist das anders: In der mittlerweile elften Fassung der Onlineversion von Monopoly muss man den „Dämonenkönig“ besiegen: eine Schurkenfigur mit Krakenkopf, die auf einem Fluggerät ungehindert über das Spielfeld reist, fast wie ein Hedgefonds-Milliardär im Privatjet von Ort zu Ort fliegt, von Investment zu Investment.
Spieler verbünden sich über Headsets, auf YouTube-Videos hört man sie schreien und fluchen. Niemand sitzt dort mehr still am Boden und fühlt das Papier und das Plastik in seinen Händen.
„Wir leben längst in der Zeit des virtuellen Raumes“
Wir leben längst in der Zeit des virtuellen Raumes und es fällt mir nicht schwer, mir eine nahe Zukunft vorzustellen, in der Spieler, statt gemeinsam in einem Raum oder selbst in einem Chatroom zu sitzen, Virtual-Reality-Brillen tragen und sich in der Monopoly-Welt gegen den Dämonenkönig verbünden.
Vielleicht funktioniert diese schöne neue Welt dann gar nicht mehr so viel anders als der globale Immobilienmarkt: Die digitale Realität wird zu einem großen Spiel mit virtuellem Geld und abstrakten Gegenwerten, die sich für die Investoren, die Spieler, längst entmaterialisiert haben. Vielleicht sind es im Monopoly-Spiel dann nur noch die Würfel, die zumindest gleiche Chancen für alle suggerieren.
Über das Spiel sind wir von der realen Welt in die digitale gezogen worden. Und in der Zwischenzeit ist unsere Welt, ohne dass wir es bemerkt haben, selbst zu einer digitalen geworden. Selbst Taiwans traditionelle Kultur- und Unterhaltungsindustrie hat sich aufgemacht, das Metaverse zu besiedeln, ob es nun das Budaixi-Handpuppenspiel ist oder die Koa-á-hì-Oper, deren Aufführungen und Erzählungen ich als Kind auf zusammengezimmerten Holzbühnen auf Tempelfesten gesehen habe.
Nun kann man sie sich überall und jederzeit anschauen. Nicht mehr so wie damals, als ich bei den ganz realen Darbietungen Rotz und Wasser geheult habe.
„Menschen und Schicksale, die sich in traditionellen Erzählungen gewissermaßen nur im Traum begegnet sind, die Fantasiegestalten und ihr Publikum, treffen nun in einer gemeinsamen Welt aufeinander, für die man nur die virtuelle Brille braucht“
Das Theater hat sich herausgelöst aus seiner starren Ritualisierung, den Jahreszeiten, in denen es traditionell und ausschließlich dargeboten wurde. Es wollte und musste das wohl tun, um mithalten zu können mit unseren von Netflix und Disney+ geprägten Bedürfnissen. Menschen und Schicksale, die sich in diesen traditionellen Erzählungen gewissermaßen nur im Traum begegnet sind, die Fantasiegestalten und ihr Publikum, treffen nun in einer gemeinsamen Welt aufeinander, für die man nur die virtuelle Brille braucht. Diese Brillen werden immer leichter, sodass man irgendwann vergessen wird, sie wieder abzusetzen.
Vor Kurzem hörte ich, dass Apple unter Mitarbeit von taiwanesischen Ingenieuren und Programmiererinnen kurz davor sei, eine Synchron-Übersetzersoftware zu entwickeln. Bevor wir also wie Neo in den „Matrix“-Filmen Wände hochlaufen und Kugeln im Flug abfangen können, werden wir alle Sprachbarrieren überwinden und mit wenigen Sekunden Verzug alles sagen und alles verstehen können. Doch wird das Taiwanesisch, das mir die KI vorspricht, dasselbe sein, das ich in meiner Kindheit gehört habe? Wird es mir vertraut erscheinen oder fremd?
Ich erinnere mich an jenen Abend, an dem ich allein an dem großen Tisch saß, die Spielfiguren und Plastikhäuser des Monopoly-Spiels chaotisch vor mir ausgeschüttet. Unbewusst war ich der Grenze zwischen den Welten damals schon sehr nahe, die Dämmerung des Realen hatte längst begonnen.
„Unbewusst war ich der Grenze zwischen den Welten damals schon sehr nahe, die Dämmerung des Realen hatte längst begonnen.“
Ich erinnere mich an einen weiteren Abend viele Jahre später in einem Theatersaal in Taipeh, in dem eine renommierte Puppenspielertruppe fantastische Szenen zur Aufführung brachte. Zwei Bildschirme zu beiden Seiten der Bühne zeigten simultan zueinander Texte auf Englisch und Chinesisch. Da war sie noch näher gerückt, die Grenze, die Dämmerung. Erst heute begreife ich mein damaliges Unwohlsein. Es war das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts.
Heute werden Pokémon mit dem Smartphone in Einkaufsmalls und auf öffentlichen Plätzen gejagt – und schon bald werden sie wohl „wirklich“ im Gras der Parks und in den Untiefen der staatlichen Schwimmbäder lauern, nur darauf wartend, von uns entdeckt zu werden. Ist das nicht auch irgendwie schön? Selbst die erste Generation der Pokémon meiner Kindheit taucht so wieder auf und wir alle können die Charaktere wiedertreffen, die damals zu unseren Freunden geworden und mit denen wir aufgewachsen sind.
Nun können wir, wie in unseren frühesten Träumen, wahrlich zu Meistern des Spiels werden. Endlich, endlich können wir leben, ohne auf etwas verzichten zu müssen.
Doch war es nicht gerade dieser Verzicht, der den Dingen überhaupt erst Bedeutung gab?
Aus dem Mandarin von Axel Kirch