Museum | Ukraine

Ausstellung im Licht der Taschenlampe

Das „Mystetskyi Arsenal“ in Kiew beherbergt Ausstellungen, Festivals und Theateraufführungen. Im Krieg wird die Planung von Events doppelt aufwändig. Museumsmanagerin Olga Zhuk berichtet

Gäste bei einer Ausstellung während einer der Stromausfälle. Foto: Oleksandr Popenko / Mystetskyi Arsenal

Das Interview führte Atifa Qazi

Olga Zhuk, Sie sind stellvertretende Direktorin für zeitgenössische Kunst und Museumsangelegenheiten. Was hat sich seit Kriegsbeginn vor fast einem Jahr für das Mystetskyi Arsenal geändert?

Natürlich gibt es keinen Normalbetrieb mehr. In Kiew haben wir in einem Jahr 667 Luftalarme gehabt. Die Menschen mussten 747 Stunden lang in Bunkern oder Kellern Schutz suchen, was bedeutet, dass jedem von uns ein Monat Lebenszeit gestohlen wurde. Aber in Wirklichkeit wurde uns jede einzelne Minute seit Kriegsbeginn gestohlen: Die Menschen fühlen sich nie ganz sicher, und wir fürchten ständig neue Angriffe.

Den letzten massiven Raketenangriff hatten wir am vergangenen Freitag. Wenn so etwas passiert, müssen alle öffentlichen Aktivitäten eingestellt werden, aber die Mitarbeiter des Mystetskyi Arsenal arbeiten weiter und leisten auch symbolischen Widerstand. Wir tun dies, um den Fortbestand unserer Identität zu sichern und die Menschen zu unterstützen, die noch in der Stadt sind.

Wir alle haben unsere Normalität verloren, aber wir weigern uns, das hinzunehmen. Wir müssen etwas tun, damit wir in Zukunft wieder ein normales Leben führen können, damit unser Land und unsere Gesellschaft überleben können.

„Man muss immer einen Plan A und einen Plan B haben, und das bedeutet, dass es viel mehr ,unsichtbare‘ Arbeit gibt“

Haben Sie Ihr Programm an die neue Realität angepasst?

Jetzt müssen wir bei der Planung und Gestaltung jedes Projekts oder jeder Veranstaltung zunächst alle Gefahren berücksichtigen, um die Sicherheit von Menschen und der Kunst zu gewährleisten. In der Praxis bedeutet dies, dass Kultureinrichtungen ihr Programm ändern und ihre Keller zu Notunterkünften umfunktionieren.

In den ersten Kriegsmonaten war es wegen der Bombenangriffe fast unmöglich, rauszugehen. Selbst jetzt, da Alarmsysteme ausgebaut wurden, bleiben die Bedrohungen, ihre Intensität und Häufigkeit unvorhersehbar.

Dies erschwert alles, von der Projektlogistik bis zur Finanzplanung und zum Fundraising. Man muss immer einen Plan A und einen Plan B haben, und das bedeutet, dass es viel mehr „unsichtbare“ Arbeit gibt. Daher wurden die Vorbereitungszeiten in den Institutionen viel kürzer, und wir mussten auch unsere Programmplanung überdenken.

Im Jahr 2022 veranstaltete das Mystetskyi Arsenal zwei große Ausstellungen, was für das Team viel mehr Arbeit bedeutete als die üblichen vier bis fünf Schauen und zwei großen Festivals pro Jahr in Friedenszeiten.

„Bei der Eröffnung gab es einen Stromausfall, und die Besucher mussten Taschenlampen benutzen, um die Kunstwerke zu betrachten“

Wegen der erschwerten  Bedingungen vor Ort haben wir unser Programm neu ausgerichtet, um teilweise ein internationales Publikum außerhalb der Ukraine anzusprechen und unser Engagement im Bereich der Kulturdiplomatie zu verstärken.

So organisierten wir zahlreiche Veranstaltungen auf internationalen Literaturfestivals und Messen, darunter den Stand und das literarische Programm auf der Frankfurter Buchmesse. Wir ko-kuratierten den „Ukraine Day“ mit dem Cheltenham Literature Festival als Teil der UK/Ukraine Season of Culture, die vom British Council und dem Ukrainischen Institut unterstützt wurde.

Mit welchen praktischen Problemen wurden Sie konfrontiert und wie sind Sie damit umgegangen?

Das aktuellste und dringendste Problem waren natürlich die Stromausfälle aufgrund der russischen Raketenangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur. Als das anfing, bereiteten wir gerade „Heart of Earth“ vor, unsere aktuelle Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die sich mit den Auswirkungen des Krieges auf die Natur, Lebensmittelproduktion, Ökologie und globale Sicherheit befasst. Wir mussten das Ganze im Dunkeln, teils mithilfe von Taschenlampen aufbauen.

Bei der Eröffnung gab es einen weiteren Stromausfall, und die Besucher mussten auch wieder Taschenlampen benutzen, um die Kunstwerke zu betrachten. Zu Stromausfällen kam es immer wieder, sie waren unvorhersehbar.

Das Museumsteam baut eine Installation für die "Heart of Earth"-Ausstellung auf. Wegen eines Stromausfalls kommen Taschenlampen zum Einsatz. Foto: Oleksandr Popenko / Mystetskyi Arsenal

„Das erste praktische Problem, als Russland seine Invasion begann, war die Rettung und Evakuierung der Kunstwerke“

Leider ist das Mystetskyi Arsenal zu groß, um die Ausfälle mithilfe von Generatoren zu kompensieren. Aber jede Herausforderung macht uns kreativer. Vielleicht wird es in einer unserer nächsten Ausstellungen um Kunst im Dunkeln gehen.

Das erste praktische Problem, als Russland im Jahr 2022 seine groß angelegte Invasion begann, war die Rettung und Evakuierung der Kunstwerke. Da wir bereits in den Monaten vor dem Krieg über die Bedrohungen nachgedacht hatten, konnten unsere Museumsspezialisten die Evakuierung sehr schnell durchführen.

Dies brachte jedoch eine weitere Herausforderung mit sich, mit der viele ukrainische Museen konfrontiert sind: Sie sind gezwungen, ihre Dauerausstellungen zu schließen. Das Mystetskyi Arsenal verfügt über eine umfangreiche Sammlung von Kunstwerken, historischen und archäologischen Objekten.

Die Tatsache, dass wir keinen unmittelbaren Zugriff mehr auf die berühmtesten Werke der Sammlung hatten, wirkte sich darauf aus, wie wir Sonderausstellungen gestalten konnten. Wir lösten dieses Problem, indem wir uns auf die Werke konzentrierten, die sich noch im Gebäude befanden.

„Einige unserer Kolleginnen und Kollegen überlebten nur knapp, sie entkamen aus Bucha und Dörfern, wo die Russen Gräueltaten verübten“

Wir haben unseren Schwerpunkt auf die zeitgenössische Kunst gelegt und begonnen, künstlerische Reflexionen über den Krieg von seinem Beginn im Jahr 2014 bis zur aktuellen russischen Invasion zu dokumentieren. Unser Labor für zeitgenössische Kunst hat das Online-Kunstarchiv „Ukraine Ablaze“ eingerichtet und entwickelt es ständig weiter.

Wie war Ihr Team vom Krieg betroffen?

Das Leben aller war gefährdet, und wir waren ständig in Sorge umeinander. Einige unserer Kolleginnen und Kollegen überlebten nur knapp, sie entkamen aus Bucha und Dörfern in der Region Kiew, den Orten, an denen die Russen im März und April ihre Gräueltaten verübten, die die Welt schockierten.

In den ersten Monaten zogen einige unserer Kollegen, meist Frauen mit Kindern, von Kiew in die Westukraine oder ins Ausland. Einige kehrten später zurück, aber einige unserer Spezialisten kamen nicht wieder, und wir mussten unser Team neu aufbauen. Außerdem kann jeder Mann, der in unserem Team arbeitet, jederzeit einberufen werden, was uns nach wie vor große Sorgen bereitet.

In den ersten Monaten hielten wir es auch für wichtig, Künstlern zu helfen, und so schlossen wir uns mit der NGO „Museum für zeitgenössische Kunst“ zusammen und starteten das Projekt „Ukrainian Emergency Art Fund“, das Hunderten von Künstlerinnen und Künstlern und freiberuflichen Kulturschaffenden kleine Beihilfen gewährte, ohne die sie kaum überleben könnten.

„Es ist schwer, denjenigen, die nicht täglich mit dem Krieg konfrontiert sind, zu erklären, warum Menschen trotz unsicherer Verhältnisse Kunst brauchen“

Wird die Ausstellung noch besucht?

Unsere aktuelle Ausstellung zeitgenössischer Kunst wird von bis zu 500 Besuchern pro Woche besucht. Das ist viermal weniger als die Besucherzahlen im Mystetskyi Arsenal vor dem Krieg, aber eine ermutigende Zahl für eine Stadt, die regelmäßig bombardiert wird. 

Neben dem großen Galerieraum haben wir auch einen kleinen - die Mala-Galerie, die die Basis für unser Labor für zeitgenössische Kunst ist. Dort veranstalten wir jeden Monat experimentelle Projekte und Ausstellungen junger Künstler, veranstalten ihre Treffen und Gespräche, die von etwa 300 Menschen pro Woche besucht werden.

Es ist schwer, denjenigen, die nicht täglich mit dem Krieg konfrontiert sind, zu erklären, warum Menschen trotz unsicherer Verhältnisse Kunst brauchen. Ich denke, sie hilft, ein verlorenes Gefühl von Frieden und Sicherheit wiederherzustellen.

Im Mai 2022, als die Bombardierungen nachließen, baten wir das Publikum, seine Erfahrungen mit dem Krieg im Dialog mit klassischen Kunstwerken zu teilen. Nachdem sie die schweren Angriffe überlebt hatten und zwei Monate lang in Schutzräumen und zu Hause festsaßen, hatten die Menschen ein großes Bedürfnis zu reden. Der Titel der Ausstellung, die von der Leiterin unserer Museumsabteilung Olga Melnyk kuratiert wurde, war einfach und direkt: „Die Ausstellung über unsere Gefühle“.