Soziale Krise | Haiti

Der Preis des Überlebens

Seit Jahren rutscht Haiti von einer Krise in die nächste. Schuld daran ist eine internationale Gemeinschaft, die wegschaut – und ein Staat, dem sein Volk schon lange egal ist

Die Illustration zeigt eine junge Frau mit Kind auf dem Arm.

Wie überlebt man als arme, alleinerziehende Mutter in Port-au-Prince

Haiti, diese Republik, die sich die Insel Hispaniola mit der Dominikanischen Republik teilt, mitten im Karibischen Meer. Haiti, eines der ärmsten Länder der Welt, nur einige Hundert Kilometer vom schillernden Miami entfernt. Haiti, ein Land, das sich auch zwölf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 noch immer nicht von den Folgen der Naturkatastrophe erholt hat. Aber eben auch Haiti, ein Land mit einer faszinierenden Geschichte: Hier feierten die Menschen 1791 den letzten siegreichen Kampf gegen die Sklaverei.

Es war der einzige Sklavenaufstand, der zur Abschaffung des Menschenhandels in einem Land führen sollte. Dabei erkämpfte sich der kleine Karibikstaat 1803 auch seine Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich: In diesem Jahr erlitt Napoleon Bonaparte dort in der Schlacht von Vertières im Norden der Insel seine erste größere militärische Niederlage.

Doch diese großen Momente Haitis liegen im Jahr 2022 schon lange zurück – und die Bürgerinnen und Bürger sind heute in ganz andere Kämpfe verwickelt: Statt mit den ehemaligen Kolonialmächten ringen sie nun mit ihrem eigenen verkommenen Staatsapparat und sind dabei meist auf sich allein gestellt. Immer wieder wird das Land von politischer Instabilität, Korruption und schlechter Regierungsführung zerrüttet.

Und so demonstrierten auch in der Woche vom 7. Februar 2022 zahlreiche prekär Beschäftigte für die Anhebung des Mindestlohns auf 1.500 Gourdes, umgerechnet rund 13 Euro pro Tag. Bis die Kundgebung von der haitianischen Polizei brutal niedergeschlagen wurde, einer Behörde, der Verbindungen zu kriminellen Banden nachgesagt werden und in deren Präsenz an diesem Tag zwei schwangere Arbeiterinnen ihr Leben verloren.

Wer in Haiti überleben möchte, der zahlt heute einen Preis – und wie man diesen Preis beziffern kann, das lässt sich am besten anhand von Cristies Geschichte schildern. Ich selbst lernte Cristie in der Hauptstadt Port-au-Prince kennen, wo sie mir aus ihrem Leben erzählte. Cristie heißt eigentlich anders, doch aus Gründen der Diskretion soll ihr echter Name hier nicht genannt werden.

„In einem Land, in dem der Arbeitslohn pro Tag weniger als fünf Euro einbringt, lernt man, mit dem auszukommen, was man hat“

Cristies Geschichte beginnt in der haitianischen Provinz, wo sie in eine arme Familie hineingeboren wurde. Um nach der Grundschule eine weiterführende Schule zu besuchen, zog sie nach Port-au-Prince, wo sie bei einer Tante unterkam, die sich in einem von Banden kontrollierten Armenviertel als Gemüsehändlerin durchschlug.

Von ihrer Tante bekam Cristie nur das Allernötigste zum Überleben, doch dem jungen Mädchen reichte das. In einem Land, in dem der Arbeitslohn für einen vollen Arbeitstag derzeit weniger als fünf Euro einbringt, lernt man, mit dem auszukommen, was man hat – auch wenn für das Überleben ab und zu die Moral hintangestellt werden muss.

In Port-au-Prince träumte Cristie zunächst davon, Krankenschwester zu werden. Doch an der einzigen staatlichen und damit kostenlosen Hochschule war die Konkurrenz groß und sie bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Weder in der Grundschule in ihrem Heimatdorf noch in Port-au-Prince waren Cristie die nötigen Kenntnisse vermittelt worden, um den Test zu bestehen. Und für eine andere, weniger lupenreine Art der Aufnahme an die Hochschule fehlte es ihr an Geld und Kontakten.

Nach der Absage der Hochschule versuchte Cristie ihr Glück deshalb an einer der vielen zweifelhaften privaten Pflegeschulen, die den Schülerinnen am Ende ihrer Ausbildung ein fadenscheiniges Krankenpflegediplom ausstellen. Dabei handelt es sich zwar um zugelassene Schulen. Kaum eine Behörde überprüft jedoch, ob die dort angebotenen Kurse und Lehrgänge auch den nationalen Standards entsprechen.

Ein Problem, das nicht nur den Pflegesektor betrifft, sondern alle Bereiche der öffentlichen Versorgung in Haiti. Für ihre Ausbildung zahlte Cristie 10.000 Gourdes Einschreibegebühren und 15.000 Gourdes Studiengebühren pro Jahr. Das sind umgerechnet mehr als 200 Euro. Für ein mittelloses Mädchen aus einer armen Familie eine gewaltige Summe.

„Cristie schwante, dass man als Frau in Haiti entweder unerhörtes Glück oder die richtigen Beziehungen braucht, um Erfolg zu haben“

Ganz abgesehen von den Kosten für Kleidung (in den Pflegeschulen besteht meist die Pflicht zum Tragen einer Uniform), Essen und Anreise. Cristie schwante, dass man als Frau in Haiti entweder unerhörtes Glück haben muss, um Erfolg zu haben, oder die richtigen Beziehungen braucht. Und sie hatte weder das eine noch das andere. Darum tat Cristie das, was viele junge Frauen in Haiti tun: Sie lernte ein, zwei Männer kennen und verkaufte ihren Körper, um ihre monatlichen Ausgaben zu decken.

So schlug sie sich eine Zeit lang mehr schlecht als recht durch. Doch ein Jahr vor dem Ende ihrer Ausbildung passierte das, wovor sie sich in all den Jahren zuvor gefürchtet hatte: Sie wurde schwanger. Da Cristie nicht wusste, von welchem ihrer Freier das Kind war, und sie kein Geld für einen professionellen Schwangerschaftsabbruch hatte, vergingen die Tage, Wochen und Monate, ohne dass sie jemanden einweihte.

Und dann, als sie ihren Zustand nicht mehr verbergen konnte, setzte ihre Tante – eine glühende Anhängerin einer protestantischen Sekte – sie vor die Tür. Cristie wandte sich an ihre Eltern. Doch auch diese gaben ihr zu verstehen, dass sie sich nun selbst helfen müsse, da sie gesündigt habe. Die Tochter, an die sie einst all ihre Hoffnung geknüpft hätten, existiere nun nicht mehr.

Schließlich war es einer der Männer aus Port-au-Prince, vielleicht der Vater des ungeborenen Kindes, der Cristie etwas Geld hab. Gerade genug, um davon ein „yon pyès kay“ anzumieten, ein kleines Zimmer ohne Fenster, Wasser, Toi-lette und Strom. Ein winziger Raum mitten in einem großen Wohnhaus, in dem sich alle Bewohner WC und Dusche teilen und in dem oft nicht einmal Wasser aus den maroden Leitungen kommt – es sei denn die staatlichen Wasserwerke sind so gütig, die Versorgung für zwei bis drei Stunden pro Woche zu übernehmen. Außerhalb dieser Zeiten bleibt den Anwohnern nichts anderes übrig, als teures Trinkwasser in Flaschen zu kaufen.

„Ein neues Leben in diese Stadt zu bringen, in der alles gegen das Leben sprach, schien unvorstellbar“

Ein paar Tage lang kauerte Cristie niedergeschlagen in ihrem „pyès kay“ und verließ es nur, um sich etwas zu essen zu kaufen: ein paar gebratene Bananen und etwas Hühnchen- oder Schweinefleisch, wie es in Haiti von vielen Verkäuferinnen direkt auf dem Bürgersteig angeboten wird. Mit der Hand hielt sie sich den Bauch, und nichts bereitete ihr mehr Kummer, als die ersten Lebenszeichen des Kindes in sich zu spüren.

Ein neues Leben in diese Stadt zu bringen, in der alles gegen das Leben sprach, schien unvorstellbar. Doch langsam begann sie, dieses neue Leben zu lieben – und sie wusste, dass es dem Untergang geweiht war, wenn sie, seine einzige Behüterin, nicht alles dafür tat, um es zu beschützen. Also beschloss Cristie für ihr ungeborenes Kind zu kämpfen – und ihren Traum, Krankenschwester zu werden, zumindest für eine Weile zu vergessen.

Abgesehen von dem Gynäkologen, durch den sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, hatte Cristie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Arzt aufgesucht. In einem Land mit völlig unzureichender Gesundheitsversorgung, in dem der Luxus einer Krankenversicherung einer kleinen Minderheit vorbehalten ist und in dem ein Arztbesuch mindestens 1.500 Gourdes kostet, wenn man nicht stundenlang Schlange vor dem staatlichen Krankenhaus stehen will, ist das keine Seltenheit.

Und trotz all dieser Hürden hat Cristie heute, im Jahr 2022, eine großartige dreijährige kleine Tochter. Cristie erholt sich gerade von dem, was man in Port-au-Prince ein „schlimmes Fieber“ nennt und das sie zwei Tage ans Bett gefesselt hat. Von Corona will hier niemand sprechen. „Was sind heute die größten Schwierigkeiten, mit denen du in Port-au-Prince zu kämpfen hast?“, frage ich Cristie, und sie beginnt zu erzählen: „Ich will gar nicht von all den verächtlichen Blicken sprechen, die ich ertragen muss, weil ich ein Kind bekommen habe, ohne verheiratet zu sein – ohne einen ›Boss‹ in meinem Leben zu haben, wie man bei uns sagt. Ich will auch nicht davon sprechen, wie meine Familie sich von mir abgewendet hat. Denn als mein Kind geboren war, haben meine Eltern sich plötzlich wieder daran erinnert, dass wir vom selben Blut abstammen.

„Gerade die ersten Schuljahre bereiten der Mutter Kopfzerbrechen. Denn eine Krippe kommt nur für die Oberschicht infrage“

Das Schlimmste ist eher, dass ich mich unendlich allein gelassen fühle. Nicht einmal vom Vater des Kindes kann ich eine finanzielle Unterstützung einfordern, und die medizinische Versorgung in den wenigen staatlichen Krankenhäusern ist miserabel. Die Untersuchungen sind zwar kostenlos, aber teure Medikamente muss man in der Apotheke selbst kaufen – und ich kann es mir nicht erlauben, mit meiner Tochter in eine Privatklinik zu gehen. Darum bete ich jeden Tag, dass sie nicht krank wird. Der andere Albtraum ist, dass ich mein Kind womöglich irgendwann nicht mehr ernähren kann.

Derzeit arbeite ich für einen Hungerlohn als Kassiererin in einer Apotheke, wo ich knapp 5.000 Gourdes im Monat verdiene. Es ist eine ständige Zerreißprobe, mit so wenig Geld zwei hungrige Mäuler zu stopfen – und die Regierung hat kein einziges Programm aufgesetzt, um Kindern und alleinerziehenden Müttern zu helfen.“ Auch die ersten Schuljahre bereiten Cristie großes Kopfzerbrechen, denn die Unterbringung in einer Krippe kommt nur für die Oberschicht infrage – und sobald ein Kind drei Jahre alt ist, zahlt man zwischen 15.000 und 30.000 Gourdes für die Betreuung.

Wie es jetzt mit Cristie weitergeht? Wie bei vielen jungen, alleinerziehenden Müttern auf Haiti gibt es auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort. Ihr Alltag und ihre Sorgen sind ein Spiegelbild der katastrophalen wirtschaftlichen Lage, in der sich die Menschen hier befinden. Manchmal sind es die Überweisungen eines Verwandten oder Bekannten aus dem Ausland, die es ihnen ermöglichen, sich noch etwas länger über Wasser zu halten, und manchmal bleibt jede Hilfe aus in diesem Land, das auch die internationale Gemeinschaft längst vergessen zu haben scheint.

Aus dem Französischen von Luisa Maria Schulz