Alltag | China

Chinas Jugend macht Schluss

Leistungsdruck und lange Arbeitszeiten gehören in China zum Alltag. Doch viele junge Menschen verweigern sich und propagieren das in den sozialen Medien. Fotograf Ziyi Le porträtiert eine Generation, die sich nicht mehr kaputt arbeiten will
Ein junger Mann liegt auf einem Holzboden in einem Zimmer. Ein Bein ist angewinkelt, das andere ausgestreckt. Ein arm stützt seinen Kopf, der andere ist ausgestreckt. An seinem Fußende steht eine Vase mit Blumen.

Der Fotograf Ziyi Le, geboren 1993, fand in seiner preisgekrönten Serie „Newcomer“ einen Ausdruck für das derzeitige Lebensgefühl vieler junger Chinesinnen und Chinesen: Zukunftsangst, Orientierungslosigkeit, Langeweile. 2020 zog Le in die Zehn-Millionen-Metropole Hangzhou, um dort beruflich und privat einen Neuanfang zu wagen.

Statt Euphorie empfand er bald „geistige Leere und Entfremdung“. Über Weibo suchte Ziyi Le nach Protagonist:innen für eine Porträtserie. Das Ergebnis ist eine intime Fotostrecke, die einen seltenen Blick in die emotionale Sphäre der chinesischen Gesellschaft erlaubt. Unser Bericht ist von diesen Fotos inspiriert.

Jun hat gerade seinen Job in einer Fabrik gekündigt, in der er die letzten Monate gearbeitet hat. Jetzt, da er etwas Geld angespart hat, wird er eine Auszeit nehmen, seine Tage mit dem Zocken von Videospielen und in den sozialen Medien verbringen und das Haus, das er sich mit seiner Großmutter teilt, für geraume Zeit nicht mehr verlassen.

Jun ist 32 Jahre alt, seine Eltern wollen, dass er sich eine Freundin sucht und heiratet. Doch er hat ihnen gesagt, dass er allein alt werden möchte. Er bezeichnet sich als „Sang“, ein Schlagwort, mit dem in China Millennials beschrieben werden, die keine Lust mehr auf den permanenten Leistungsdruck des modernen chinesischen Arbeitslebens haben.

„Sang“ ist die Pinyin-Umschrift des Schriftzeichens 丧, das von „Jusang“ (沮丧) abstammt und so viel wie „deprimiert“ bedeutet. Es ist der jüngste Begriff, der für eine Einstellung steht, die sich bei vielen chinesischen Jugendlichen beobachten lässt: die des Aufgebens. Vor „Sang“ sagte man „Tang Ping“, „Flachliegen“; das begann als Internettrend im Jahr 2021: Menschen in ihren Zwanzigern posteten Fotos, auf denen sie oftmals auf dem Sofa, dem Bett oder dem Boden herumlagen.

In den Kommentaren las man Plädoyers dafür, so wenig wie möglich zu tun. Das „Flachliegen“ symbolisiert die Sehnsucht nach einem einfachen Lebensstil, wobei insbesondere traditionelle chinesische Normen abgelehnt werden, mit denen man unerbittlichen Ehrgeiz bis zur völligen Überarbeitung in Verbindung bringt. „Tang Ping“ bedeutet, einen Rest von Würde zu bewahren und sich nicht mehr dem Druck auszusetzen, der oft von der Familie und der Lohnarbeit herrührt.

„Das Leben ist zu hart, ich habe ein anderes verdient“

Ein Ausdruck dieses Trends war, dass in chinesischen Onlineforen über das Thema der psychischen Gesundheit diskutiert wurde. Überwiegend junge Menschen zogen sich aus dem Arbeitsleben zurück, um sich, wie sie erklärten, um sich selbst zu kümmern. Sie widmeten sich ihren Hobbys, machten eine Therapie oder übten sich in Achtsamkeit.

Viele verfielen offenbar aber auch in existenzielle Verzweiflung: „Zuerst dachte ich, dass die Position des Flachliegens jene ist, in der man vergewaltigt wird“, schrieb eine junge Frau namens „Hongbin“ in einem Forum. „Später“, fuhr sie fort, „wurde mir klar, dass das Flachliegen die Position ist, in der man kauert, nachdem man bereits vergewaltigt worden ist. Danach sagen sie dir: Akzeptiere dein Schicksal – aber flach­liegen ist nicht erlaubt.“

In Online-Communitys sind solche Botschaften keine Seltenheit. „Es tut mir leid, dass ich in diese Welt hineingeboren wurde“, lautet ein oft wiederholtes Motto. Ein anderes: „Das Leben ist zu hart; ich habe ein anderes verdient.“ Soziale Medien wie WeChat, Weibo und Douyin (die in China erhältliche Version von TikTok) haben entscheidend zur Verbreitung dieser Gedanken beigetragen. Da auch bekannte User und Content-Producer „Sang“- und „Tang Ping“-Momente mit ihren Fans teilen, entwickeln sich entsprechende Gemeinschaften.

„Wenn wir uns einfach hinlegen, können wir uns verschwenden“

Die Grundlagen für „Sang“ und „Tang Ping“ wurden schon in den 1990er- und 2000er-Jahren gelegt, als in China eine Ära des kulturellen und sozialen Liberalismus anzubrechen schien. In diesen Dekaden wuchs vor allem in der chinesischen Mittelschicht die Hoffnung, ein Leben mit mehr persönlichen Freiheiten füh­ren zu können. Die damals geweckten Hoffnungen wurden enttäuscht, als es in den 2010er-Jahren zu einer wirtschaftlichen Entschleunigung kam.

Und der Shutdown während der Covid-Pandemie ließ viele endgültig fatalistisch werden. Wohnungen und gut bezahlte Arbeitsplätze sind mittlerweile immer schwerer zu finden und der Druck, bei der Gaokao (高考), der landesweit einheitlichen Aufnahmeprüfung für Hochschulen, gut abzuschneiden, war noch nie so extrem. „Die Absurdität ist zur Norm geworden“, schreibt ein gewisser Zhang Huaiqing in einer WeChat-Gruppe.

Mann lehnt auf einer Balkonmauer. Seine Arme sind übereinandergeschränkt. Sein Kopf liegt auf seinen Armen und er schaut runter.

„Und niemand spricht die Wahrheit aus. Wenn wir uns einfach hinlegen, können wir uns verschwenden.“ Zugleich hat der chinesische Präsident Xi Jinping in den vergangenen zehn Jahren seine Macht ausgebaut und immer drakonischere Vorschriften dazu erlassen, was Chinesen sagen und tun dürfen und was nicht.

Verweise auf „Tang Ping“ wurden im Internet von speziell dafür programmierten KI-Bots entfernt. Dies ist Teil von Xis Forderung nach „positiver Energie“: Alles, was über China geäußert wird, soll zuversichtlich und zukunftsorientiert klingen. Fast alles, was nicht dieser Vorgabe und der strengen politischen Linie entspricht, wird vonseiten des Staates sanktioniert und unterdrückt.

In diesem Klima ist eine weitere drastische Parole entstanden: „Bailan“, „lass es verrotten“. Sie beschreibt die Haltung, im Arbeitsleben wie auch im Alltag nur den geringstmöglichen Aufwand zu betreiben oder sich gleich aus einem Wettbewerb um Jobs und sozialen Aufstieg zu verabschieden. Diese Einstellung wurde im Internet populär, nachdem sich eine landesweite Kontroverse über die „996“-Kultur entzündete und viele fragten, ob man wirklich sechs Tage die Woche von neun Uhr morgens bis 21 Uhr abends arbeiten soll.

Offiziell versucht die Regierung, etwas Druck von den Arbeiterinnen und Arbeitern zu nehmen. In weiten Teilen des Landes hat die „996“-Regel jedoch weiter Bestand, mit all den erwartbaren Konsequenzen, die das für die körperliche und seelische Gesundheit hat.

In dieser Situation betonen viele Chinesinnen und Chinesen mit „Bailan“ auf (selbst)ironische Weise, dass sie nicht mithalten können oder wollen. Sprüche wie „andere sind hier, um zu glänzen und Großes zu erreichen, ich laufe nur mit“ sind im Netz weit verbreitet.

In der Dokumentation „China’s Slacker Youths: Why They Went from „Lying Flat“ to „Let it Rot“ (2022) erklärt ein gewisser Wan Yandong: „In unserer Freizeit spielen wir gerne Basketball. Aber wenn ich und meine Teamkollegen den Eindruck bekommen, dass wir nicht gewinnen werden, geben wir einfach auf. So fühle ich mich: Es ist egal, ob wir verlieren oder gewinnen. Es ist egal.“

Bei den erwähnten Verweigerungshaltungen lassen sich durchaus unterschiedliche Grundtendenzen erkennen. „Tang Pin“ und „Bailan“ kann man noch als Rebellion gegen den Druck interpretieren, der in der chinesischen Gesellschaft besteht; die Memes und Sprüche sind oftmals komisch und ironisch. Demgegenüber sagen diejenigen, die sich als „Sang“ („deprimiert“) verstehen, dass es ihnen völlig egal ist, was andere Leute denken.

In Onlinediskussionen feiern sie sich selbst als die „letzte Generation“, als die Letzten ihrer Familie, ohne Nachkommen oder Nachlass. Das ist ein unglaublicher Schock für viele Eltern, die sich stets darauf verlassen haben, dass ihre Kinder im Alter für sie sorgen. Die Rente in China ist minimal, alte Menschen sind auf ihre Kinder angewiesen, daran hat sich seit vielen Generationen nichts geändert.

So modern China auch erscheinen mag, seine Bevölkerung hat ihre traditionellen bäuerlichen und konfuzianischen Wertesysteme tief verinnerlicht. Hart zu arbeiten, zu heiraten und Kinder zu haben, gilt als erstrebenswert, aber für viele Millennials und für Angehörige der Generation Y macht dieser Lebensstil keinen Sinn mehr.

So pessimistisch es auch klin­gen mag: Chinesen und Chinesinnen, die auf eigene Kinder verzichten, handeln rational. Im Rahmen der Ein-Kind-Politik, die noch bis 2015 durchgesetzt wurde, sind Zehn-, wenn nicht Hunderttausen­de Mädchen abgetrieben oder zur Adoption ins Ausland gegeben worden – weshalb heute etwa 34 Millionen mehr Männer als Frauen in China leben.

Traditionell hoffte man darauf, dass Jungen später eher ihre Familien ernähren könnten. Die Eltern von Mädchen erwarten außerdem eine Art Brautpreis, was den finanziellen Druck auf heiratswillige Männer weiter erhöht.

Mann steht mit Rücken zur Kamera, der Oberkörper ist nackt. Eine Frau umarmt ihn. Man sieht ihre Hände, sie legt ihren Kopf auf seine Schulter und schaut in die Kamera.

Doch auch Mädchen selbst sollen alles auf einmal hinkriegen: eine Berufsausbildung machen, heiraten und Kinder bekommen. In der Studie „Sang Subculture in Post-reform China“ aus dem Jahr 2020 erzählt eine junge Chinesin, die anonym bleiben will: „In der Schule haben meine Eltern es missbilligt, wenn ich mich mit Freunden verabredete. Jetzt, wo ich zu arbeiten begonnen habe, wollen sie, dass ich einen Partner finde und schwanger werde. Später werde ich sie pflegen müssen. Wann wird es je um mich gehen?“

Die hier angedeutete Problematik ist kein Einzelphänomen. Jemand wie der eingangs erwähnte Jun ist auch deshalb zum „Sang“ geworden, weil er zu den Millionen von jungen Leuten gehört, deren Eltern zum Arbeiten in eine der boomenden Städte migriert sind und ihre Kinder bei ihren Großeltern zurückgelassen haben.

„Andere sind hier, um zu glänzen, während ich nur mitlaufe“

Diese doppelte Entfremdung, zum einen die von den eigenen Eltern, zum anderen jene von der modernen Arbeitswelt, ist systemimmanent und betrifft unzählige junge Menschen. Umso mehr, als viele mit Blick auf ihre Elterngeneration erkennen müssen, dass deren ganzes Streben, ihre Mühen und ihr Fleiß ihnen wenig gebracht haben.

Noch heute arbeiten Juns Vater und Mutter sechs Tage die Woche in einer Fabrik in Guandong. Wer nicht zum besten einen Prozent eines akademischen Jahrgangs zählt oder in eine reiche Familie hineingeboren wurde, hat es unheimlich schwer, Karriere zu machen. Mit einfachen Fabrikjobs verdient man nie genug, um sich irgendwann einmal eine eigene Wohnung kaufen zu können.

Vielleicht ist es für Jun und sei­ne Altersgenossen nur logisch, dass sie irgend­wie über die Runden kommen wollen, anstatt sich Tag für Tag in einem dysfunktionalen System kaputtzuarbeiten. Denn wenn er sich an den Werten der „Sang-Kultur“ orientiert, sichert ihm das zumindest eine minimale Lebensqualität, die seine Eltern niemals hatten. Der chinesische Traum: Er scheint ausgeträumt.