Es gibt viele Geschichten zu erzählen
Das Interview führte Atifa Qazi
Dar’ya Averchenko, Sie sind Kommunikationsdirektorin des Docudays Filmfestivals. Wie hat sich der Krieg auf das Dokumentarfilmschaffen in der Ukraine ausgewirkt? Werden derzeit überhaupt Filme produziert?
Ja, in der Ukraine werden immer noch Dokumentarfilme gemacht, und trotz der Tragödie ist das Interesse an unserem Land groß. Die ukrainischen Produzenten haben inzwischen viel Erfahrung mit der Finanzierung durch ausländische Stiftungen.
Bei den Docudays schicken wir Delegationen ukrainischer Filmemacherinnen und Filmemacher zu Filmfestivals und anderen internationalen Veranstaltungen. Dort treffen sie Produzenten, Verleiher und Redakteure von Fernsehsendern wie ZDF, Arte oder Al Jazeera, um neue Möglichkeiten der Finanzierung, Koproduktion oder andere Partnerschaften zu schaffen. Bislang war dies erfolgreich.
Haben Sie jetzt mehr Erfolg als vor dem Krieg?
Während der „Revolution der Würde“ 2014 in Kiew gab es schon einmal großes Interesse an unserem Land, damals war das Dokumentarfilmschaffen auf seinem Höhepunkt. Nachdem es zwischenzeitlich abgeflaut war, besteht nun wieder mehr Interesse.
Sehr viele Filmemacher können einfach nicht zu Hause bleiben. Sie gehen an die Grenzen, machen Filme über Freiwillige und berichten über das Leben ganz normaler Menschen. Die gesamte Ukraine ist vom Krieg betroffen, und alle haben ihre eigene Geschichte zu erzählen.
„Wir wollen dokumentieren, was an den Grenzen und in den Städten passiert, aber auch wie es diejenigen ergeht, die aus dem Land geflohen sind“
Haben sich auch die Themen der Filme verändert?
Ja, der Fokus liegt jetzt klar auf dem Krieg. Deshalb haben wir das „Ukraine War Archive“ eingerichtet, eine Datenbank mit Video- und Audiomaterial, das die russische Invasion in der Ukraine dokumentiert.
Jeder kann Filme und Material einreichen, über das Leben während des Krieges, über Evakuierungen, die Versuche, sich gegen Bombenangriffe zu schützen, zivilen Widerstand, Kriegszerstörung, die Brutalität und die Verbrechen der russischen Armee.
Wir wollen Material sammeln und dokumentieren, was an den Grenzen und in den Städten passiert, aber auch wie es diejenigen ergeht, die aus dem Land geflohen sind.
Hat das Filmfestival seit Beginn des Krieges stattgefunden?
Normalerweise läuft das Docudays UA International Human Rights Documentary Film Festival in der letzten Märzwoche in Kiew. Wir hatten die 19. Ausgabe für März 2022 unter dem Motto „Brand New World“ geplant. Aber wir haben es verschoben, weil die Menschen inmitten des extremen Beschusses verzweifelt versuchten, ihre Familien und Freunde zu retten. In dieser Zeit war es einfach unmöglich, irgendetwas zu organisieren.
„Zwischen den Filmen haben wir Zeit gelassen, so dass sich die Leute im Fall eines Bombenalarms in Sicherheit bringen und dann zurückkehren konnten“
Aber im November 2022 haben wir im Kino Zhovten in Kiew eine Art Sonderausgabe für ein Wochenende unter dem Motto „State of Emergency“ ausgerichtet. Wir zeigten mehrere Filme, die für das Hauptprogramm der 19. Ausgabe vorgesehen waren, sowie neue Kriegsdokumentationen ukrainischer Filmemacher.
Die Veranstaltung war kleiner als sonst, und es gab weder internationale Gäste noch eine Jury oder einen Wettbewerb. Trotzdem sind viele Menschen gekommen.
Danach konnten wir unsere jährlichen „Traveling Docudays UA“, mit Vorführungen fast in der gesamten Ukraine abhalten. Wir hatten Vor-Ort-Veranstaltungen in der Region Charkiw, in Odessa, Saporischschja und Dnipro sowie Online-Screenings in den Regionen Cherson und Sumy.
Wir wissen nicht genau, von wo aus sich die Menschen eingewählt haben. Wir haben versucht, so viele wie möglich zu erreichen, und wir hatten überall großen Zuspruch. Leider konnten wir in diesem Jahr keine Vor-Ort-Veranstaltungen in den Städten an der Front durchführen.
Zum ersten Mal haben auch Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem Ausland an den „Travelling Docudays UA“ teilgenommen, insbesondere aus Deutschland, Israel, Norwegen und Polen. Insgesamt haben wir 251 Vorführungen und 82 Veranstaltungen, sowohl vor Ort als auch online, für die Einwohner von 81 Städten und Gemeinden organisiert.
Wie sind Sie mit praktischen Problemen wie Stromausfällen umgegangen?
An unserem Festivalwochenende im November haben wir das Programm in Slots aufgeteilt. Zwischen den Filmen haben wir Zeit gelassen, so dass sich die Leute im Fall eines Bombenalarms in Sicherheit bringen und dann zur Vorführung zurückkehren konnten. In dem Kino, in dem die Vorführungen stattfanden, gab es einen Schutzraum.
„Wir sollten der Welt mit Dokumentarfilmen schildern, was in der Ukraine geschieht. Das geht tiefer als Medienberichte“
Wir sind in den sozialen Netzwerken sehr aktiv und haben unseren Telegram-Kanal genutzt, um die Besucher zu informieren, falls etwas passiert. Die Stromausfälle sind wirklich schwierig, und für das Festival brauchten wir eine ständige Stromversorgung und WIFI-Verbindung. Wir haben daher für das Wochenende mit der Internetverbindung per Satellit von Starlink und mit Generatoren gearbeitet.
Was ist für 2023 geplant?
Wir sollten der Welt mithilfe von Dokumentarfilmen schildern, was in der Ukraine geschieht. Diese Art des Geschichtenerzählens geht viel tiefer als Medienberichte oder Kurzreportagen von Journalisten.
Wir sind sehr aktiv, und unser Plan für dieses Jahr ist ziemlich ehrgeizig, denn wir wollen zum internationalen Filmfestival Hot Docs in Kanada fahren, um bekannter zu werden. Wir werden auch beim CPH:DOX in Kopenhagen vertreten sein.
Wir haben die 20. Ausgabe unseres Docudays Festivals für den 2. bis 8. Juni 2023 angesetzt und planen für dieses Mal Open-Air-Vorführungen. Wir sind also nicht auf bestimmte Standorte mit Kinosälen angewiesen.
Wir brauchen eine Leinwand, einige Sitze und einen Generator, da wir nicht den Strom von der öffentlichen Versorgung abzweigen wollen. Ich hoffe, dass wir bei dieser Veranstaltung endlich unseren Sieg feiern können. Niemand weiß es, aber wir hoffen darauf.