Wo sich alte Feinde wieder treffen
In Belgien haben nicht nur viele Opfer, sondern auch einige Täter des ruandischen Völkermords von 1994 Zuflucht gefunden. An einen Neuanfang ist so kaum zu denken
Acht Uhr morgens. Es ist Stoßzeit in der Brüsseler U-Bahn. Die Menschen starren auf ihre Smartphones. Emmanuel* sitzt ganz hinten in der Ecke. Er meidet die Vierersitze aus Angst, „er“ könnte gegenüber Platz nehmen. Sie nehmen dieselbe Bahn zur Arbeit. Täglich ist es das gleiche Spiel: Die Bahn nähert sich „seiner“ Haltestelle. Emmanuel packt die Angst. Wird er wieder im gleichen Abteil sitzen? Heute hat Emmanuel kein Glück. „Er“ ist da, stellt sich neben die Tür. Emmanuel senkt den Blick, will ihn nicht ansehen, tut es doch.
Der andere hat ihn schon entdeckt. Er schaut Emmanuel in die Augen und führt den Zeigefinger unter seiner Kehle entlang. Die Geste bedeutet: Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Sprich: der Genozid an den Tutsi. Emmanuel hat überlebt, während Hutu-Extremisten seine gesamte Familie in Ruanda ermordet haben.
Etwa 13.000 Personen ruandischer Herkunft leben heute in Belgien. Die meisten von ihnen kamen nach dem Völkermord als Schutzsuchende. Zunächst waren es die ruandischen Eliten: ehemalige Minister und hohe Beamte unter Präsident Juvénal Habyarimana und wichtige Mitglieder seiner Partei, der Nationalen Republikanischen Bewegung für Demokratie und Entwicklung (MRND). „Die Drahtzieher des Genozids – Intellektuelle, Ärzte, Anwälte und Minister – hatten die nötigen Mittel und Kontakte, um sich nach Belgien abzusetzen.
„1995 flüchtete Yolande nach Belgien. Seitdem setzt sie sich dafür ein, dass der Tod ihrer Familie nicht vergessen, gar geleugnet wird“
"Die Überlebenden des Genozids kamen später“, erzählt Yolande Mukagasana. Die Schriftstellerin sitzt an einem großen Holztisch im Esszimmer einer kleinen Wohnung in Anderlecht, einer Gemeinde im Südwesten Brüssels. Ihre grauen Haare hat sie zu einem kurzen Afro geschnitten. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen. Auf ihrem Gesicht zeichnen sich Lachfalten ab. Dabei hat Yolande Schreckliches durchlebt. 1994 wurde ihre gesamte Familie ermordet. Ihre drei Kinder starben vor ihren Augen. Auch sie stand auf der Liste der Todesschwadronen. Doch sie entkam.
1995 flüchtete Yolande nach Belgien. Seitdem setzt sie sich dafür ein, dass der Tod ihrer Familie nicht vergessen, gar geleugnet wird. In ihren Büchern und Theaterstücken erzählt sie von den Massakern an den Tutsi, dem Mord an ihrer Familie. Die Geste, mit der Emmanuel in der U-Bahn täglich an den Völkermord erinnert wird, kennt auch sie. Immer wieder wird sie in der Öffentlichkeit bedroht. „Sie beschimpfen mich jeden Morgen und wollen mich fertigmachen. Doch ich lasse es nicht zu.“
Bevor sich viele der ehemaligen ruandischen Machthaber in den Kongo und später nach Europa absetzten, plünderten sie die ruandische Staatskasse. So verfügten sie über die nötigen Mittel, der Justiz zu entkommen. Auch in Belgien bekamen sie Unterstützung: Viele hochrangige Ruander haben dort studiert und sind mit Politikern und namhaften Persönlichkeiten aus dem Milieu der Christdemokraten befreundet. Eine besonders große Rolle spielte dabei damals die Christlich-Demokratische Internationale, eine Art Weltverband christdemokratischer Parteien.
„In Belgien fanden viele der mutmaßlichen Täter ein ganzes Netzwerk an Unterstützern vor“
Wie viele mutmaßliche Täter aus dem ruandischen Bürgerkrieg heute in Belgien leben, ist schwer zu sagen. Die meisten haben den Genozid nicht selbst ausgeführt, sondern ihn geplant und finanziert. Einige von ihnen wurden in Belgien gefasst. Zum Beispiel Fabien Neretse, ein ehemaliger hoher Beamter, den das belgische Schwurgericht 2019 wegen Völkermords zu insgesamt 25 Jahren Haft verurteilte.
Andere werden sich der Justiz nie stellen müssen, befürchtet Damien Vandermeersch, der als Staatsanwalt direkt nach dem Völkermord selbst Ermittlungen gegen die Kriegsverbrecher aufnahm, die sich in Belgien niederließen. Der 66-Jährige ist stolz auf seine Arbeit. Doch er ist auch Realist: „Einige Täter, darunter auch hochrangige Figuren, wird die Justiz nicht belangen können. Man muss die Täter mit konkreten Fakten, Orten und Massakern in Verbindung bringen. Das erschwert eine strafrechtliche Verfolgung.“
In Belgien fanden viele der mutmaßlichen Täter ein ganzes Netzwerk an Unterstützern vor. Zahlreiche Vereine halfen ihnen bei Behördengängen, der Wohnungs- und Arbeitssuche. Dazu zählen etwa die Fédération d’Espoir Afrique und die Association belgo-rwandaise pour la solidarité, fraternité, dignité, les droits et l’espoir des Rwandais.
Nicht zuletzt dank dieser Unterstützung sitzen in Belgien heute auch viele ehemalige Hutu-Extremisten, gegen die wegen ihrer Verwicklung in den Genozid ermittelt wird, in hochrangigen Positionen. Darunter auch Mitglieder des alten Regimes und Personen aus dem Umfeld des extremistischen Radiosenders Radio-Télévision Libre des Mille Collines, über den der Aufruf zum Völkermord in Ruanda einst verbreitet wurde.
„Ich habe Paul Kagame gehasst. Aber er hat mich wieder in die ruandische Gesellschaft integriert“
Untereinander pflegen die Vereine enge Beziehungen: Oft sind sie an derselben Adresse gemeldet und dieselben Leute sitzen in den Verwaltungsräten. Auf gemeinsamen Veranstaltungen verbreiten sie ein alternatives Narrativ zum Völkermord und bekommen dabei sogar finanzielle Unterstützung vom belgischen Staat, beispielsweise über den staatlichen Integrationsfonds FIPI. Viele von ihnen behaupten entweder, dass es keinen Genozid gab oder dass dieser gegen die Hutu und nicht gegen die Tutsi verübt wurde.
Jean* ist einer der ehemaligen ruandischen Beamten, die 1994 nach Brüssel kamen. Er war Agent des ruandischen Geheimdienstes und gehörte dem Kabinett Habyarimana an. In Belgien avancierte er zum Gesicht der ruandischen Exilgemeinschaft und nahm an vielen ihrer Veranstaltungen teil. Dort höre man immer die gleichen Argumente, sagt er, der Genozid würde kleingeredet. „Viele sagen, dass es keinen Völkermord gab oder dass der eigentliche Schuldige Paul Kagame sei, der heutige Präsident Ruandas.
Er habe den Völkermord provoziert, indem er 1994 das Flugzeug des damaligen Präsidenten Habyarimana abschießen ließ. Kagame steckt demnach auch hinter einem weiteren Genozid, dem an den Hutu im Kongo. Das alles dient dazu, die wahren Verantwortlichen reinzuwaschen. Denn zu akzeptieren, dass es einen Völkermord gab und man an ihm beteiligt war, bedeutet auch zu akzeptieren, nie wieder in der Politik mitzumischen. Die ehemaligen Extremisten sind dazu nicht bereit.“
„Über Ruanda zu recherchieren, ist ein bisschen, wie auf Eiern zu laufen. Man wird immer in ein Lager gesteckt“
Jean hielt selbst lange an diesem Narrativ fest. Doch heute wirbt er für Kagames Ruanda und reist oft nach Kigali. „Ich habe Paul Kagame gehasst. Aber er hat mich wieder in die ruandische Gesellschaft integriert“, sagt er. Weil er die Seiten gewechselt hat, wird Jean von seinen ehemaligen Freunden bedroht. Er fühlt sich allein und bedrängt. „Die Gemeinschaft der Opfer von 1994 misstraut mir und auch die Hutu-Gemeinschaft beleidigt mich“.
Roland Moerland beschäftigt sich intensiv mit dem ruandischen Völkermord. Als Kriminologe an der Universität Maastricht kennt er die Hürden der Aufarbeitung. „Über Ruanda zu recherchieren, ist ein bisschen, wie auf Eiern zu laufen. Man wird immer in ein Lager gesteckt. Wenn man die Verbrechen der derzeit regierenden Ruandischen Patriotischen Front (FPR) von Paul Kagame erwähnt, dann gilt man manchen als Leugner des Völkermordes. Verurteilt man den Genozid, dann gilt man anderen wiederum als Marionette Paul Kagames.“
Der Völkermord werde zudem selten explizit abgestritten, sondern eher auf subtile Art infrage gestellt, etwa indem man von einem doppelten Völkermord spricht. „Man muss die ruandische Geschichte sehr gut kennen, um diese Formen der Leugnung zu durchschauen.“
„In Belgien sind die Spuren des Völkermords bis heute sichtbar und die ruandische Diaspora bleibt dort in den Mustern der 1990er-Jahre gefangen“
Die Überlebenden von 1994 müssen oft von den Massakern an ihren Familien erzählen, um gegen die Leugnung des Genozids anzukämpfen. „Meine Kinder wurden vor meinen Augen gefoltert. Meine ganze Familie ist tot. Ich sterbe lieber, als die Leugnung des Mords meiner Kinder hinzunehmen“, sagt etwa Yolande Mukagasana.
In Belgien sind die Spuren des Völkermords bis heute sichtbar und die ruandische Diaspora bleibt dort in den Mustern der 1990er-Jahre gefangen. Zwei Lager stehen sich gegenüber und ihre Interpretationen der Ereignisse von 1994 lassen sich nicht vereinen. Dabei sind die Trennlinien längst nicht so scharf, wie man denken würde.
Zwar setzt auch die Regierung in Kigali derzeit alles daran, eine eindimensionale Version der Geschichte zu propagieren, die sich auf klar definierte Opfer- und Tätergruppen stützt: Die Hutu haben die Tutsi getötet. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei Weitem nicht alle Hutu in den Genozid verwickelt waren. Viele von ihnen wurden sogar selbst getötet, weil sie keine Tutsi umbringen wollten.
„Nur weil er Hutu ist, hielt sich mein elfjähriger Neffe für einen Mörder“
Darunter, dass Hutu im kollektiven Gedächtnis oft mit „Tätern“ gleichgesetzt werden, leiden besonders jüngere Generationen, die 1994 noch Kinder waren. Ihre Erlebnisse passen selten zu Kagames Darstellung des Völkermordes, erzählt Richard Benda. Der Theologe am Luther King Centre in London hat mit Kindern von Tätern gearbeitet. „Viele von ihnen dachten, dass der Genozid 1997 begann. Damals griff das neue Regime in Ruanda Flüchtlingscamps im Kongo an, in denen sich Völkermörder versteckt hielten. Erst da erlebten diese Kinder Leid und Gewalt. Sie verloren ihre Eltern; ihre Verwandten wurden teils von Anhängern der RPF getötet.
Gleichzeitig kontrollierten die ehemaligen Hutu-Extremisten und am Genozid beteiligte Milizen die Camps. Angst und Gewalt bestimmten den Alltag der Geflüchteten. Ihre Erlebnisse passen nicht zu der offiziellen Geschichte des Genozids.“ Benda erzählt von seinem Neffen, der in Dänemark zur Schule geht.
Als seine Klasse im Geschichtsunterricht über den Völkermord sprach, fragten ihn seine Mitschüler, ob er Hutu oder Tutsi sei, ob er also zu den Mördern oder den Opfern gehöre. „Mein Neffe spricht kein Wort Kinyarwanda. Er weiß nichts über Ruanda. Abends fragte er seinen Vater dann: ›Papa, haben wir 1994 Menschen getötet?‹ Nur weil er Hutu ist, hielt sich mein elfjähriger Neffe für einen Mörder.“
Heute stellt in Belgien besonders die jüngere Generation die Geschichte des ruandischen Völkermords infrage. Auch sie organisiert sich in Vereinen. Der bekannteste ist „Jambo“. In ihm haben sich einige Kinder ehemaliger ruandischer Eliten zusammengeschlossen, die nach dem Völkermord nach Belgien flüchteten. Manche der Eltern wurden vom internationalen Strafgerichtshof oder von den traditionellen ruandischen Gacaca-Gerichten für ihre Rolle im Völkermord verurteilt.
„Die ruandische Diaspora ist derweil dermaßen gespalten, dass es fast unmöglich ist, das Leid des anderen anzuerkennen“
Der Verein Jambo ist eingebettet in ein Netzwerk aus Sympathisanten ehemaliger ruandischer Machthaber. Genau wie sie verbreitet auch Jambo ein verzerrtes Narrativ zum Völkermord, insbesondere die Idee eines Quidproquo, bei dem sich der Genozid an den Tutsi und die Verbrechen der RPF sozusagen gegenseitig aufheben.
„Vereine wie Jambo versuchen, die Geschichte umzuschreiben“, warnt die Kulturwissenschaftlerin Catherine Gilbert, die an der Universität Newcastle zum Gedenken an den Völkermord forscht. „Die jüngeren Generationen haben keine direkten Erinnerungen an den Genozid. Sie übernehmen eine Darstellung der Ereignisse, die nicht mit dem übereinstimmt, was 1994 geschah. Diese verzerrte Version der Geschichte wird oft auch bewusst von ihren Eltern gepflegt und an sie weitergegeben.“
Die ruandische Diaspora ist derweil dermaßen gespalten, dass es fast unmöglich ist, das Leid des anderen anzuerkennen. „Es ist alles sehr emotional und vieles vermischt sich: Geschichte, Politik und die Gefühle der Einzelnen“, sagt Felix*. Der Belgier ruandischer Herkunft ist einer der jungen Leute, deren Erfahrungen sich nicht mit der offiziellen Geschichte des Genozids decken.
„Ich würde den Mitgliedern gerne schreiben, sie daran erinnern, dass auch sie Ruander und Ruanderinnen“
Sein Vater war ein hochrangiger Militär und wurde von der RPF ermordet. Einer seiner Verwandten ist Mitglied bei Jambo. Obwohl er dessen Engagement bei der Vereinigung nicht gutheißt, versteht er, warum man sich ihr anschließt. „Stellen Sie sich vor, Ihr Vater steht wegen Völkermords vor Gericht oder wartet auf seinen Prozess. Man hat nichts anderes im Kopf und ist ständig auf der Suche nach einer ‚Lösung‘ oder nach ‚Gerechtigkeit‘. Zwischen jemandem, der sagt, ‚Deine Eltern waren Extremisten‘, und ‚So ist es nicht passiert‘, hat man schnell seine Wahl getroffen.“
Für die Opfer von 1994 ist das schwer zu ertragen. „Wenn ich sehe, was Jambo tut, kommen mir die Tränen“, sagt Yolande Mukagasana. „Ich würde den Mitgliedern gerne schreiben, sie daran erinnern, dass auch sie Ruander und Ruanderinnen sind und dass ich es ihnen nicht übelnehme, dass ihre Eltern oder Großeltern eine Anti-Tutsi-Ideologie verbreitet haben. Ich verurteile niemanden. Ich verurteile nur den Völkermord, der uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind: gespalten.“
Dieser Text von Charlotte Wirth beruht auf den Recherchen für einen Artikel, der Ende 2022 in dem belgischen Magazin „Médor“ erschien