Bleibt der Frieden ein ewiger Traum?
Zum ersten Mal, seit Kolumbien vor 200 Jahren eine Republik wurde, ist mit Gustavo Petro im Juni 2022 ein linker Kandidat zum Präsidenten gewählt worden. Schon kurz nach seinem Amtsantritt leitete dieser einen Friedensprozess ein, den man in den Reihen seines Wahlbündnisses Pacto Histórico auch als „La paz total“ , den „totalen Frieden“ bezeichnet. Im Zuge dieses Plans will die Regierung sowohl ernsthaft mit Guerillagruppen als auch mit Drogenkartellen verhandeln und einen Waffenstillstand garantieren. In den Ohren vieler Wähler und auch in meinen Ohren hörte sich das zunächst vielversprechend an.
Kein Wunder also, dass sich in Kolumbien bereits kurz nach Petros Amtsantritt Optimismus breitmachte. Meine Freundin Doris Suárez, ein ehemaliges Mitglied der inzwischen aufgelösten Guerillagruppe FARC, sagte damals zum Beispiel in bester Laune: „Jetzt ist es an der Zeit, alles dafür zu tun, dass das Friedensabkommen umgesetzt wird.“
Aber fangen wir von vorn an: Es ist weithin bekannt, dass die Geschichte Kolumbiens seit sieben Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt ist, die oft in Verbindung mit Drogenkriminalität steht. Zwar gab es in den vergangenen Jahren viele Versuche, Frieden zu schaffen – aber auch ebenso viele Rückschläge. 2016 unterzeichnete der damalige Präsident Juan Manuel Santos ein Friedensabkommen mit der FARC, der ältesten Guerillagruppe Lateinamerikas.
Zwei Jahre später versuchte sein rechtskonservativer Nachfolger dann, das Abkommen zunichtezumachen, und während der Coronapandemie hatte das Land plötzlich ganz andere Sorgen. Die sozialen und politischen Spannungen verstärkten sich. Erst 2022 gab das Resultat der Präsidentschaftswahlen dem Friedensdiskurs einmal mehr neuen Elan.
„Diejenigen, die ihren politischen Kampf mit Waffengewalt ausfechten, will man auf dem Verhandlungsweg demobilisieren“
Nun soll also Petros „La paz total“ das ewige Hin und Her beenden. Doch wie genau soll das gehen? Grundsätzlich strebt die kolumbianische Regierung dazu ein schnelles Friedensabkommen und die Entwaffnung aller Konfliktparteien an. Um diese Ziele zu erreichen kommen entweder strafrechtliche Verurteilungen, juristische Deals oder politische Verhandlungen infrage.
Welcher Ansatz letztlich zum Tragen kommt, hängt nach Angaben der Regierung Petros davon ab, mit welcher Konfliktpartei man es zu tun hat: Diejenigen, die ihren politischen Kampf mit Waffengewalt ausfechten, will man auf dem Verhandlungsweg demobilisieren. Mitgliedern krimineller Banden, die Drogenhandel oder andere illegale Geschäfte betreiben, möchte man derweil Verurteilungen mit verringertem Strafmaß anbieten. Sie müssen mit Haftstrafen rechnen, die maximal acht Jahre betragen sollen.
Doch diese scheinbar einfache Aufteilung der Verhandlungspartner in zwei Kategorien ist in Wirklichkeit relativ willkürlich. Denn wenn man jahrzehntealte Zyklen der Gewalt durchbrechen will, dann muss man dazu auch die kriminellen Praktiken unterbinden, die sich jenseits der Bandenkriminalität und des Drogenhandels in die Gesellschaft und die Wirtschaft eingebrannt haben. Dazu gehören etwa der illegale Bergbau und der Menschenhandel. So haben allein die weltweit steigenden Goldpreise in den vergangenen drei Jahren dazu geführt, dass die Gewaltverbrechen in kolumbianischen Schürfgebieten wieder stark zugenommen haben.
Die genannten Bereiche werden mittlerweile durch diverse kriminelle Organisationen kontrolliert. Nach Aussagen des Senators Ariel Ávila, der stets auf die Verflechtungen zwischen der regionalen Politik und der organisierten Kriminalität im Land aufmerksam macht, hat der kolumbianische Geheimdienst bislang mindestens 63 bewaffnete Gruppen identifiziert, die in Kolumbien aktiv sind.
„Angesichts dieser Fülle an Verhandlungspartnern ist der totale Frieden alles andere als einfach herzustellen“
Geht es nach der Regierung, dann lassen sich jedoch neunzig Prozent dieser Gruppen einem der vier großen Guerillaverbände beziehungsweise Kartelle im Land zuordnen. Dazu gehören der sogenannte Golf-Clan, das derzeit größte Drogenkartell des Landes; die Nationale Befreiungsarmee (ELN), eine marxistisch orientierte Guerillabewegung; die Dissidenten der ehemaligen FARC, die das Friedensabkommen von 2016 nicht unterschrieben und heute als Estado Mayor Central bekannt sind; und die Segunda Marquetalia, die aus ehemaligen Unterzeichnern des Friedensabkommens besteht, die sich heute jedoch vom Staat verraten fühlen und wieder Gewalttaten verüben.
Angesichts dieser Fülle an Verhandlungspartnern ist der totale Frieden alles andere als einfach herzustellen. So ziehen sich die Verhandlungen mit den ELN-Guerillas hin, weil die ELN darauf pocht, als einziger politischer Akteur in „La paz total“ anerkannt und nicht mit einem terroristischen Drogenkartell wie dem Clan del Golfo in eine Schublade gesteckt zu werden. Der hat wiederum enge Verbindungen zu kolumbianischen Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten und pflegt ein äußerst volatiles Verhältnis zum Staatsapparat, welches die Verhandlungen für die Regierung erschweren.
So wurde der oberste Anführer des Golf-Clans, Dairo Antonio Úsuga David alias „Otoniel“ , im Oktober 2021 von den kolumbianischen Behörden verhaftet. Folglich erklärte er, vor der Justicia Especial para la Paz (JEP), einer Institution, die 2016 im Rahmen des Friedensabkommens geschaffen wurde, um die Anführer der FARC vor Gericht zu bringen, auszusagen. Jetzt wolle er die ganze Wahrheit sagen, kündigte Oto-niel an, und packte unter anderem über die Verflechtungen von hochrangigen Generälen und Militärs zur organisierten Kriminalität aus. Er nannte Namen und lieferte Beweise dafür, dass viele dieser Personen auf der Gehaltsliste des Golf-Clans standen.
Monatelang gab es keine Toten – und auch die Gespräche mit anderen bewaffneten Gruppen wurden aufgenommen
In einer seiner letzten Amtshandlungen als Präsident lieferte Iván Duque den Clanboss jedoch im Mai 2022 an die USA aus und verhinderte so, dass weitere ungemütliche Wahrheiten an die Öffentlichkeit drangen. Der Golf-Clan reagierte empört und nahm gezielt Polizisten ins Visier, setzte sogar Kopfgelder auf Staatsbeamte aus. So kamen bis Ende Juli 2022 dreißig Polizisten ums Leben. Trotzdem folgte der Clan gleich nach dem Amtsantritt von Petro am 7. August 2022 dem Aufruf zum totalen Frieden und stellte seine Feindseligkeiten gegen die Sicherheitskräfte umgehend ein.
Im Nu herrschte in den vier vom Verbrechersyndikat kontrollierten Departementos, also Chocó, Cauca, Nariño und Antioquia, plötzlich Ruhe. Regierungsvertreter und Anwälte des Clans nahmen die Verhandlungen auf und Gustavo Petro erteilte den offiziellen Befehl für einen Waffenstillstand. Monatelang gab es keine Toten – und auch die Gespräche mit anderen bewaffneten Gruppen wurden aufgenommen.
Es schien vorwärtszugehen, aber die Lage war kompliziert und wackelig – das neue Fundament des Friedens bekam schon bald erste Risse. So streikten Anfang März 2023 Bergarbeiter in der vom Clan kontrollierten Region Bajo Cauca. Zwei Wochen später kam es zu Unruhen, bei denen 250.000 Menschen dort von der Lebensmittelversorgung abgeschnitten wurden.
Die Regierung versuchte mit den protestierenden Bergleuten zu reden, setzte jedoch Polizei- und Militäreinheiten ein, um den illegalen Bergbau in der Region zu bekämpfen. Dabei wurden unter anderem vier riesige Bagger im Wert von rund einer Million US-Dollar beschlagnahmt und zerstört, die dem Clan gehörten. Entsprechend wütend waren dessen Anführer und sorgten dafür, dass die Unruhen eskalierten und die Lage außer Kontrolle geriet. Bereits am 19. März setzte Petro den Waffenstillstand mit dem Golf-Clan wieder aus.
„Rechtskonservative Oppositionspolitiker betonen, dass man Verbrecher nur mit harter Hand bekämpfen könne“
Eine ähnliche Dynamik lässt sich auch in anderen Teilen des Landes beobachten: Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter, und rechtskonservative Oppositionspolitiker, die Verhandlungen und humanitäre Interventionen ablehnen, nutzen die Gelegenheit, zu betonen, dass man Verbrecher nur mit harter Hand bekämpfen könne. Der tragische Kreislauf der Gewalt in Kolumbien geht weiter.
Ende März wurde bekannt, dass die ELN einen Militärstützpunkt der Armee in der Gemeinde El Carmen in der Region Catatumbo nahe der Grenze zu Venezuela angriff. Neun Menschen wurden getötet, darunter sieben Soldaten, die gerade ihren Militärdienst angetreten hatten, und zwei Offiziere. Die Regierung will aber nicht aufgeben und weiter mit der ELN verhandeln. Wer jedoch liest, dass einige Kommandeure der Guerillabewegung zuletzt schulterzuckend und in aller Öffentlichkeit von einem Krieg mit der Regierung sprachen, der wird an dem Sinn dieser Politik zweifeln.
Ich besuche meine Freundin Doris Suárez in den Räumen ihrer Brauerei und des angeschlossenen Kulturzentrums „La casa de la paz“ , des „Hauses des Friedens“ , das sie seit ihrem Austritt aus der FARC betreibt. Wir sitzen eine Weile schweigend da. Ohne zu fragen, weiß sie, worüber ich sprechen möchte. Sie erzählt mir von Catatumbo im Departamento Norte de Santander, einer Region im Norden des Landes, die reich an Bodenschätzen und fruchtbarem Land für Landwirtschaft und Viehzucht ist.
Sie kennt die Gegend gut. Aber sie klingt nicht mehr so fröhlich und spricht nicht mehr so leicht wie noch 2022 direkt nach der Wahl. Die ewigen Aufschübe des Friedens und die immer neuen Probleme haben sie vorsichtig werden lassen. Doris spricht langsam. Sie will stark bleiben, aber sie wirkt erschöpft.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte