Staatszerfall mit Ansage
Der Zusammenbruch der afghanischen Regierung im August 2021 löste eine schwere humanitäre Krise aus, unter der ein großer Teil der Bevölkerung leidet. Nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) sind derzeit 23 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen; 18,1 Millionen benötigen dringend Zugang zu medizinischer Versorgung, 16,2 Millionen sind schutzbedürftig – etwa, weil ihnen Kinderarbeit oder Zwangsehen aufgrund von Armut drohen –, 10,9 Millionen Afghaninnen und Afghanen brauchen eine Notunterkunft und 7,9 Millionen haben keinen Zugang zu Bildung.
Was die Rechte von Frauen anbelangt, hat sich die Situation seit 2021 enorm verschlechtert: Die wirtschaftliche Teilhabe von Afghaninnen verbesserte sich in den letzten zwanzig Jahren zunächst, obwohl ihre Beteiligung nach wie vor deutlich geringer war als die der Männer. Im Jahr 2019 waren 22 Prozent der afghanischen Frauen erwerbstätig. Seit der Machtübernahme der Taliban ist diese Zahl nach Angaben der Weltbank auf 15 Prozent gesunken.
Die Beschränkungen für die Erwerbstätigkeit von Frauen unter dem Taliban-Regime werden laut Weltbank-Schätzungen zu einem wirtschaftlichen Verlust von einer Milliarde Dollar führen, was fast fünf Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Bei Gender-Gleichstellungsindizes liegt Afghanistan auf einem der letzten Plätze.
„Die Armut steigt rapide, die Grundversorgung ist zunehmend gestört, der Zugang zu Bargeld eingeschränkt“
Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban zerfällt der afghanische Staat zusehends. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass im Jahr 2022 bis zu 900.000 Arbeitsplätze verloren gehen werden. Die Armut steigt rapide, die Grundversorgung ist zunehmend gestört, der Zugang zu Bargeld eingeschränkt, und es ist mittlerweile unmöglich, Gelder aus dem Ausland zu überweisen.
Längerfristige internationale Hilfen, die in der Vergangenheit dem Aufbau institutioneller Strukturen dienen sollten, wurden ausgesetzt, damit sie der neuen Regierung nicht als Legitimierung dienen können. Diese steht mittlerweile sogar auf der Sanktionsliste des US-Finanzministeriums, weshalb Vermögenswerte der afghanischen Zentralbank in Höhe von fast 9,5 Milliarden Dollar eingefroren wurden. Die Weltbank, die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds setzten ihre Finanzierungen aus. Die verbleibende internationale Unterstützung besteht aus kurzfristigen Hilfen, um die gegenwärtige humanitäre Krise etwas zu lindern.
Bereits vor der erneuten Machtübernahme durch die Taliban war die afghanische Wirtschaft in hohem Maß auf internationale Unterstützung angewiesen. Anfang 2021 stellte die internationale Gemeinschaft noch mehr als zwei Drittel des Haushalts der afghanischen Regierung. Langfristige Hilfen zielten darauf ab, den Staat zu stabilisieren. Diese Maßnahmen zum Aufbau entsprechender Strukturen brachten positive Veränderungen, darunter mehr Bildung, eine wachsende Mittelschicht und mehr Rechte für Frauen.
Einige der Interventionen waren jedoch enorm teuer – und es gab Defizite und Misserfolge beim Aufbau von Staatlichkeit. Mitunter kam es zu Auswirkungen, die den Zielen der Geberländer sogar zuwiderliefen. Dafür sind insbesondere drei Gründe zu nennen:
„Große Summen leicht verfügbarer ausländischer Gelder verhinderten die Entwicklung eigener afghanischer Projekte“
Erstens. Der jahrelange Zustrom erheblicher ausländischer Hilfsgelder überforderte die Fähigkeit des Staates, diese auf transparente, legale und sozial verantwortungsvolle Weise zu verwalten und auszugeben. Die Gelder flossen in die Hände verschiedener politischer Akteure, ohne dass eine zugehörige Institution dies überwachte und Rechenschaftspflicht gewährleistete. Große Summen leicht verfügbarer ausländischer Gelder verhinderten die Entwicklung eigener afghanischer Projekte und Unternehmungen. Auch eine nachhaltige, von Afghaninnen und Afghanen getragene Ordnung wurde nicht geschaffen, womit die internationale Gemeinschaft ihr Ziel, ein demokratisches Gemeinwesen im Land zu fördern, nicht erreichte.
Die klare Abhängigkeit der Regierung von der Präsenz des Westens schürte zusätzliche Zweifel in der Bevölkerung an deren Legitimität. Die Taliban konnten diese Schwäche nutzen und inszenierten sich als Hüter und Verkörperung des vermeintlich wahren Islam, der Unabhängigkeit und des nationalen Stolzes.
Zweitens. Die Jahre der westlichen Einflussnahme in Afghanistan waren durch wiederholte Strategiewechsel geprägt. Das war auch das Ergebnis kurzfristigen Denkens: Die Entwicklung eines Staates und die Schaffung von Frieden setzen längerfristige Transformationsprozesse voraus, doch man tat zu wenig für den Aufbau der dafür nötigen Strukturen und konzentrierte sich zu sehr auf die militärischen Interessen der intervenierenden Staaten.
„Die Taliban inszenierten sich als Hüter des Islams und des nationalen Stolzes“
Drittens. Politikwissenschaftlerinnen wie Dipali Mukhopadhyay haben darauf hingewiesen, dass sich die USA und ihre Verbündeten nicht aus altruistischer Sorge um die Verbreitung der Demokratie in Afghanistan engagierten, sondern aus Sorge um den vermuteten Zusammenhang zwischen schwacher Staatlichkeit und globalisiertem gewalttätigen Extremismus. Doch je länger das Engagement dauerte, desto mehr gab man den Anschein des Liberalismus auf.
Viele Stimmen in der Politikwissenschaft deuten externe, westliche Sicherheitsinteressen und den „Krieg gegen den Terrorismus“ als die eigentliche Triebfeder für das Engagement in Afghanistan – und nicht, wie behauptet, das Streben nach einer echten Friedenskonsolidierung.
Die externe Unterstützung für die Friedenskonsolidierung, den Aufbau staatlicher Strukturen und die wirtschaftliche Entwicklung in Afghanistan blieb zwei Jahrzehnte lang parallel zum Kampf gegen die Taliban bestehen. Doch die Ansätze änderten sich in dieser Zeit, die verschiedenen Geberländer verfolgten unterschiedliche Linien. Für einige war Afghanistan eher ein unbeschriebenes Blatt, während andere das Land als vormoderne Stammesgesellschaft betrachteten.
Man kann nur spekulieren, wie der weitere Weg aussehen wird. Klar – und wichtig – ist, dass sich diese Frage in Zukunft weniger die Menschen in den westlichen Ländern stellen müssen, als vielmehr die Afghaninnen und Afghanen.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Kotte