Kommentar | Ungleichheit

Die Illusion der Chancengleichheit

„Chancengleichheit“ klingt großartig. Wer könnte etwas dagegen haben? Doch sind Gleichheit und Leistungsprinzip wirklich vereinbar? Der Soziologe César Rendueles meldet Zweifel an

Auf der Illustration ist ein Porträt eines Mannes mit Anzug. Der Kopf ist angeschnitten. Das Gesicht ist eine rote Fläche.

Manager verdienen oft das 400-fache eines durchschnittlichen Angestellten. Ist das wirklich in Ordnung? 

Wir neigen heute zu der Vorstellung, dass Gleichheit nur mit individueller Freiheit vereinbar ist, wenn sie sich darauf beschränkt, Hindernisse für eine gerechte Belohnung persönlicher Anstrengung zu beseitigen. In diesem Sinne wäre die Gleichheit so etwas wie ein politischer Videoassistent: eine Methode, um zu kontrollieren, dass niemand in der gesellschaftlichen Konkurrenz betrügt. Wir haben unsere egalitären Ideale also auf ein meritokratisches Projekt reduziert.

Selbstverständlich wissen wir, dass die Dinge so nicht funktionieren. Sowohl das Bildungssystem als auch der Arbeitsmarkt vertiefen Ungleichheiten. Noch wichtiger ist jedoch, dass der Egalitarismus, wie er mit der Entwicklung moderner Demokratien eng verknüpft war, nicht darauf abzielte, dem Individuum zu geben, was es verdiente. Das Ziel war, bereitzustellen, was die Einzelnen brauchen, um ihre besten Eigenschaften zu entfalten. Dementsprechend ist der demokratische Egalitarismus keine Dopingkontrolle vor der Konkurrenz, sondern der Versuch, die negativen Folgen des gesellschaftlichen Wettbewerbs zu begrenzen.

Viele Menschen akzeptieren das Leistungsprinzip, weil sie es mit sozialer Mobilität verwechseln. Natürlich sollten wir dafür sorgen, dass jede und jeder Arzt, Ingenieurin, Journalist oder Sängerin werden kann, wenn sie oder er das Talent dazu besitzt. Etwas ganz anderes ist es, wenn diese Berufe mit sozialen oder monetären Privilegien einhergehen, wie es die Verteidiger des meritokratischen Prinzips propagieren. Sie glauben, dass Menschen dafür belohnt werden müssen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, weil sie ansonsten nicht dazu bereit wären, sich anspruchsvolle Kenntnisse anzueignen, die das Leben von uns allen besser machen.

„Glaubt irgendjemand ernsthaft, es sei in Ordnung, dass der Manager eines großen Unternehmens 400-mal mehr verdient als der durchschnittliche Angestellte?“

Erstens handelt es sich dabei um eine sehr negative Vorstellung der menschlichen Natur. Es ist absurd zu glauben, dass sich Menschen für Anerkennung und ein würdiges Einkommen allein nicht anstrengen werden. Das erinnert an den Umgang mit schlecht erzogenen Kindern, die mit Belohnungen bestochen werden müssen, um sich ordentlich zu benehmen.

Zweitens sind wir sehr schlecht darin, die gesellschaftlich nützlichsten Aufgaben zu erkennen und zu belohnen. Während der Pandemie haben wir erlebt, dass die Arbeit von LKW-Fahrern und Reinigungskräften unerlässlich ist. Im Gegensatz dazu kommen wir ohne Immobilienspekulanten recht gut aus.

Selbst wenn wir akzeptieren, dass Ungleichheiten gerecht wären, wenn sie auf persönliche Anstrengung und nicht auf ein natürliches oder gesellschaftliches Glück zurückzuführen sind, stellen sich die Fragen:  Welches Maß an Ungleichheit ist vertretbar? Wie viel mal mehr sollten die Reichsten im Verhältnis zu denen verdienen, die am wenigsten haben? Dreimal so viel? Zehnmal so viel? Glaubt irgendjemand ernsthaft, es sei in Ordnung, dass der Manager eines großen Unternehmens 400-mal mehr verdient als der durchschnittliche Angestellte?

Letztlich ist die meritokratische Chancengleichheit die moderne Formulierung eines sehr alten Systems zur Rechtfertigung von Eliteprivilegien. Meine Argumentation läuft darauf hinaus, dass wir die Gleichheit nicht als Ausgangspunkt, sondern als Ergebnis begreifen sollten. Gleichheit ist das komplexe Resultat politischer Maßnahmen, sie entsteht aus einer demokratischen Bürgerschaft, die wir systematisch kultivieren müssen.

Aus dem Spanischen von Raul Zelik