Gerechtigkeit

Wo stehen wir?

Diskriminierung, Hassverbrechen, Gerechtigkeit: Wo gab es  in den letzten Jahren Fortschritte, wo muss noch viel getan werden?

Das Bild zeigt einen Eisenbahnwagen an einem spärlich beleuchteten Bahnsteig. In der offenen Tür des Wagens steht ein schwarzer Mann und schaut heraus. Zwei Sicherheitsleute laufen vorbei.

Geflüchtete aus der Ukraine kommen am Hauptbahnhof in Przemysl, Polen an

Mit dem Krieg in der Ukraine werden einmal mehr einige der drängendsten Probleme unserer Zeit deutlich: die Gefahr durch Autokraten, das Leid von Geflüchteten, Chauvinismus, Rassismus. Nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, flohen viele Menschen an die Grenze zu Polen. In die Züge kamen Weiße, Schwarze wurden abgewiesen. Zugleich scheint die Figur des Kriegshelden in Gestalt tapferer ukrainischer Kämpfer eine Renaissance zu erfahren.

Haben sich Feministinnen und Antirassisten seit Jahren umsonst den Mund fusselig geredet? Nein, natürlich nicht. So entmutigend das Weltgeschehen mitunter wirken mag, es wurden doch enorme Fortschritte in Richtung Toleranz, Integration und Gleichheit gemacht. Bewegungen wie  MeToo und „Black Lives Matter“ schafften es in die Mainstream-Berichterstattung. Im Detail zeigt sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für entsprechende Themen darin, dass Begriffe wie „Diskriminierung“, „Ungleichheit“, „Intersektionalität“, „systemische Ungerechtigkeit“ und „patriarchale Strukturen“ seit einigen Jahren auf zunehmend selbstverständliche Weise benutzt werden.

Eine Analyse von 27 Millionen Artikeln in 47 populären US-Nachrichtenmedien aus dem Zeitraum von 1970 bis 2019 hat ergeben, dass die Verwendung von Begriffen, die im Zusammenhang mit diesen gesellschaftlichen Problemen stehen, ab den frühen 2010er-Jahren rapide zugenommen hat – in linken wie rechten Publikationen. Seit 2012 ist in der „New York Times“ etwa bei den Wörtern „sexistisch“ und „rassistisch“ eine Zunahme von 400 Prozent zu verzeichnen.

„Weniger als vierzig Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren, suchen überhaupt Hilfe.“

Doch wo stehen wir wirklich, was hat sich konkret getan? In den vergangenen dreißig Jahren eine ganze Menge. Bis 1990 waren laut der Gapminder Foundation weltweit nur 18 Regierungschefinnen im Amt, bis 2021 waren es dann immerhin achtzig.  Trotz derartiger Zuwächse bleiben Frauen auf den höchsten Führungsebenen unterrepräsentiert. In der Wirtschaft geht es insgesamt schleppend voran: Der Anteil der Frauen am Arbeitseinkommen liegt, so der aktuelle World Inequality Report, bei 34 Prozent, 1990 waren es 31. Nur fünf Prozent aller CEOs weltweit sind Frauen, bei Vorständen beläuft sich der Anteil auf 19,7 Prozent. Geht es in dem Tempo weiter, werden Frauen auf dieser Position etwa um das Jahr 2045 herum mit Männern gleichziehen. Auch der Gender Pay Gap ist immer noch hoch: Laut UN verdienen Frauen im globalen Durchschnitt 77 Prozent dessen, was Männer bekommen. Und dies, obwohl Frauen seit den 1990er-Jahren in vielen Ländern die Männer in Sachen Bildung überholt haben.

Wie sieht es bei der sexuellen Selbstbestimmung aus? Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge hat weltweit fast jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erlitten. Covid-19 hat das Problem verschärft. Daten der UN zufolge stiegen die gemeldeten Fälle von häuslicher Gewalt während der Pandemie erheblich an. Immerhin haben viele Länder reagiert: 150 haben Maßnahmen ergriffen, um Einrichtungen wie Frauenhäuser und Notrufnummern für weibliche Opfer von Gewalt während der Pandemie zu stärken und auszubauen. Weltweit haben mindestens 158 Staaten Gesetze gegen häusliche Gewalt und 141 solche gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlassen. 190 Staaten haben die UN-Konvention zur Beseitigung geschlechterbasierter Gewalt unterschrieben. Doch das bedeutet nicht, dass Gesetze immer umgesetzt und Rechte durchgesetzt werden. Weniger als vierzig Prozent der Frauen, die Gewalt erfahren, suchen überhaupt Hilfe.

#MeToo hat global dazu beigetragen, dass Frauen die Täter benennen und anzeigen. In Indien beispielsweise arbeiten die Gerichte bei Klagen wegen Vergewaltigung oder sexueller Belästigung allgemein sehr langsam, aber selbst dort haben teils online organisierte Initiativen zum Rücktritt mehrerer bekannter Kulturschaffender geführt, eines leitenden Redakteurs der „Hindustan Times“ etwa, eines Bollywood-Produzenten sowie des Gründers einer beliebten Comedy-Truppe. Die #MeToo-Bewegung hat zu Gesetzesreformen geführt, auch zum Schutz am Arbeitsplatz. Wie fragil manche Erfolge sind, zeigt sich allerdings darin, dass laut UN-Statistiken Frauen als Folge der Pandemie häufiger ihren Arbeitsplatz verloren haben als ihre Kollegen, wodurch teils jahrzehntelange Fortschritte zunichtegemacht wurden.

„Noch immer fürchten sich Betroffene vor den sozialen und finanziellen Konsequenzen, wenn sie Übergriffe melden“

Nach wie vor besonders schwierig ist die Situation für Menschen mit Behinderungen und für die LGBTIQ+-Community. 45 Prozent von 1.122 CEOs, die weltweit dazu in einer UN-Studie befragt wurden, meinen, dass ihr Unternehmen die Ressourcen und den Schutz der Community innerhalb der Belegschaft ausgeweitet hat. Nur wenige Länder erkennen allerdings die Identität von Transpersonen rechtlich an. Laut Amnesty International kriminalisieren 76 Länder homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen; in zehn Ländern kann darauf die Todesstrafe stehen. Heiraten hingegen können gleichgeschlechtliche Paare in dreißig Staaten, darunter 17 der EU.

Ob Hassverbrechen aufgrund von sexueller Orientierung, Ethnie oder Religion zugenommen haben, ist schwer zu sagen. Das liegt auch an den Dunkelziffern. Noch immer fürchten sich Betroffene vor den sozialen und finanziellen Konsequenzen, wenn sie Übergriffe melden und versuchen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Und weiterhin werden marginalisierte Gruppen zu Sündenböcken für soziale und wirtschaftliche Missstände gemacht.

Was die Situation in Deutschland betrifft, haben die Wahlerfolge der AfD, der NSU-Komplex, der Anschlag in Halle und die Hasstat in Hanau gezeigt, dass es sehr schwerwiegende Probleme mit Rassismus und rechter Gewalt gibt. Um Betroffene besser zu schützen, hat der Bundestag im Juni 2020 das Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität verabschiedet. Das ändert erst mal wenig an der Angst, der Ohnmacht und dem Schmerz, den viele von Rassismus Betroffene fühlen, aber zumindest scheint es, als würden Wege gesucht und daran gearbeitet, ein Bewusstsein für das Problem zu stärken.

„Verbal oder symbolisch wenden sie sich gegen Ungerechtigkeiten, sorgen aber dafür, dass diese bestehen bleiben.“

Weltweit ist die Aufmerksamkeit für rassistisch motivierte Gewalttaten mit der Black-Lives-Matter-Bewegung und durch Fälle wie den Mord an dem Amerikaner George Floyd durch einen Polizisten erhöht worden. Einer Studie des Pew Research Centers zufolge gibt die Mehrheit der Erwachsenen in hoch entwickelten Volkswirtschaften wie den USA, Italien, Frankreich, Schweden und Deutschland an, dass Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit ein ziemlich oder sehr ernstes Problem in ihrer Heimat ist. Nur in Japan, Singapur und Taiwan gilt das für weniger als die Hälfte der Befragten. Es mag wenig überraschen, dass jene, die politisch zur Linken tendieren, der Studie zufolge rassistische und ethnische Diskriminierung eher als ernstes Problem ansehen als die Rechten.

Doch warum kommen wir so langsam voran, was konkrete Missstände betrifft? Hier greifen viele Faktoren. Einen auf den ersten Blick erstaunlichen nennt Musa Al-Gharbi, Soziologe an der Columbia University in New York. Er schreibt, die Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich am ehesten als Sozialisten, Feministen oder Antirassistinnen bezeichnen, gehören „zufällig auch zur Gruppe jener, die am stärksten davon profitieren, dass rassistisch, geschlechtsspezifisch und sonst wie motivierte systematische Ungleichheit herrscht“.

Während sie sich verbal oder symbolisch gegen Ungerechtigkeiten wenden, sorgen sie zugleich dafür, dass diese konkret bestehen bleiben. Als simples, aber bezeichnendes Beispiel für diese Haltung nennt Al-Gharbi Studierende seiner Universität, die, als Trump zum Präsidenten gewählt wurde, weinten und einen unifreien Tag für sich forderten, dies aber nicht für die unterbezahlten Angestellten am Campus taten, die Gärtner, den Sicherheitsdienst, das Küchenpersonal. Der Soziologe betont, dass gerade privilegierte Leute gerne andere anprangern, Wokeness für sich in Anspruch nehmen und angeben, „auf der Seite“ der Benachteiligten zu stehen, dass sie letztlich aber doch meist an sich selbst denken.

Al-Gharbis Resümee: „Wir sind noch nie woke gewesen.“