„Wir brauchen eine Kultur des Weniger“
Seit einem halben Jahrhundert kritisiert die Aktivistin und Autorin Vandana Shiva die Auswüchse der globalen Wirtschaft und streitet für das einfache Leben. Ein Gespräch über künstlichen Überfluss und notwendigen Verzicht
Interview von Kai Schnier
Frau Shiva, sei es wegen der Klimakrise, der Gasknappheit oder der Erkenntnis, dass wir die Grenzen des Wachstums ausgereizt haben: In Europa wird derzeit viel über Verzicht und Sparsamkeit geredet. Kündigt sich mit dieser Debatte eine neue Ära an oder sind das nur die üblichen Nebengeräusche einer globalen Rezession?
Sicherlich hat es solche Diskussionen auch schon früher gegeben. Man denke nur an den ersten Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Aber 1972 war es eben genau das: ein Club. Deshalb hat das, was wir heute erleben, eine ganz andere Dimension.
In Form steigender Lebenshaltungskosten werden die Probleme unseres Wirtschaftssystems langsam auch im „Westen“ spürbar und insbesondere Europa findet sich durch die hohen Energiepreise und einem Krieg vor der eigenen Haustür plötzlich in den Schuhen der Dritten Welt wieder.
Plötzlich sind es die eigenen Lebensgrundlagen, die bedroht sind. Und damit sickern einige Wahrheiten durch, die im Globalen Süden längst angekommen sind. Zum Beispiel die Erkenntnis, dass man in Zukunft einige Abstriche wird machen müssen. Ich persönlich glaube aber nicht, dass das unbedingt etwas Schlechtes wäre.
„Nur weil etwas wenig kostet, heißt das nicht, dass es uns als Menschheit nicht teuer zu stehen kommt“
Mit weniger Geld leben, mit kälteren Wohnungen leben, mit weniger Dingen leben: Glauben Sie nicht, dass das von vielen Menschen als Rückschritt empfunden würde, insbesondere in Europa und den USA, wo das Recht auf Konsum eng mit dem eigenen Freiheitsgefühl verbunden ist?
Das würde voraussetzen, dass man das Wohlstandsniveau des Globalen Nordens als „normal“ oder „gesund“ betrachtet. Das halte ich jedoch für Unsinn.
Der Kerngedanke unseres Wirtschaftssystems besteht darin, den Wohlstand zu vermehren, indem wir mehr und mehr Produkte herstellen und sie immer billiger auf den Markt bringen. Doch hilft uns das wirklich?
Etwa neunzig Prozent der in den USA konsumierten Waren werden zu Dumpingpreisen in China hergestellt. Aber nur weil etwas wenig kostet, heißt das nicht, dass es uns als Menschheit nicht teuer zu stehen kommt.
Den horrenden Preis dieser Waren zahlen die Menschen in China, die in verschmutzten Industriestädten leben, chinesische Arbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten, und chinesische Flüsse, die verschmutzt werden.
Die billigen T-Shirts und das billige Benzin waren also nie billig. Der vermeintliche Überfluss, in dem viele von uns leben, ist eine Illusion. Er beutet unseren Planeten aus, er beutet Menschen aus und er zerstört lokale und nationale Märkte.
Das beste Beispiel dafür ist Afrika, ein Kontinent, der über reiche Böden verfügt, sich aber nicht selbst ernähren kann, weil er jahrelang von subventionierten europäischen Agrarimporten überschwemmt worden ist. Von dem „Mehr“, das unsere Wirtschaft angeblich erzeugt, profitiert also nur ein sehr kleiner Teil der Welt.
„,Genug‘ darf in Zukunft kein Fremdwort mehr sein“
Aber gerade dieser kleine Teil hat sich nun an den eigenen Wohlstand gewöhnt – und will nur noch ungern Abstriche machen. Frieren für den Frieden, Tempo 130 für das Klima, Maske tragen für den Schutz der anderen: Bei vielen Menschen löst es Unverständnis aus, wenn sie ihren eigenen Lebensstil zum Wohle der Gemeinschaft oder des Planeten einschränken sollen.
Kein Wunder, immerhin ist diese Mentalität ein direktes Resultat unseres Wirtschaftssystems. Nach Adam Smith profitiert die Wirtschaft am meisten, wenn jeder von uns seine eigenen Interessen verfolgt.
Das heißt im Umkehrschluss: Der Maximierung des persönlichen Reichtums ist Tür und Tor geöffnet. Das grenzenlose Nehmen ist durch Smith also nicht nur salonfähig, sondern nahezu überlebenswichtig geworden.
Deshalb sind wir heute in einer unersättlichen Konsumkultur gefangen, in der sich das Leben vieler Menschen nur noch darum dreht, das nächste Kleid zu kaufen oder den nächsten Urlaub zu planen.
Ich bin aber davon überzeugt, dass wir diesen Kreislauf durchbrechen können. Wir müssen endlich erkennen, dass unser System zwar das Wirtschaftswachstum maximiert, nicht aber unsere Lebensqualität. „Genug“ darf in Zukunft kein Fremdwort mehr sein.
„Unsere Begeisterung für die Geschwindigkeit konfigurierte unser Gefühl von Zugehörigkeit neu“
Gehört es nicht auch zur Lebensqualität, einen Urlaub zu planen oder ein Kleid zu kaufen?
Das hängt wohl maßgeblich von der Definition von „Lebensqualität“ ab. Ich persönlich habe aber das Gefühl, dass viele Menschen derzeit eher unzufrieden mit ihrer Lebensqualität sind – und dieses Unbehagen spüre ich bereits seit den 1970er-Jahren, als ich für mein Studium von Indien nach Kanada zog.
Damals war ich sehr erstaunt darüber, dass der Campus meiner Universität an den Wochenenden immer völlig leer war. Sobald sich eine Gelegenheit bot, stiegen meine Kommilitoninnen und Kommilitonen in ihre Autos und verließen die Stadt. Ich blieb zurück und fragte mich: Warum sind die Menschen nicht gerne dort, wo sie leben?
Irgendwie kam mir das schon damals wie ein Symbol vor: Studenten, die in ihre Fluchtwagen steigen, um ihr Leben für ein paar Tage hinter sich zu lassen.
Jahre später, als ich mein Buch „Soil, Not Oil“ schrieb, las ich dann die Arbeit des Forschers Wolfgang Sachs und sein Buch „Die Liebe zum Automobil“.
Darin erklärt er, wie mit dem Bau der Autobahnen nicht nur ein neues Geschwindigkeitsgefühl geschaffen wurde, sondern auch eine Dissoziation zwischen den Menschen und ihrer Umgebung einsetzte. Unsere Begeisterung für die Geschwindigkeit konfigurierte unser Gefühl von Zugehörigkeit neu.
Dieser Gedanke öffnete mir die Augen. Vielleicht ist diese „Schneller, höher, weiter“-Mentalität unserer Zeit auch der Versuch, eine unbefriedigende Realität hinter uns zu lassen.
„Wenn Wohlstand bedeutet, dass der Regenwald abgeholzt wird, um Tierfutter zu produzieren, dann will ich keinen Wohlstand“
Wenn die Maßstäbe für ein gutes Leben in unserem aktuellen Wirtschaftssystem verdreht sind, was sind dann Ihrer Meinung nach bessere Indikatoren für Lebensqualität?
Um das zu verstehen, muss man sich nur anschauen, wie wir Wirtschaftswachstum messen: Wenn ich einen Wald pflanze, dann zählt das nicht als Wachstum. Das generiere ich erst dann, wenn ich die Bäume fälle, ihr Holz ernte und es verkaufe. Nur so „profitiert“ die Wirtschaft.
Aber was ist mit all den anderen Dingen, die ich durch das Pflanzen des Waldes bewegt habe? Was ist mit dem Leben, das sich dort abspielt? Was ist mit dem Kohlendioxid, das die Bäume speichern?
Diese Faktoren sind aus ökonomischer Sicht null und nichtig. Das Leben im Wald ist bedeutungslos gegenüber dem Reichtum, den seine Abholzung verspricht.
Ist das nicht eine perverse Interpretation von Wohlstand? Wenn Wohlstand bedeutet, dass der Regenwald abgeholzt wird, um Tierfutter zu produzieren, dann will ich keinen Wohlstand.
Warum fangen wir nicht an, die Dinge zu vermehren, die wichtig sind? Warum vermehren wir nicht saubere Flüsse und saubere Luft anstelle von Geld?
Aus wissenschaftlicher und ökologischer Sicht beruht unser System auf einem Haufen unsinniger Ideen. Dementsprechend bedeuten Verzicht und Sparsamkeit nicht unbedingt, mit weniger zu leben, sondern mit weniger Unsinn zu leben.
„Wir selbst müssen das Ziel unserer Wirtschaft sein, nicht das Geld, die Waren und die Dienstleistungen“
Wir müssen also unsere Definition von Fortschritt und Wachstum überdenken?
Ja. In Indien hat Nationaldichter und Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore diese Idee einmal sehr schön zusammengefasst, indem er feststellte, dass man beim Anblick eines Zugs zwar durchaus fragen kann: Kommt er gut von Punkt A nach Punkt B voran?
Beobachtet man jedoch einen Baum beim Wachsen, dann ist diese Frage sinnlos. Man kann nicht fragen, ob der Baum sich gut in Richtung seines Ziels bewegt, da er kein anderes Ziel als sich selbst hat. Und genau so sollte es auch mit dem menschlichen Fortschritt sein: Wir selbst müssen das Ziel unserer Wirtschaft sein, nicht das Geld, die Waren und die Dienstleistungen.
Das Gegenteil einer Wirtschaft, die keinen Respekt vor Grenzen hat und ohne Sinn und Zweck wächst, ist deshalb in meinen Augen auch keine Wirtschaft der Knappheit, sondern eine Wirtschaft der Genügsamkeit.
Denn nur wenn wir genügsam sind, können wir wirklich zufrieden sein und sagen: Ich habe genug gegessen, ich bin genug gereist.
Ein großartiges Beispiel für diese Art der Genügsamkeit ist die ökologische Landwirtschaft, bei der es immer um ein Geben und Nehmen geht. Wie viele Nährstoffe müssen wir dem Boden zurückgeben? Wie viel Wasser kann entnommen werden, ohne ihn weniger fruchtbar zu machen?
Das sind die wichtigen Fragen. Wenn wir weiterhin Ressourcen in industriellem Maßstab abbauen, dann werden wir vielleicht kurzfristig mehr Nahrungsmittel produzieren, aber wir werden uns nicht besser ernähren.
Ganz im Gegenteil: Wir werden mehr Chemikalien, mehr Giftstoffe und mehr nährstofflose Produkte produzieren – auf Kosten des Planeten und auf Kosten der Menschheit.
„Naturnahe Kulturen haben ein tiefgreifendes Verständnis dafür, wann der Erde etwas entnommen werden kann und wann sie sich erholen muss“
Was kann der Globale Norden mit Blick auf die von Ihnen skizzierte „Ökonomie der Genügsamkeit“ vom Globalen Süden lernen?
Eine ganze Menge. Verschiedene Strömungen der indischen Philosophie beschäftigen sich zum Beispiel seit jeher mit dem Begriff der Genügsamkeit und mit der Achtung der Natur. Oft geht es dabei darum, die Erde zu nutzen, aber Gier zu vermeiden.
Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass es im indischen Yoga eine eigene Körperhaltung für die Sonne gibt. Ihr zugrunde liegt das Verständnis, dass die Energie der Sonne unseren Planeten antreibt, also auch ein tiefer Sinn für ökologische Nachhaltigkeit.
Ebenso haben indigene Kulturen seit Langem Vorstellungen von Genügsamkeit kultiviert, die für sie und ihre Umgebung von großem Nutzen waren.
Eine bestimmte Heilpflanze nicht zu ernten, wenn sie sich regenerieren muss, einen gewissen Fisch nicht zu fangen, wenn Laichzeit ist: Naturnahe Kulturen haben ein tiefgreifendes Verständnis dafür, wann der Erde etwas entnommen werden kann und wann sie sich erholen muss.
Das ist auch der Grund dafür, dass indigene Völker, die heute nur weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, in ihren Lebensräumen rund achtzig Prozent der biologischen Vielfalt der Erde schützen. Und darüber hinaus glaube ich, dass der Globale Süden der Welt auch eine Lektion in Sachen Resilienz erteilen kann.
„Auch heute gibt es in Indien Dörfer, in denen abends eine Glocke geläutet wird, um alle Menschen zu versammeln, die noch nicht gegessen haben“
Inwiefern?
Wenn ich mir die Menschen anschaue, die bereits heute in Indien und anderswo durch Überschwemmungen und Stürme vertrieben werden, dann sehe ich viel Leid, aber auch einen erstaunlichen Einfallsreichtum.
Ich sehe Menschen, die aus nichts als Ästen und Blättern ein neues Haus bauen, Menschen, die sich und andere ohne Geld ernähren können. Das zeugt von einer unglaublichen Widerstandsfähigkeit.
Auch heute gibt es in Indien noch immer Dörfer, in denen abends eine Glocke geläutet wird, um alle Menschen zu versammeln, die noch nicht gegessen haben. Und die Familien, die die Glocke läuten, essen erst, wenn auch die letzte Person etwas zu essen bekommen hat.
So beseitigt man Hunger, so beseitigt man Mangel – und so schafft man ein Gefühl der Solidarität, das dem Globalen Norden etwas verloren gegangen ist. Wie baut man ein Haus, wie baut man sein eigenes Essen an, wie unterrichtet man seine Kinder?
Das sind Dinge, mit denen sich die Menschen in Europa und in den USA sehr lange nicht beschäftigt haben, weil sie es nach dem Zweiten Weltkrieg bequem und friedlich hatten.
Ich stelle aber fest, dass das Interesse an diesen Fragen mittlerweile wieder zunimmt, gerade jetzt, da die Krisen auch im Westen ankommen.
Glauben Sie, dass sich jüngere Generationen bereits besser mit dem Gedanken angefreundet haben, in Zukunft weniger zu besitzen? In Deutschland wollen viele Junge zum Beispiel kein eigenes Auto und kein eigenes Haus mehr haben und verzichten – anders als ihre Eltern – auf längere Arbeitszeiten für mehr Geld.
Ja, und dieses Erwachen der Jugend begeistert mich. Ich glaube aber auch, dass diese These in anderen Teilen der Welt nicht unbedingt zutrifft.
In Indien, wo die wirtschaftliche Globalisierung erst vor zehn bis 15 Jahren mit voller Wucht zugeschlagen hat, ist zum Beispiel das Gegenteil der Fall: Hier ist es die jüngere Generation, die den Konsum antreibt.
„In Indien kann man verfolgen, wie es den großen Unternehmen gelingt, Maßlosigkeit zu kultivieren“
Und das betrifft nicht nur die wenigen privilegierten Jugendlichen in den Metropolen, sondern auch und gerade die Jugend in den Dörfern, die unbedingt die neusten Nike-Schuhe haben will.
In Indien kann man in Echtzeit verfolgen, wie es den großen Unternehmen gelingt, Maßlosigkeit zu kultivieren und den Geist junger Menschen zu kolonisieren: Zuerst flößen sie der Jugend ein Gefühl der Minderwertigkeit ein und dann liefern sie ihr auch gleich den vermeintlichen Ausweg: Kauf dir dein Glück!
In Indien sind es also eher die älteren Menschen, die noch an den einfachen Tugenden festhalten. Ich zum Beispiel trage immer noch den Sari meiner Mutter – und der war bereits zwanzig Jahre alt, als sie vor vierzig Jahren starb.
Sie selbst sind also der beste Beweis dafür, dass Einfachheit und Genügsamkeit einen Menschen glücklich machen können?
Zumindest kann ich sagen, dass ich die meisten meiner Theorien an mir selbst getestet habe und sie sich als wahr erwiesen haben. Ich bin in einer sehr einfachen Familie aufgewachsen, in der das Wort „Wollen“ nie wirklich eine Rolle gespielt hat.
Wir Kinder wollten zum Beispiel nie neue Kleidung, außer einmal, als gerade die Nylonröcke nach Indien gekommen waren und wir unsere Mutter baten, uns welche zu besorgen.
Sie sagte damals allerdings nur: „Ich werde euch welche besorgen, aber denkt immer daran, dass ihr eine Frau und ihr Kind ernähren könnt, wenn ihr stattdessen handgewebte Kleidung kauft.“
Und damit hatte sich das auch erledigt (lacht). Heute bedeutet Genügsamkeit für mich vor allem, langsamer zu werden und darauf zu achten, wozu ich Ja sage.
„Genügsam zu sein bedeutet für mich auch, zu meinen Wurzeln zurückzukehren“
Ich reise zum Beispiel viel weniger ins Ausland, und wenn mich jemand bittet, einen Vortrag am anderen Ende der Welt zu halten, dann mache ich das lieber digital.
Mein Büro befindet sich jetzt in dem alten, mittlerweile renovierten Kuhstall meiner Familie, und ich verbringe die meiste Zeit zwischen den Litschi- und Mangobäumen, die meine Mutter gepflanzt hat.
Genügsam zu sein und zu verzichten bedeutet für mich auch, zu meinen Wurzeln zurückzukehren und sie wertzuschätzen. Ist das nicht eine schöne Idee, ein bisschen so wie Rabindranath Tagores Gedanken zum Wachstum der Bäume?
Ich werde mehr wie eine Pflanze. Pflanzen rennen nicht herum, sie bleiben an ihrem Platz. Sie schlagen nährende Wurzeln und wachsen auf wunderschöne Weise – aber sie nehmen nie mehr, als sie brauchen.