Indigene Kultur | Indien

Afrikanische Identität im indischen Alltag

Die Volksgruppe der Siddi kam vor Jahrhunderten aus Ostafrika nach Indien. Seitdem pflegen deren Gemeinschaften eine ganz eigene Kultur. Ein Besuch
Vor einer blau gestrichenen Hütte mit niedrigem Dach tanzt ein Mann mit einigen Kindern von etwa zehn Jahren in der Sonne. Am Boden sitzt ein weiterer Mann und trommelt.

Manuel unterrichtet Siddi-Kinder in Mainalli im Tanzen. Er ist Landwirt und gibt in seiner Freizeit kostenlose Workshops für Kinder aus dem Dorf, damit sie alte Kulturtraditionen an die nächste Generation weitergeben können

Als mir mein Freund Loh Kok Hong, ein Dokumentarfilmer aus Singapur, ein Foto von Angehörigen eines indigenen Volkes in Indien schickte, fragte ich sofort; „Woher kommen sie?“ Dieses Bild veränderte meine Vorstellung von der Vielfalt meines Landes Indien grundsätzlich.

„Sie heißen Siddi. Sie sind Afrikaner, leben aber in deinem Land“, antwortete Loh und erklärte mir, dass über 50.000 Nachkommen von Afrikanern in abgelegenen Wäldern im Westen und Süden Indiens lebten.

Sie stammten von verschiedenen Bantu-Ethnien in Ostafrika ab und waren bereits vor Jahrhunderten nach Indien eingewandert. Er lud mich ein, mitzukommen auf eine Reise zu den Siddi.

Von einem sehr großen Baum mit einem dicken Stamm hängen Luftwurzeln herab. Einige Mädchen im Alter von etwa 7 Jahren hängen sich an die Luftwurzeln dran, andere stehen dabei. Sie tragen bunte Kleider und wirken fröhlich

Eine Gruppe von Mädchen spielt im Dorf Mainalli unter einem Baum

Verstreute Communities der Siddi

Spontan packte ich meine Koffer und machte mich auf die vierzigstündige Zugreise von Delhi nach Huballi im Bundesstaat Karnataka, um mehr über dieses Volk zu erfahren und Geschichten über ihren Überlebenskampf und ihre Widerstandsfähigkeit zu hören. Denn trotz aller Widrigkeiten ist es ihnen seit über 500 Jahren gelungen zusammen zu bleiben.

Die Gesamtzahl der Siddi in Indien beläuft sich auf etwa 50.000 bis 75.000. Mehr als ein Drittel von ihnen lebt im südwestlichen Bundesstaat Karnataka, die übrigen verteilen sich auf Gujarat und Andhra Pradesh. Weitere Gemeinschaften leben in Pakistan. 

In Yellapur in Karnataka trafen wir Ramnath Siddi. Erst 2003, so erzählt er, hätten die Gemeinschaften in Gujarat und Karnataka von der Existenz der jeweils anderen erfahren, da sie von verschiedenen Häfen ins Land gebracht wurden und sehr zurückgezogen lebten.

Innerhalb ihrer Communitys sind sie jedoch gut vernetzt und haben eine starke Bindung zueinander, die sie bei gemeinsam gefeierten Festen, mit Gesängen, Tänzen und Ritualen pflegen.

Auf einer sandigen Dorfstraße steht ein Mann in der Sonne. Zwei Jungs hängen an seinen Armen, ein weiterer sitzt auf seinen Schultern. Alle vier lachen. Links im Hintergrund ist eine Lehmhütte zu sehen mit Wäscheleine, die rechte Seite der Straße ist mit Büschen und Bäumen bewachsen.

Der Aktivist Ramnath Siddi spielt mit Siddi-Kindern in Yellapur. Er selbst erlebte Mobbing in der Schule und Kinderarbeit. Später war er einer der ersten seiner Gemeinschaft, der an einer Universität studieren konnte

Siddi sind häufig benachteiligt

Ramnath setzt sich dafür ein, die Identität seines Volkes zu festigen, und kämpft gegen Schuldknechtschaft und Kinderarbeit. Die Siddi gehören zu den sozio-ökonomisch am meisten benachteiligten Gruppen Indiens.

So berichtet Ramnath Siddi auch aus eigener Erfahrung, dass für die Kinder der Siddi Diskriminierung und Mobbing in den öffentlichen Schulen noch vor zehn Jahren alltäglich waren, da andere Kinder nichts mit ihnen zu tun haben wollten. Deshalb brachen viele Siddi-Kinder die Schule ab. Inzwischen habe sich die Situation jedoch verbessert.

In einem dunklen Raum sitzen etliche Jungen auf dem Boden und arbeiten mit Schulheften. Sie tragen Schuluniform. An den Wänden sind Schautafeln mit Bildern und Worten aufgehängt. Durch ein Oberlicht fällt ein greller Sonnenstrahl auf die Arbeitshefte am Boden.

Das Klassenzimmer einer staatlichen Schule in Yellapur. Siddi-Kinder erlebten in der Vergangenheit regelmäßig Ausgrenzung, weswegen viele Siddi-Kinder die Schule vorzeitig abbrachen

Einflüsse aus vielen Kulturen

„Unsere Frauen tragen Saris, wir sprechen eine Mischung aus Konkani, Marathi und Kannada, und wir essen Reis, Hülsenfrüchte und Fischcurry“, so beschreibt Ramnath ihre Lebensweise. Die Siddi gehören drei verschiedenen Religionen an: dem Hinduismus, dem Christentum und dem Islam.

Sie alle leben jedoch harmonisch zusammen, keine Glaubensgemeinschaft wird diskriminiert. Zuträglich sind dabei die Volksmusik und die Tänze, die konfessionsübergreifend den Kern ihrer einzigartigen Kultur bilden.

Von besonderer Bedeutung für die Gemeinschaft ist der Dhamal. Dieser als sehr spirituell geltende Volkstanz, auch bekannt als „Mashira Nritya“, wurde etwa nach der erfolgreichen Jagd aufgeführt. Während der Zeit der Könige dient er der Unterhaltung der Herrschenden.

Traditionell von der Dhol, einer doppelseitigen Trommel, und kleineren Musikinstrumenten begleitet, ist der Dhamal inzwischen eine actiongeladene Tanzvorführung. Manchmal werden Kokosnüsse in die Luft geworfen, die auf den Köpfen der Tänzerinnen und Tänzer zerspringen.

Mitunter tanzen die Siddi barfuß über glühende Asche, um ihre Tapferkeit und Kraft zu demonstrieren. In ihre Kostüme sind Blätter, Pfauenfedern und tropische Blumen eingearbeitet.

Porträt eines jungen Mannes vor einem breiten Baumstamm. Sein Gesicht ist mit weißen Streifen bemalt. Er hat einen nackten Oberkörper und trägt eine Krone aus Blättern. Er schaut direkt in die Kamera.

Der fünfzehnjährige David bereitet sich auf den Dhamal vor, den traditionellen Tanz der Siddi

Afrikanische Migration nach Indien

Die kulturellen Wurzeln der Siddi reichen über Jahrhunderte zurück. Wie mir Ramnaths 69-jähriger Vater, Subba Siddi, erzählte, kamen viele Siddi im 10. Jahrhundert als Sklaven ins Land, als ein Geschenk der Portugiesen für den Statthalter des indischen Fürstenstaates Junagadh.

Andere gelangten mit arabischen Kaufleuten nach Indien. Manche glauben auch, die Siddi seien ursprünglich aus dem nigerianischen Kano über den Sudan und Mekka, wohin sie der Hadsch, die Pilgerreise der Muslime führte, nach Indien gekommen. Was ihre Herkunft betrifft, bleibt einiges bis heute ungeklärt.

Bekannt für ihre Stärke und Kraft, wurden sie von den Königen angeheuert und verteilten sich auf immer mehr Regionen des Subkontinents. Trotz ihres Rufes als große Kämpfer arbeiteten die meisten Siddi-Stämme als Diener und auf den Feldern. Einige seien in die Wälder geflüchtet, um dort als eigene kleine Gemeinschaft zu leben, erklärte mir Subba.

Für mich war es eine große Freude, diese meine Landsleute und ihre reiche Kultur kennenzulernen. Ich habe mich sehr willkommen gefühlt. Als ich mich von Ramnath und seiner Familie verabschiedete, tanzten wir zu den Klängen afrikanischer Musik.