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Am Puls der Staaten

Liebe, Klassismus und Homophobie: In „Vor dem Sprung“ verwebt Brandon Taylor elf Geschichten aus den USA der Gegenwart

Porträtfoto des Autoren Brandon Taylor, er trägt einen gestreiften Pullover, hält das Knie mit beiden Händen umschlungen. Er trägt eine Brille und blickt nach links.

Der Autor Brandon Taylor

Lionel ist ein Mathematik-Doktorand, der sich nach einem langen Aufenthalt in der Psychiatrie wieder unter Leute traut. Für die anderen das Normalste der Welt, für ihn eine große Anstrengung. Bei ungezwungenen Zusammenkünften fühlt er sich unbeholfen, gleichzeitig hingezogen und abgestoßen, von einer Sehnsucht getrieben und von Enttäuschungen begleitet.

Er weiß nicht genau, warum er sich die Mühe macht, aber er macht sie sich: „Lionel senkte den Kopf und versuchte, sich auf das Essen zu konzentrieren. Die Gabel zum Mund zu heben und die Nudeln hineinzubefördern. Sie zu zerkauen. Hinunterzuschlucken. Satt und zufrieden auszusehen. Froh.“

Nachdem er den Teller mit Nudeln aus Ungeschicklichkeit fallen lässt und damit alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, lernt er Charlie und Sophie kennen, die beide Tanz studieren. Für genau vierundzwanzig Stunden begleiten wir Lionel bei seinen zaghaften Versuchen, die Balance zu finden – zwischen dieser aufkeimenden Freundschaft und dem Gefühl, dass ihm alles zu schnell geht.

Unterbrochen wird Lionels Geschichte immer wieder von anderen Storys, die nichts mit seinem Leben zu tun haben: In einer geht es um einen Jungen, der von seinen Eltern auf eine Farm geschickt werden soll, weil er angeblich auf die schiefe Bahn gekommen ist. Doch er versteht gar nicht, was seine Eltern überhaupt von ihm erwarten.

Eine andere Episode dreht sich um zwei Frauen, die sich ineinander verlieben, obwohl etwas zwischen ihnen steht: Sigrid ist Literaturwissenschaftlerin, Marta hingegen schiebt Schichten in einem Werk und versteht in den Gesprächen mit Sigrid oft nur Bahnhof. Immer wieder geht es bei den kurzen Geschichten um die amerikanische Gesellschaft – und ihre vielschichtigen Probleme.

Rassismus, Klassismus und Homophobie werden hier genauso aufgegriffen wie psychische und physische Erkrankungen. Und gerade die Intersektionalität spielt eine Rolle, also die Frage: Was passiert eigentlich, wenn sich diese Formen von Ausgrenzung im Leben einzelner Menschen überlagern? Wenn jemand beispielsweise Schwarz und schwul ist?

Voller Selbstzweifel suchen die Studierenden die Geselligkeit mit ihresgleichen, weil ihr ganzes Selbstbewusstsein darauf aufbaut: „So als wäre die akademische Welt ein Satellit, der in regelmäßigen Abständen ein Signal aussendet, um einem mitzuteilen, wer und wo man ist.“

„Wer in Taylors Buch welche Hautfarbe hat, ist nicht offensichtlich“

Dann gibt es noch die anderen „Filthy Animals“– so der amerikanische Originaltitel. Die vermeintlich „unbeteiligten“, meist einfach unfähigen und heillos überforderten Eltern. Nur eine Person scheint alles richtig zu machen, und das ist eine schöne Frau: Sophie, die Tänzerin.

Ihre Engelsgeduld mit Lionel rührt vielleicht daher, dass sie selbst eine schwere Jugend hatte. Dass Sophie mit Charlie in einer offenen Beziehung lebt und mit beiläufigen Berührungen keineswegs geizt, verdreht Lionel, der eigentlich auf Männer steht, dann auch ordentlich den Kopf. Nicht einmal auf die eigene „Identität“ ist Verlass.

Brandon Taylor liest sich wie warme Butter. Auch der Übersetzung von Maria Hummitzsch und Michael Schickenberg ist es zu verdanken, dass das Underdog-Motiv nicht zu larmoyant wird und die Beschreibung einer drögen WG-Party kein bisschen dröge ist. Von der schlechten Musik im Hintergrund sagt Taylor, sie sei „so überzeugend wie ein Plakat für Chancengleichheit“.

Das alles könnte auch eine Netflix- oder HBO-Serie sein. Doch gerade das, was Literatur kann und was Serien nicht können, führen Taylors Erzählungen uns glänzend vor Augen: Denn wer hier welche Hautfarbe hat, ist nicht offensichtlich. Beim Lesen entstehen die Bilder im Kopf erst nach und nach – und weil man sie dabei auch manchmal revidieren muss, leuchtet überall und immer wieder die Frage auf: Was, wenn es anders wäre?