Die große Teevolution
Unter dem Hashtag #milktearevolution organisieren sich in Südostasien immer mehr Menschen gegen Autokratie und Zensur. Was steckt hinter der Onlinebewegung?
Im Mai 2020 tweetete der thailändische Schauspieler Vachirawat Cheeva-aree ein Bild der Hongkonger Skyline. In dem zugehörigen Post bezeichnete er Hongkong als „country“, also als ein eigenständiges Land. Für chinesische Nationalisten war das ein Affront. Immerhin pocht die Volksrepublik bis heute auf ihren Besitzanspruch gegenüber der ehemaligen britischen Kolonie.
Und so ging schon bald ein chinesischer Internetmob auf Cheeva-arees Tweet los. Der Schauspieler wurde zu einer Entschuldigung genötigt und löschte das Bild letztlich sogar. Doch die chinesischen User hatten Lunte gerochen. Nun wühlten sie sich auch durch den Instagram-Account des thailändischen Models Weeraya Sukaram – Cheeva-arees Lebensgefährtin.
Und siehe da, auch dort wurden sie fündig: Bei einem Trip nach Taiwan hatte Sukaram den Inselstaat ebenfalls als eigenständige Nation bezeichnet. Ein weiterer Shitstorm brandete auf.
Bevor dieser sich jedoch Bahn brechen konnte, passierte etwas Unerwartetes: Die thailändische Community schaltete sich in die Diskussion ein, und plötzlich drehte sich der Wind. Immer mehr Menschen aus ihrer Heimat sprangen den beiden thailändischen Popstars zur Seite – und trollten zurück.
Sie bombardierten die chinesischen Nationalisten mit Memes, die ihre breite Inspiration aus der Popkultur zogen: Figuren aus den Avenger-Filmen tummelten sich neben abwertenden Referenzen auf die Ein-China-Politik, die Taiwan, Hongkong und Macau als Chinas Eigentum deklariert.
Die Gegenbewegung in den sozialen Medien wuchs rasant und auch immer mehr Userinnen und User aus Hongkong und Taiwan gesellten sich hinzu, kritisierten die chinesische Onlinezensur und wehrten sich gegen die Nationalisten vom chinesischen Festland.
Ihre Posts versahen dabei immer mehr Menschen mit dem Hashtag #MilkTeaAlliance, eine Solidaritätsbekundung, die auf den Umstand anspielt, dass sowohl in Thailand als auch in Hongkong und Taiwan gerne sogenannte Milchteegetränke konsumiert werden – wenn auch in unterschiedlicher Form: als kalter „Bubbletea“ in Taiwan, heiß und stark in Hongkong und gesüßt und mit Kondensmilch versehen in Thailand. Von heute auf morgen war die Allianz der Milchteetrinker geboren.
Für den asiatischen Kontinent war diese Entwicklung ein Novum, ist es doch eher ungewöhnlich, dass Menschen dort in großem Stil grenzübergreifende Solidarität bekunden. Und doch kam die Milk Tea Alliance, so spontan sie sich auch bildete, nicht völlig wahllos zustande.
Im Gegenteil: Im Sommer 2019, also gut ein Jahr vor Cheeva-arees Twitter-Post, waren die ersten Proteste in Hongkong entbrannt, bei denen Millionen von jungen Menschen und Studierenden gegen das von China geplante Auslieferungsgesetz auf die Straße gingen. 2020 folgten auch Proteste in Thailand, wo sich gerade die jüngeren Generationen erstmals gegen die Herrschaft der Militärjunta in Stellung brachten.
Und bereits sechs Jahre zuvor hatte sich in Taiwan – als Antwort auf mehrere geplante Handelsabkommen zwischen Taipeh und Peking – die sogenannte Sonnenblumen-Bewegung gebildet. Ähnlich wie in Hongkong, wo sich zu diesem Zeitpunkt bereits die heute so prominente Regenschirm-Bewegung sammelte, wurde auch in Taiwan schon damals gegen die übergriffige Politik Chinas protestiert.
„Der politische Protest gegen autokratische Machtstrukturen wird so im Netz zunehmend zu einer grenzübergreifenden Angelegenheit“
Was all diese Protestbewegungen vereinte, war ihre prodemokratische und antiautoritäre Ausrichtung und – zumindest im Fall von Hongkong und Taiwan – auch ihre chinakritische Haltung. Mit der analogen Solidarität tat man sich jedoch lange Zeit schwer. Zwar unterstützen manche taiwanische Aktivistinnen und Aktivisten 2019 die Proteste in Hongkong und schickten Schutzhelme und Gasmasken in den Stadtstaat, als die dortigen Vorräte schwanden.
Zudem erklärte Taipeh sich bereit, Asylsuchende aus Hongkong aufzunehmen. Mit den Protesten in Thailand solidarisierten sich allerdings nur wenige. Während in Taiwan Tausende Menschen für ihre Brüder und Schwestern in Hongkong auf die Straße gingen, lockten Solidaritätskundgebungen für die Proteste in Thailand 2020 nur wenige Hundert Demonstranten aus dem Haus.
Dieses Blatt wendet sich dank der Milk Tea Alliance jedoch nun. Zwar bildet auch die Onlinebewegung, die vor allem von jungen, kosmopolitischen und liberalen Mitstreiterinnen und Mitstreitern lebt, weiterhin nur einen Bruchteil der Bevölkerung in Taiwan, Hongkong und Thailand ab. Im Netz solidarisiert es sich allerdings einfacher.
Bereits heute tauschen sich viele der Anhänger der Allianz aktiv über ihre Erfahrungen aus: Wie schützt man sich vor digitaler Überwachung, wie vor Tränengas, Wasserwerfern und den Schlagstöcken der Bereitschaftspolizei? Fragen wie diese haben sich die meisten von ihnen in der Vergangenheit schon stellen müssen.
Gleichzeitig hat sich die Bewegung längst auch über ihr ursprüngliches Entstehungsgebiet hinaus ausgebreitet: Auch in Indien und in Myanmar, wo die Regierung zuletzt vom Militär gestürzt wurde, taucht der Hashtag #MilkTeaAlliance mittlerweile immer öfter auf, sei es als Protest gegen den eigenen Staat oder als Untermauerung von chinakritischen Posts in den sozialen Medien. Der politische Protest gegen autokratische Machtstrukturen im Inneren und zum Teil auch gegen die chinesische Einmischung von außen wird so im Netz zunehmend zu einer grenzübergreifenden Angelegenheit.
Für Peking und die Regierenden in Südostasien scheint das mittlerweile ein echtes Ärgernis darzustellen. Dass sie die Milk Tea Alliance genau verfolgen, zeigen nicht zuletzt die Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit: So wurden in Taiwan drei Männer festgenommen, die mittlerweile beschuldigt werden, die Drahtzieher einer chinesischen Desinformations-Kampagne gegen die Milk Tea Alliance zu sein.
Berichten zufolge wollten sie eine Reihe von Dokumenten fälschen, die belegen sollten, dass die Allianz von der taiwanischen Regierung und den USA ins Leben gerufen wurde, um China zu schaden. Eine Erinnerung daran, dass in Asien auch der digitale Protest echte Konsequenzen haben kann.
Denn dort, wo das Internet genau überwacht wird, werden selbst Memes und private Posts von den Regierenden mitunter in ein Narrativ der Revolution und des Umsturzes eingeordnet. Vorfälle wie diese können einschüchtern – oder eine Allianz noch fester zusammenschweißen.
Aus dem Englischen von Fabian Ebeling