Rebellion mit Ansage
Für viele Beobachtende im Ausland kamen die Proteste im Iran überraschend. Doch wer die Islamische Republik kennt, weiß: Den Kampf der Frauen gegen Unterdrückung und Gewalt gibt es hier schon seit Jahrzehnten
In Evin, dem berüchtigten Gefängnis im Norden Teherans, in dem viele politische Gefangene inhaftiert sind, erinnerte sich ein ehemaliger Insasse an das handgeschriebene Schild das an Shirin Alam Hoolis Bett angebracht war: „Jin, Jian, Azadi“ („Frau, Leben, Freiheit“).
Shirin, eine 28-jährige iranische Kurdin, hätte sich nie vorstellen können, dass dieses Motto einmal zum Slogan einer der am weitreichendsten revolutionären Bewegungen des 21. Jahrhunderts werden würde. Sie wurde der Zusammenarbeit mit kurdischen Oppositionsgruppen beschuldigt und 2010 von der Islamischen Republik hingerichtet.
Die Parole „Jin, Jian, Azadi“ hat ihren Ursprung in den Widerstandsbewegungen der Kurden in der Türkei und in Syrien. Sie wurde in den 1990er-Jahren von Abdullah Öcalan, einem politischen Gefangenen und Gründungsmitglied der militanten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), erdacht, und Jahrzehnte später nutzten syrisch-kurdische Frauen die gleichen Worte als Schlachtruf in ihrem Kampf gegen den IS.
Seit der Ermordung von Mahsā Jîna Amīnī ist „Frau, Leben, Freiheit“ nun millionenfach zu hören, nicht nur im Iran, sondern in der ganzen Welt. Mahsā Jîna, eine 22-jährige Kurdin, die ihre Verwandten in Teheran besuchte, wurde von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet, weil sie sich nicht vollständig an die von der Regierung vorgeschriebenen Kleidungsvorschriften hielt.
„All diese Aktionen waren spontan, wurden von Frauen angeführt und von Männern unterstützt“
Noch ist unklar, was im Polizeiwagen und in der Haft mit ihr geschah, aber zwei Stunden später fiel sie in ein Koma und wurde ins Teheraner Kasra-Krankenhaus gebracht. Bereits kurz nach Bekanntwerden ihrer Einlieferung fand dort die erste spontane Protestaktion statt.
Drei Tage später, am 16. September, verstarb Mahsā Jîna. Die Sicherheitskräfte versuchten, ihre Familie zum Schweigen zu bringen, wie es die iranische Regierung in ähnlichen Situationen oft tut.Doch dieses Mal klappte es nicht.
Auf dem Yakhchi-Friedhof in Saqqez in der iranischen Provinz Kurdistan versammelten sich Menschen und begannen, Sprechchöre zu schmettern. Auch der Ruf „Frau, Leben, Freiheit“ wurde hier erstmals laut. Bald darauf kam es auch in anderen kurdischen Städten und in weiteren Teilen des Iran zu Protesten.
All diese Aktionen waren spontan, wurden von Frauen angeführt und von Männern unterstützt. In mehreren Städten waren dabei auch Szenen zu sehen, in denen Frauen „Frau, Leben, Freiheit“ skandierten, ihre Kopftücher wegwarfen, sie verbrannten, um das Feuer tanzten und sich aus Trauer und Protest die Haare abschnitten. In der langen Geschichte des Kampfes iranischer Frauen gegen die Hidschab-Pflicht war das ein neues Phänomen.
„Die Wahrheit ist, dass hinter diesem Mut ein jahrelanger Kampf gegen die gewalttätigen Kräfte der Islamischen Republik steht“
Auf Beobachtende im Ausland wirkte der Mut der iranischen Frauen zunächst überraschend und verwirrend. Wie können diese Frauen einfach so ihr Leben aufs Spiel setzen? Woher nehmen sie den Mut, bewaffneten Polizisten und Soldaten entgegenzutreten? Wie können sie das Risiko eingehen, verhaftet und in berüchtigten iranischen Gefängnissen eingesperrt zu werden, in denen Folter an der Tagesordnung ist?
Doch die Wahrheit ist, dass hinter diesem Mut ein jahrelanger Kampf gegen die gewalttätigen Kräfte der Islamischen Republik steht und ein täglicher Widerstand gegen jene, die versuchen, die Kopftuchpflicht und andere diskriminierende Gesetze durchzusetzen.
Die Rechtsordnung des Iran, die dort seit der islamischen Revolution von 1979 in Kraft ist, ist so tiefgreifend frauenfeindlich, dass die Islamische Republik manchmal auch als „Geschlechter-Apartheid“ bezeichnet wird. Kein Wunder also, dass die Unzufriedenheit mit diesem System schon seit Jahrzehnten schwelt.
Im Fall der Hidschab-Pflicht begann der Widerstand nur einen Monat nach der islamischen Revolution, am Internationalen Frauentag, dem 8. März 1979. Die Kundgebung wurde damals gewaltsam unterdrückt und fand selbst bei den nicht islamistischen politischen Parteien keine breite Unterstützung.
„In den vergangenen Jahren hat dieser Kampf gegen den Hidschab-Zwang im öffentlichen Raum immer sichtbarere Form angenommen“
Gegen Frauen, die sich der neuen Ordnung widersetzten, wurde Gewalt angewendet. Ab den 1980er-Jahren wandelte sich der Kampf gegen den Hidschab-Zwang dann langsam zu dem, was der iranisch-amerikanische Gelehrte Asef Bayat „quiet en-croachment“ oder „stilles Vordringen“ nennt: ein langsamer, aber kontinuierlicher und alltäglicher Kampf, um die Grenzen des Hidschab-Zwangs zu verschieben.
Um dieses langsame Vordringen zu kontrollieren, wurde 2005 die Sittenpolizei gegründet. Eine Einheit, die extrem gewaltsam gegen Frauen vorgeht, insbesondere dann, wenn sie sich Verhaftungen auf offener Straße widersetzen.
In den vergangenen zehn Jahren hat dieser zunächst stille Kampf gegen den Hidschab-Zwang im öffentlichen Raum immer sichtbarere Form angenommen. Frauen begannen, ihr Kopftuch abzulegen, wo immer sie konnten.
2014 startete die Exiljournalistin Masih Alinejad, eine Facebook-Kampagne mit dem Titel „My Stealthy Freedom“, auf Deutsch „Meine heimliche Freiheit“, bei der Frauen Fotos von sich ohne Hidschab posten konnten und ein Ende des Hidschab-Zwangs forderten.
„Je aktiver und öffentlicher der Kampf gegen den Hidschab-Zwang wurde, umso brutaler wurde das Vorgehen des Regimes“
Die Kampagne wuchs schnell und machte deutlich, wie groß die Unzufriedenheit und Wut der Frauen auf die Hidschab-Pflicht wirklich war, ein Gebot, das bis dahin angeblich von der Mehrheit der Bevölkerung als „Norm“ akzeptiert wurde. Im Dezember 2017 stellte sich eine junge Frau namens Vida Movahed in der Hauptstadt Teheran auf einen Stromverteilerkasten und band ihr Kopftuch an einen Stock.
Diese Aktion, für die Movahed die zentrale und symbolträchtige Enghelab-Straße, also die „Revolutionsstraße“, wählte, beflügelte eine Welle von ähnlichen Protesten und stellte im Kampf gegen die Kopftuchpflicht einen Wendepunkt dar. Die fortan Demonstrierenden wurden im Iran als die „Mädchen der Enghelab-Straße“ bekannt.
Je aktiver und öffentlicher der Kampf gegen den Hidschab-Zwang wurde, umso brutaler wurde das Vorgehen des Regimes. Viele Frauen landeten im Gefängnis, einige wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
So zum Beispiel Yasaman Ariani und Saba Kord-Afshari, die für fünf beziehungsweise 24 Jahre ins Gefängnis gesteckt wurden. Je gewaltsamer das Regime den Kampf gegen den Hidschab unterdrückte, desto lauter und beharrlicher wurden jedoch auch die Forderungen der Frauen.
„Die politischen Ansichten der Unterstützenden reichen von links bis rechts, von radikalen Feministinnen bis zu Monarchisten“
Obwohl die Liste der Frauen, die im Iran gegen den Hidschab-Zwang und für die Frauenrechte gekämpft haben, endlos ist und ihre Bemühungen viele inspirieren, ist die aktuelle revolutionäre Bewegung führerlos. Sie ist inzwischen vielmehr eine Art Megabewegung, an der sich alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligen: von Frauen über ethnische Minderheiten bis hin zu organisierten Arbeitern.
Die Führungspersonen all dieser Gruppen rufen zu Protesten und Streiks auf. Zudem geht die Bewegung auch nicht explizit von einer bestimmten Schicht aus, sondern repräsentiert ein breites Spektrum an sozialen Schichten.
Und auch die politischen Ansichten der Unterstützerinnen und Unterstützer reichen von links bis rechts, von radikalen Feministinnen bis zu Monarchisten. „Frau, Leben, Freiheit“ hat sich jedoch trotz dieser Vielfalt als der zentrale Slogan der aktuellen Bewegung etabliert.
In der Öffentlichkeit gegen die staatlich vorgegebene Kleiderordnung zu verstoßen, ist mittlerweile eine der häufigsten Aktionen, um sich öffentlich mit der Bewegung zu solidarisieren. Als die Sicherheitskräfte zuletzt brutal gegen die Demonstrierenden vorgingen, postete die junge Journalistin Donya Rad deshalb inmitten des Chaos ein Bild von sich auf Twitter.
„Ähnlich inspirierend wirkte die Aktion berühmter iranischer Schauspielerinnen, die öffentlich ihren Hidschab ablegten“
Es zeigte sie zusammen mit einer anderen Frau beim Frühstück in einem Café im Süden Teherans – ohne Kopftuch und ohne den üblichen Mantel, der den Oberkörper verdeckt. Das ikonische Foto verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Internet. Kurz darauf wurde Donya verhaftet, einige Wochen später saß sie im Gefängnis.
Ähnlich inspirierend wirkte die Aktion berühmter iranischer Schauspielerinnen und Prominenter wie Katayoun Riahi, Maryam Palizban und Maryam Bobani, die öffentlich ihren Hidschab ablegten. Denn mit diesem Schritt gaben die Frauen von einem Tag auf den anderen ihre Karrieren auf.
Und selbst Gohar Eshghi, die mittlerweile achtzigjährige und streng religiöse Mutter des regimekritischen Bloggers Sattar Beheshti, der 2012 verhaftet und später unter Folter im Gefängnis getötet wurde, meldete sich zu Wort. In einem Video legte sie ihren Hidschab ab und rief die Menschen dazu auf, sich den Protesten anzuschließen.
Aktuell zeichnet sich die Bewegung neben ihrem schnellen Wachstum vor allem auch durch die Beteiligung von Mädchen und Kindern aus. Dafür sprechen unter anderem auch die horrenden Statistiken rund um die anhaltenden Proteste.
„Bereitschaftspolizei und Milizen greifen die Protestierenden an, in den Schulen werden Mädchen verprügelt“
Denn obwohl das Regime auch in der Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt ist, Minderjährige zu töten, ist die Zahl der mutmaßlich vom Regime getöteten Kinder diesmal viel höher als bei vorangegangenen Demonstrationen. So kamen im Zuge der Proteste nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen bislang mindestens 33 Teenager ums Leben.
In Gymnasien im ganzen Land und selbst in abgelegenen Dörfern haben Mädchen ihre Stimme erhoben. Das Ablegen des Hidschabs, Sprechchöre und das Zerreißen und Verbrennen von Bildern der obersten Führer Khomeini und Khamenei seien in Schulen mittlerweile an der Tagesordnung, erzählt etwa ein Gymnasiallehrer aus einem ärmeren Viertel Teherans: „Obwohl viele der Mädchen hier arm und teilweise sogar unterernährt sind, gehen sie nach der Schule zu den Protesten und verteilen Flugblätter mit handgeschriebenen revolutionären Slogans.“
Die Reaktion des Regimes auf diese Aktionen ist einmal mehr schockierend brutal. Bereitschaftspolizei und Milizen greifen die Protestierenden an, in den Schulen werden Mädchen verprügelt und in Gewahrsam genommen.
„Selbst schreckliche Gewalttaten wie diese haben die Mädchen bislang jedoch nicht davon abgehalten, weiter zu protestieren“
So wurde zuletzt die 15-jährige Asra Panahi bei einem schrecklichen Angriff auf ein Gymnasium in Ardabil in der Region Aserbaidschan von der staatlichen Bereitschaftspolizei zu Tode geprügelt. Der Grund laut den Behörden: Zusammen mit ihren Mitschülern hatte sie sich geweigert, eine regierungsfreundliche Hymne zu singen.
Selbst schreckliche Gewalttaten wie diese haben die Mädchen bislang jedoch nicht davon abgehalten, weiter zu protestieren. Sie kann scheinbar nichts mehr erschüttern. Ein Videoclip, der auf Twitter viral ging, veranschaulicht die Entschlossenheit der Regimegegner im Iran vielleicht am besten.
In der Aufnahme stoppen iranische Sicherheitskräfte drei Schülerinnen, die einen Sprechchor angestimmt haben. „Von welcher Schule seid ihr? Wie heißt ihr?“, fragen die Beamten aggressiv. „Wir sind von der Freiheitsschule“, antworten die Mädchen. Dann fährt eine von ihnen fort: „Mein Name ist Mahsā“, die zweite sagt: „Und mein Name ist Nika“; das dritte Mädchen sagt: „Und mein Name ist Sarina.“ Es sind die Namen der Frauen und Mädchen, die in den vergangenen Monaten vom Regime getötet wurden.