Krieg und Frieden | Bosnien

Bosnien: Ukraine-Krieg ruft Traumata wach

Für viele Menschen in Bosnien ist der Überfall durch serbisches Militär noch immer sehr präsent. Kein Wunder, dass der Krieg in der Ukraine alte Traumata reaktiviert. Ein Gespräch über Erinnerung und Heilung

Der bosnische Schriftsteller Faruk Šehić an der Spree in Berlin. Foto: Jasper Kettner / DAAD

Interview von Sophie Tiedemann 

Der Krieg kam am 21. April 1992 in Ihre Heimatstadt, nach Bosanska Krupa im Westen Bosniens. Wie haben Sie den Anfang des Krieges erlebt?

Jede Stadt in Bosnien hatte ihren eigenen Kriegsbeginn. Deshalb fällt es uns auch bis heute schwer, eine gemeinsame Erzählung darüber zu finden. Als der Krieg schon im östlichen Teil des Landes tobte, genoss ich noch den Frieden in meiner Heimatstadt Bosanska Krupa. Ich saß vor dem Casablanca-Café, in dem ich viel Zeit verbrachte, und trank Bier. Ich war ein ganz normaler 22-Jähriger aus der Mittelschicht.

Aber in meinem Hinterkopf wuchs schon das Wissen, dass der Krieg auch zu uns kommen würde. In so einer Situation versucht man, mit seinem normalen Leben fortzufahren.

„Als der Krieg schon im Osten des Landes tobte, genoss ich noch den Frieden in meiner Heimatstadt Bosanska Krupa“

Während ich damit beschäftigt war, meinen Alltag so normal wie möglich zu gestalten, hob die Jugoslawische Volksarmee bereits Schützengräben in unseren Vororten aus. Im Jahr 1992 stand die Armee schon unter serbischer Kontrolle.

Zu dem Zeitpunkt wurden außerdem auch paramilitärische Gruppen gegründet, und sämtliche Waffenarsenale verblieben in den Händen serbischer Nationalisten. Ich war Zivilist – bis besagte serbische Nationalisten begannen, von den umliegenden Hügeln auf uns zu schießen.

Kurz darauf haben Sie sich der bosnischen Armee angeschlossen. Was hat Sie dazu gebracht?

Im Endeffekt habe ich für mein eigenes Leben gekämpft, für meine Stadt, meine Straße, meine Wohnung, meine Eltern und meine Freunde. Ich glaubte sehr stark an ein Bosnien, das weiterhin multikulturell sein würde. Noch heute glaube ich daran. Damals wie heute bin ich überzeugter Antinationalist.

„Ich glaubte sehr stark an ein Bosnien, das weiterhin multikulturell sein würde. Noch heute glaube ich daran“

Ein multiethnisches Bosnien – das war das Land, für das ich mich einsetzte. Und uns schlossen sich auch Serben an, das wird häufig vergessen. Wir waren eine multiethnische Gruppe und sahen uns alle als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, das sich gegen nationalistische Aggressoren wehrte.

In einem Essay für den britischen Guardian, in dem Sie sich direkt an die Menschen in der Ukraine wenden und von Ihrer Erfahrung im Bosnienkrieg erzählen, schreiben Sie: „Die Erfahrung des Krieges ist eine Rückkehr in die Steinzeit.“ Was meinen Sie damit?

Die serbischen Nationalisten wollten unsere Kultur ausradieren. Sie bombardierten Theater und Bibliotheken – und wollten uns damit in die Steinzeit zurückbringen. Ähnliches sehen wir heute in ukrainischen Städten, in denen gezielt Museen und andere kulturelle Einrichtungen angegriffen werden.

Oft gab es tagelang keinen Strom, wir konnten kein Radio hören und keine Nachrichten lesen. Es fühlte sich an, wie auf einer verlassenen Insel zu leben. Wir waren vollkommen abgeschnitten vom Rest der Welt.

Trotzdem hat Sarajevo heute eine sehr lebendige Erinnerungskultur. Wie kam es dazu?

Genau deshalb! Wir kämpften dafür, unsere Kultur zu bewahren. Selbst während des Krieges veranstalteten wir Konzerte im Untergrund, hielten Lesungen in den Bunkern Sarajevos ab.

Verschiedene Schriftstellerinnen und Künstler aus anderen Ländern besuchten und unterstützten uns, Susan Sontag beispielsweise. Bis heute finde ich meine Wurzeln vor allem in der Kultur: in den Büchern, die ich lese, und in der Musik, die ich höre.

In den Nachkriegsjahren wurden Sie schließlich Schriftsteller. Bis heute verarbeiten Sie Erfahrungen des Krieges in Ihrer Literatur.  Was hat Sie zum Schreiben bewegt?

Nach Kriegsende wurde das Schreiben für mich zur Obsession. Ich schrieb jeden Tag und konnte nicht mehr damit aufhören. Ich merkte, dass es etwas in mir gab, das verarbeitet werden musste.

„Jemand, der einen Krieg erlebt hat, braucht eine Möglichkeit, das Erlebte nach außen zu bringen. Viele Menschen können das nicht“

Viele Menschen tragen dieselbe Erfahrung wie ich in sich. Aber sie finden keinen künstlerischen Ausdruck dafür. Jemand, der einen Krieg erlebt hat, braucht eine Möglichkeit, das Erlebte nach außen zu bringen. Viele Menschen können das nicht.

Deshalb gibt es so viele Überlebende in Bosnien, die zwar den Krieg überlebten, aber in gewisser Weise das Danach nicht. Entweder sind sie mental noch immer in den Kriegsjahren gefangen. Oder sie stecken fest in der Nostalgie für das Jugoslawien, in dem sie einst lebten.

Für mich war es anders: Ich fand einen sprachlichen Ausdruck für meine Erfahrungen. Und das fühlte sich an, als würde sich der Nebel, der mich bis dahin umgeben hatte, plötzlich lichten. Ich konnte wieder klar sehen, hatte wieder eine Richtung im Leben.

Viele Überlebende des Bosnienkrieges berichten davon, dass der russische Angriffskrieg alte Traumata triggert. Wie ist das für Sie?

Seit dem 24. Februar 2022 leben wir Bosnierinnen und Bosnier in einem kontinuierlichen Déjà-vu. In der Ukraine passiert fast dasselbe wie bei uns damals.

Ich erinnere mich, dass ich schon am ersten Tag der Invasion sagte, dass die russische Armee bald Kriegsverbrechen begehen würde. Denn die chronologische Abfolge solcher Ereignisse ist mir sehr vertraut.

„Seit Kriegsbeginn in der Ukraine leben wir Bosnierinnen und Bosnier in einem kontinuierlichen Déjà-vu“

Und leider weiß ich auch, dass einige Kriegsverbrechen erst in sehr vielen Jahren aufgeklärt werden. In Bosnien haben wir selbst jetzt, dreißig Jahre nach dem Krieg, noch nicht jede einzelne Tragödie aufgeklärt.

Und noch immer sieht man regelmäßig in den Zeitungen Schlagzeilen darüber, dass neue Massengräber entdeckt worden sind.

„Die Wunden werden niemals heilen, aber man kann und muss mit ihnen leben”, schreiben Sie…

Nach dem Krieg, und so wird es vermutlich auch in der Ukraine sein, gab es eine Zeit des Jubelns, eine Freude darüber, dass das Sterben vorbei ist. Das wirklich Traurige kommt erst in den Jahren danach.

Es wird Geflüchtete geben, die nie wieder zurückkehren werden, die jetzt schon Teil einer anderen Gesellschaft fernab ihres Heimatlandes sind. Menschen, die ihre Familienmitglieder und Freunde verloren haben. Verwandte, die erfolglos nach ihren Angehörigen suchen.

Jede Stadt kann wieder aufgebaut werden, und man kann auch lernen, mit der Vergangenheit zu leben. Aber irgendetwas wird immer fehlen. Das Trauma des Verlustes, ob es der Verlust von Angehörigen, vom eigenen Zuhause oder vom grundlegenden Gefühl der Sicherheit ist, das wird ein ganzes Leben lang präsent sein.

Was hat Ihnen geholfen, damit umzugehen?

Schon während des Krieges war es meine größte Hoffnung, mein normales Leben fortführen zu können. Ich wollte in meine Wohnung zurückkehren, am linken Flussufer in Bosanska Krupa gelegen.

Ich erinnerte mich an die Zeit vor dem Krieg: Das ganze Jahr über warteten wir auf den Sommer, und wenn es schließlich so weit war, schwammen und tauchten wir in der Una, gingen mit selbstgebauten Holzbooten fischen. Es war das Paradies.

„Das Wichtigste war meine unbändige Lust auf das Leben, das noch vor mir liegt“

Das realisierten wir aber erst, als der Krieg begann. Dass es niemals möglich sein würde, wieder in dieses Leben zurückzukehren, war mir damals noch nicht bewusst. Aber das Wichtigste während all dieser Zeit und auch nach dem Krieg war meine unbändige Lust auf das Leben, das noch vor mir liegt. Das hat mir geholfen, weiterzumachen.