Die Belagerung von Delhi
Seit einem Jahr demonstrieren Bauern vor den Toren der indischen Hauptstadt gegen eine geplante Agrarreform. Erreicht haben sie bislang wenig. Doch Aufgeben ist keine Option
Es ist Mittagszeit an einem Dienstag im Sommer. Die Luft ist stickig und feucht und die Temperatur beträgt 46 Grad im Schatten. An der nördlichen Grenze von Neu-Delhi, nahe dem Dorf Singhu, rollen Autos auf der Schnellstraße vorüber, an deren Rand Tausende Landwirte campieren. Es sind so viele, dass Autofahrer hier für ganze 15 Kilometer nichts als Zelte sehen. Ein Teil der Straße ist vollständig abgesperrt.
Seit dem vergangenen November steht hier das Protestcamp der Bauern. Damals zogen sie zu Tausenden zum Protest gegen die Regierung in die indische Hauptstadt ein. Die Polizei drängte sie zurück und errichtete kurzerhand eine Barrikade aus Stacheldraht und Zementblöcken, um sie aufzuhalten.
Auf der anderen Seite dieser Absperrung haben die Protestierenden seitdem ihr eigenes Symbol des Widerstands errichtet: Neben Zelten und Verkaufsständen steht dort ein Podium, ausgestattet mit Mikrofonen, Tischventilatoren, Stühlen und einer batteriebetriebenen Lautsprecheranlage. Von dort sprechen regelmäßig die Gewerkschaftsführer.
„Das hier ist für unsere Zukunft“, sagt ein junger, bärtiger Mann, der eine kleine, improvisierte Bibliothek neben der Bühne betreut. „Wir müssen für sie kämpfen.“ Er zögert, bevor er seinen Namen nennt: „Zia Ur Rehman“. Er hat eine sanfte Stimme und trägt ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Facilitate, Educate, Agitate“.
Diese T-Shirts gibt es für hundert Rupien an einem Stand neben der Bühne zu kaufen. Ich frage ihn, warum er hier ist. „Das kann ich dir erst sagen, wenn ich dir vertraue“, sagt er. „Und Vertrauen muss man aufbauen.“ Ich frage ihn, wie ich das machen soll. „Das braucht Zeit“, sagt er, überrascht von meiner Naivität.
„Die Wut ist nicht fort, sie hat sich stabilisiert: Aus den spontanen Straßendemos sind feste Protestcamps geworden“
Aber von vorn: Im September 2020 verabschiedete die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi drei neue Landwirtschaftsgesetze. Das Ziel der Reform ist, die bislang geschützten indischen Agrarmärkte zu öffnen, für mehr Umsatz, mehr nationalen und internationalen Handel und mehr Wirtschaftswachstum.
Doch in Indiens größtenteils ländlicher Bevölkerung lösten die Gesetze eine Welle der Empörung aus. Laut den Bauernverbänden binden sie die Landwirte an unvorteilhafte Verträge, von denen am Ende bloß die mächtigen Agrarkonzerne profitieren. Einige Landwirte halten die Pläne der Regierung sogar für eine neue Form der Zwangsarbeit.
Wie massiv die Proteste waren, die damals ausbrachen, wird deutlich, wenn man sieht, dass sie sich bis heute weiterhin hartnäckig halten – auch wenn sie sich seitdem in ihrer Form grundlegend verändert haben. Denn die Wut rund um Neu-Delhi ist nicht fort, sondern hat sich stabilisiert: Aus den spontanen Straßendemos sind mittlerweile feste Protestcamps geworden, die das Stadtbild prägen.
Ein Teil dieser Entwicklung ist auch dem Zeitpunkt der Proteste geschuldet: Die ersten Demonstranten kamen in Neu-Delhi im Winter 2020 an und wurden bald schon von den rapide sinkenden Temperaturen zur Improvisation gezwungen. Schnell wurden damals mobile Heizkörper herangeschafft, um in den spontan errichteten Zeltlagern für annehmbare Temperaturen zu sorgen.
Und allerorten tauchten Öfen auf, mittels derer Gewerkschaftler und sogar Vertreter der Medien mit warmem Essen – und mitunter sogar mit Pizza – versorgt werden konnten.
Eine Tatsache, die einige der Journalisten, nachdem sie sich satt gegessen hatten, zur Hauptsendezeit aufs Korn nahmen. Pizza essen inmitten einer Revolution? Für die staatsnahen Medien war das zeitweise ein gefundenes Fressen, um die Legitimität der Proteste infrage zu stellen und sie zu parodieren.
„Jagmeet betreut das erste Fitnessstudio des Lagers. Auch ein Gesundheitscenter, Wasserspender und Waschmaschinen gibt es dort“
Sukhdev Singh kann über solche Vorwürfe nur lachen. „Warum sagst du das?“, fragt er, als ich anmerke, dass diese Bilder dem Protest womöglich geschadet hätten. „Du denkst wohl auch, dass Bauern keine Waschmaschinen benutzen, keine Mixer, keine Mikrowellen oder Handys.“
Sukhdev Singh kommt aus Hoshiarpur im nördlichen Bundesstaat Punjab und ist eigentlich Profi-Fußballer. Doch als seine Familie im Dezember 2020 loszog, um sich den Protesten in Neu-Delhi anzuschließen, war er gerade vertragslos und ging spontan mit.
Seitdem lebt er so wie viele andere Menschen in dem Protestcamp an der Schnellstraße. Seine Fußball- und Fitnessausrüstung hat er mitgebracht. Eigentlich wollte er sich fit halten, für den Fall, dass sein Agent sich mit einem Angebot eines Fußballclubs meldet. Doch mittlerweile ist Singh anderweitig beschäftigt: Denn sein privates Training hat in dem Protestcamp hohe Wellen geschlagen.
Jagmeet, ein junger Mann und glühender Fußballfan, sah Singhs Trainings-Posts Anfang des Jahres auf Instagram und hatte eine Idee. Erst kurz zuvor hatte er wegen des Corona-Lockdowns seinen Job als Taxifahrer in Dubai verloren und arbeitete nun in seiner Heimatstadt Ludhiana für eine Wohltätigkeitsorganisation.
Warum also nicht einen Platz schaffen und Geld sammeln, damit sich noch mehr Menschen im Protestcamp fit halten können, fragte er sich – und ging mit der Idee zu seinem Chef. Dieser willigte ein, und so betreut Jagmeet heute das erste Open-Air-Fitnessstudio des Lagers, mitten auf dem Gelände einer Tankstelle. Auch ein kleines Gesundheitscenter, einige Wasserspender mit gefiltertem Wasser und zwei Waschmaschinen gibt es dort.
Als ich Jagmeet frage, ob die Besitzer der Tankstelle mit seinem Plan einverstanden gewesen seien, ist er geradezu schockiert. „Natürlich, sie haben uns sogar selbst gebeten, diesen Platz hier zu nutzen“, erklärt er. „Und bevor du fragst: Nein, sie haben kein Geld verlangt – und wir verlangen auch kein Geld von den Menschen, die das Fitnessstudio nutzen.“ Die einzige Bedingung für die Nutzung sei es, dass die Ausstattung pfleglich behandelt und sauber hinterlassen werde.
„Seit dem Beginn der Proteste ist Rehman nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Selbst als eine seiner Schwestern im Januar heiratete, blieb er im Camp“
Zurück in der Bibliothek hat sich Zia Ur Rehmans Laune mittlerweile verändert. Das Podium nebenan ist leer, weil die Protestierenden gerade essen und in ihren Zelten darauf warten, dass die Mittagshitze nachlässt. Auch die Bibliothek, eine von insgesamt dreien im Camp, ist verlassen – und so hat Rehman etwas mehr Zeit für mich. Wie er denn nun hierhergekommen sei, frage ich. Und diesmal beginnt er tatsächlich zu erzählen.
Ich erfahre, dass Rehman 2019 noch Politikwissenschaften in der Metropole Hyderabad studierte, als die indische Regierung den sogenannten Citizenship Amendment Act beschloss. Ein Gesetz, das die Regeln rund um die indische Staatsbürgerschaft grundlegend veränderte und dabei insbesondere Hindus bevorteilte. Zusammen mit vielen anderen beschloss Rehman damals, sich zu wehren.
Doch statt auf die Straße zu gehen, wählte er eine andere Form des Protests: Er wollte mit Menschen reden – und sie informieren. Also übersetzte er die Gesetzestexte, verfasste sie neu in einer weniger bürokratischen Sprache, druckte sie aus und fing an, von Tür zu Tür zu gehen.
Tagtäglich erzählte er den Menschen in Hyderabad, was die Politik da vorhatte. Doch die Corona-Ausgangssperren setzten seiner Arbeit von einem Tag auf den anderen ein jähes Ende. Als dann im November rund um Delhi die Bauernproteste ausbrachen, schloss Rehman sich ihnen gemeinsam mit zwei Freunden aus Hyderabad an.
„Ehrlich gesagt wollte ich anfangs einfach nur hierherkommen, um Teil der Revolution zu sein“, sagt er. Seine Familie sei zunächst strikt dagegen gewesen, wohl auch, weil seine Eltern beide Beamte sind und seine zwei älteren Schwestern für große Konzerne arbeiten.
„Aber ich habe ihnen erklärt, dass irgendjemand der Gesellschaft auch etwas zurückgeben müsse und dass es sich lohnt, für Gleichheit zu kämpfen“, erzählt Rehman. Also ging er in die Hauptstadt. Seitdem ist er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Selbst als eine seiner Schwestern im Januar heiratete, blieb er im Camp.
„Ich habe jetzt zwei Ziele“, sagt er. „Ich möchte die Bauern unterstützen, denn sie sind das wahre Rückgrat unserer Wirtschaft. Und ich will den Menschen helfen, zu verstehen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind.“ Kurz nach dem Beginn der Proteste richtete Rehman deshalb seine kleine Bibliothek ein.
Anfangs bestand sie nur aus drei einfachen Bücherkartons, einem Teppich, einem kleinen Sonnensegel und einem Plastikstuhl, den er von einer der Bühnen stibitzt hatte. Doch inzwischen verteilen sich die Bücher auf drei Bücherregale im Inneren eines schmucken großen Zeltes. Der Teppich und der Stuhl sind immer noch da, aber es sind Kissen dazugekommen und ein kleiner Tisch, der einem kleinen Fenster in der Zeltwand zugewandt ist. Das ist Rehmans Rezeption, von der aus er all jene berät, die Lesestoff suchen.
„Die Einsicht, dass politischer Wandel Zeit braucht, hat sich breitgemacht“
Zu Beginn hatte Rehman in seiner kleinen Bibliothek vor allem revolutionäre Texte auf Lager: die Schriften von Bhagat Singh, M. K. Gandhi und Nelson Mandela. Darunter mischte er gekürzte Texte von Karl Marx, Friedrich Engels und B. R. Ambedkar. All diese Anschaffungen finanzierte er mit Spendengeldern, die er bei Freundinnen und Freunden aus dem Studium und bei Bekannten einwarb.
Später nahm er dann auch Bücher über Handelsrecht, Agrarrecht und Wirtschaftspolitik auf. Mittlerweile schicken ihm jedoch auch immer mehr Professoren und unbekanntere Autoren kostenlos Kopien ihrer Werke zu. Wenn ein Besucher in die Bibliothek kommt und sich ein Buch ausleihen will, dann fragt Rehman nicht danach, wann er es wieder zurückbekommt. „Es gibt hier eine Menge Wut und Verbitterung, aber nur wenig angelesenes Wissen“, sagt Rehman. Deshalb sei die Bibliothek eine hervorragende Möglichkeit, um politische Bildungsarbeit zu leisten.
In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Protestierenden am Rande von Neu-Delhi trotz extremer Wetterbedingungen, trotz neuer Corona-Wellen und trotz des Beginns der Aussaatsaison konstant geblieben. Doch ihre Energie hat sich verändert: Wo sie vor einem Jahr noch auf schnelle Veränderung und Umsturz pochten, da sind die Demonstranten heute zurückhaltender, wenn auch nicht weniger beharrlich.
Die Einsicht, dass politischer Wandel Zeit braucht, hat sich breitgemacht. Momentan höre die Regierung zwar noch nicht zu, heißt es unter den Demonstranten, aber wenn man nur lange genug bleibe, dann würden sich die Politiker schon irgendwann auf sie zubewegen.
In den Massenmedien werden die Bauernproteste derweil kaum noch erwähnt, weil sie mit der Zeit ihren Eventcharakter verloren haben. Nur wenn einige Demonstranten mal ein Porträt des Premierministers verbrennen, so wie vor einigen Monaten, flackert ausnahmsweise wieder ein effektheischender Bericht über die Bildschirme. Im Protestcamp selbst sorgt diese verkürzte Art der Berichterstattung für viel Ärger.
Nicht zuletzt deshalb beschloss eine Gruppe Jugendlicher zuletzt, die mediale Aufbereitung der Proteste selbst in die Hand zu nehmen. Seitdem gibt es die Zeitung „Trolley Times“. Rehman hat den selbst ernannten Redakteuren bei dem Projekt unter die Arme gegriffen.
Die Hitze ist am frühen Abend bereits etwas abgeklungen, als ein alter Mann zu Rehmans Bibliothek kommt. Er schaut durch das Fenster des großen Zeltes und beäugt die neuesten Titel, die drinnen auf dem Tisch ausliegen. „Babaji, tussi ae lo, changi kitaab hegi“, sagt Rehman, was übersetzt so viel bedeutet wie „Onkel, nimm das hier, das ist ein gutes Buch für dich“. Dann kramt er in einer der Bücherkisten und hält dem Alten eine wissenschaftliche Abhandlung über die Auswirkungen der Agrargesetze hin.
Aus dem Englischen von Annalena Heber