Literatur | Taiwan

Wellen wie der Tran von Walen

Wu Ming-Yi erzählt in einer oköfantastischen Parabel von der Natur im überzivilisierten Taiwan

Eine gigantische Welle bricht vor einer Küste. Das Meer ist aufgewühlt, grau und sandig. Im Hintergrund erkennt man Hafengebäude.

Eine große Welle vor der Küste Taiwans

Von Zwischenwelten, zerplatzenden Pottwalen, Waldkathedralen und Umweltaktivisten handelt die ökologische Parabel „Der Mann mit den Facettenaugen“ des taiwanischen Autors Wu Ming-Yi. Er setzt das hoch entwickelte Taiwan der unberührten, fiktiven Insel Wayo Wayo entgegen, deren Bewohner ihr Leben noch nach den Zyklen der Natur ausrichten.

Dieser Archipel sei so klein, dass kein Satz ohne Erwähnung des Meeres auskomme, heißt es. Strenge Bräuche zwingen den Helden Atile’i, die Inselgemeinschaft zu verlassen, weil er der Zweitgeborene ist. Auf Taiwan hingegen haben die Einwohner die natürlichen Ressourcen bereits derart ausgebeutet, dass die Natur mit Erdbeben, Starkregen, Tsunami zurückschlägt.

Dass dort vor der Kolonisierung durch Portugiesen, Niederländer und Japaner sowie der Besiedelung durch Han-Chinesen Anfang des 17. Jahrhunderts schon mehrere indigene Völker lebten, ist ebenfalls aus Wus Buch zu erfahren. Er schildert ihre Nachkommen als zerrissene Existenzen, die noch über ein Wissen um intakte Naturbeziehungen verfügen, aber in Wellblechvierteln leben, wo ihnen die Vertreibung durch Neubauprojekte droht. So werden der Waldökologe Daho und die Barfrau Hafay, die sich in dieser überzivilisierten Welt durchschlagen, zu Mittlern für diejenigen, die sich für Naturphänomene interessieren.

„Die Natur schlägt mit Erdbeben, Starkregen und Tsunami zurück“

Als dritten und entscheidenden Schauplatz wählt Wu ein im Meer treibendes, aus mindestens 200.000 Tonnen Abfall gebildetes Areal, auf das sich der ausgesetzte Atile’i rettet. Diese Müllinsel steuert unaufhaltsam auf Taiwan zu, wo die zweite Protagonistin Alice in einem Strandhaus wohnt. Als durch die Kollision der Abfallscholle mit der taiwanischen Küste ihre Bleibe aber zerstört wird, findet sie in den Trümmern den verletzten Atile’i und kümmert sich um ihn. Anfangs verständigen sie sich nur mit Gesten und Mimik, bis sie nach und nach eine gemeinsame Sprache entwickeln.

Atile’i erzählt Alice von der ursprünglichen Einheit der Welt: „Am Anfang ahmten alle Dinge einander nach: Inseln kopierten die Meeresschildkröten, Bäume die Wolken, der Tod das Leben. Daher gab es noch keine großen Unterschiede zwischen den Wesen.“ Gern hätte man gewusst, ob die Mythen vom Autor erfunden wurden oder auf Berichten indigener Ethnien wie der Amis, Bunun, Sakidaya oder Truku basieren. Doch es gibt weder ein Glossar noch ein Nachwort, das darüber informiert. Gerade in diesen Erzählungen gelingen dem Autor eindrückliche Passagen, vor allem mit Blick auf das alles bestimmende Meer: „Er kann tausend unterschiedliche Wellenarten benennen, von feinfurchigen Kräuseln bis hin zu stoßweisen Brechern, von wie Waltran ölglatten zu sternengleich schaumfunkelnden, vermag zu sagen, ob sie vom Wind in die Länge gezogen oder von Fischschwärmen frisch aufgeworfen wurden.“

In weiteren Erzählsträngen geht es um die Umweltaktivistin Sarah und den Tunnelexperten Konrad, die sich um die Rettung des zerstörten Ökosystems bemühen. Als Erstes wird die Insel Wayo Wayo Opfer des durch die Erderwärmung steigenden Meeresspiegels, doch auch Taiwans Küste droht die Überflutung. Wu Ming-Yi verbindet realistische Szenarien mit fantastischen Elementen.

Zusammengehalten werden die verschiedenen Szenen durch einen wiederholt auftauchenden geheimnisvollen Mann, dessen Facettenaugen ein ungleich größeres Blickfeld als Linsenaugen erfassen können. Möglicherweise sind sie als Metapher für den Roman selbst zu verstehen, dessen Autor sich bemüht, die Perspektiven sämtlicher Akteure – auch der Tiere und der Natur – zu schildern. Hervorragend ins Deutsche übertragen wurde diese Ökofantasie, deren Charaktere etwas zu eindeutig gezeichnet sind, durch den in Taiwan lebenden Übersetzer Johannes Fiederling. Sollte es eine weitere Auflage geben, wäre ein Nachwort zu Lebensformen und Mythen indigener Einwohner Taiwans wünschenswert.

Der Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“ ist im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen.