Das dunkle Reich
Wir kennen nur einen Bruchteil dessen, was unter unseren Füßen liegt. Dabei sind wir enger mit der Tiefe verbunden, als uns bewusst ist
Vor Jahren folgte ich eines Nachts einem Freund in New York über das Ende eines U-Bahnsteigs in die Dunkelheit. An einer besonders abgelegenen Stelle des Tunnels duckte er sich in eine Nische und entfernte eine Metallplatte von der Wand. Vor uns tat sich ein Gang auf, der abwärts führte.
Wir stiegen hinab, der Lärm der Stadt wurde leiser, bis wir eine riesige Halle erreichten, eine verlassene U-Bahn-Station, die vor hundert Jahren gebaut, aber nie in Betrieb genommen wurde. Mein Freund nannte diesen in Vergessenheit geratenen Ort einen Geisterbahnhof. Mir kam es vor wie die Landung auf einem entfernten Planeten.
Da war keine trostlose Leere im Strahl unserer Taschenlampen, die durch die Dunkelheit geisterten. In diesem höhlenartigen Raum wimmelte es nur so von Lebenszeichen. Die Wände waren voller Kunstwerke, der Boden übersät mit den Spuren von Menschen, die hier gehaust hatten. Unzählige Relikte von Besuchern der letzten hundert Jahre.
Als wir aus dem Untergrund zurück nach oben stiegen, die Metallplatte hinter uns schlossen und schließlich wieder die Ebene der Straße erreichten, war ich mir bewusst, dass dort unten ein anderes Reich existierte, eine ungeahnt lebendige und helle Welt.
Was unter unseren Füßen liegt, darüber wissen wir erstaunlich wenig. In der sonnenbeschienenen Welt hier oben haben wir jeden Zentimeter Land erkundet und kartiert. Satellitenbilder bieten uns eine fast olympische Sicht auf ferne Regenwälder, Bergketten und Wüsten-oasen, in die wir hineinzoomen können. Doch der Untergrund bleibt verborgen.
Es ist weder ein Zufall, dass der altgriechische Name für den Herrscher der Unterwelt Hades mit „der Unsichtbare“ übersetzt wird, noch, dass Wissenschaftler die tiefen Bereiche von Höhlen als „Zonen absoluter Dunkelheit“ bezeichnen. Just in diesem Moment durchziehen Netze verborgener Tunnel und geheimer Regierungsbunker den Boden, auf dem Sie stehen. Unter Ihren Füßen liegen prähistorische Städte und unbekannte Gräber mit den Knochen alter Königinnen.
Versteckte Wurzelsysteme, durch die Bäume geheime Botschaften austauschen, und tiefe Höhlen, kunstvoll bemalt, die seit Tausenden von Jahren niemand mehr gesehen hat. All die Jahre, die ich damit verbracht habe, Orte im Untergrund zu erkunden und zu dokumentieren, haben mich gelehrt, diese unterirdischen Gebiete der Erde zusammen als verlorenen Kontinent zu betrachten, der sich unsichtbar unter unseren Füßen ausbreitet.
„Die tiefste Stelle, zu der wir uns je gegraben haben, reicht 12,3 Kilometer tief – weniger als 0,5 Prozent bis zum Mittelpunkt der Erde“
Fast chauvinistisch erhöht unsere Spezies das Oberirdische. Wir vergessen den Untergrund – aus den Augen, aus dem Sinn. Berühmte Entdecker wagen sich hinaus und hinauf – sie segeln zu neuen Horizonten, hüpfen über den Mond –, fast nie jedoch hinunter und hinein. Eine Reise von unserem jetzigen Standort zum Mittelpunkt der Erde entspricht einem Trip von New York nach Paris und doch ist der Kern unseres Planeten eine Blackbox.
Keine Landschaft dieser Erde ist uns so nah und doch so unerreichbar. Die tiefste Stelle, zu der wir uns je gegraben haben, ist die Kola-Bohrung in der russischen Arktis. Sie reicht 12,3 Kilometer ins Erdreich hinein, das ist weniger als ein halbes Prozent der Strecke zum Mittelpunkt der Erde. Laut Geologen liegt noch immer mehr als die Hälfte aller Höhlen weltweit unentdeckt und unzugänglich tief in der Erdkruste.
Wir haben gelernt, den Untergrund zu verabscheuen und uns von der Tiefe fernzuhalten. Geschichtenerzähler nutzen seit Langem die angsteinflößende Wirkung unterirdischer Orte. Man denke an Buffalo Bill, der in „Das Schweigen der Lämmer“ Clarice Starling durch einen stockfinsteren Keller jagt.
Oder Pennywise, den Clown, der im Horrorroman „Es“ aus dem Gully heraus nach Kindern schnappt. Sogar die Berichterstattung über Ereignisse im Untergrund erscheint einem wie Horror: 2018 waren thailändische Jungen in einer Höhle eingeschlossen, 2010 chilenische Minenarbeiter im Inneren der Erde verschüttet.
2008 wurde bekannt, dass ein Mann in Österreich seine Tochter über Jahrzehnte in einem Kellerverlies gefangen gehalten hatte. Vorbehalte gegenüber dem Untergrund haben selbst unsere Sprache geprägt. Wir streben nach „Höhepunkten“, wollen uns „erhaben“ fühlen, statt „niedergeschlagen“ und „niedergedrückt“.
Unsere Abneigung gegen das Unterirdische, unsere Angst vor der Dunkelheit, unsere Klaustrophobie lassen sich letztlich biologisch erklären. Wir sind eine Spezies, die sich auf ein Leben in der Savanne hin entwickelt hat, angepasst an reichlich Sonnenlicht und Sauerstoff, weite Landschaften und uneingeschränkte Sicht. In die Dunkelheit einer Höhle zu geraten, ist das genaue Gegenteil.
„Der Erdboden ist auch ein Ort der Genese: Indigene Kulturen auf der ganzen Welt erzählen von Vorfahren, die tief in der Erde keimen“
Und dennoch sind wir dem Untergrund eng verbunden und waren es immer schon. Seit es Menschen gibt, wurden unterirdische Orte erkundet, Geschichten darüber erzählt und davon geträumt. Nahezu jede zugängliche Höhle der Welt enthält menschliche Spuren aus der Vergangenheit. Für unsere Vorfahren hatten Stätten unter der Erde einen entscheidenden Anteil daran, die Wirklichkeit zu erklären. In ihren Augen waren Höhlen spirituelle Orte.
Wenn sie die Schwelle einer Höhle überschritten und in die Tiefe vordrangen, umgeben von pechschwarzer Dunkelheit, dröhnenden Echos und faszinierenden Steinformationen, dann glaubten sie, die oberirdische Wirklichkeit zu verlassen und in ein Jenseits einzutreten. Vielfältig sind die Berichte von Sehern, Propheten und Helden, die in die Dunkelheit hinabsteigen, um Geistern und Gottheiten nahezukommen.
Der Prophet Elia spricht erstmals in den Tiefen einer Höhle zu Gott. Mohammed erhält die erste Offenbarung von Allah in einer Höhle in Saudi-Arabien. Schamanen der amerikanischen Ureinwohner gingen in Höhlen, um sich auf Visionssuche zu begeben. Aeneas steigt durch eine Höhle in den Hades hinab, um den Geist seines Vaters Anchises zu konsultieren.
Wenn Archäologen heute Höhlen erkunden, finden sie die Überreste religiöser Riten: heilige Malereien, mit Grabbeigaben überladene Gräber, Steinaltäre, Musikinstrumente, wilde Fußabdrücke ritueller Tänze, Skelette von Opfern. Mit seinem „Höhlengleichnis“ erklärt uns Platon, dass der Weg der Erleuchtung aus der Dunkelheit in den lichtdurchfluteten Himmel führt. In der Vergangenheit suchten unsere Vorfahren Erleuchtung, indem sie tiefer in die Dunkelheit hinuntergingen.
Vor gar nicht langer Zeit entdeckten Archäologen in Nordspanien auf dem Boden einer Höhle namens „Sima de los Huesos“ („Knochengrube“) mögliche Hinweise auf ein vor über 400.000 Jahren durchgeführtes religiöses Ritual. Dieser Fund wird derzeit als ältester Hinweis auf religiöses Verhalten gedeutet.
Wie ein Prisma spiegelt das Unterirdische unzählige Aspekte unserer jahrtausendealten Existenz wider. Wir kennen den Untergrund als das Land der Toten, als Begräbnisstätte, letzte Heimstatt. Doch der Erdboden ist auch ein Mutterleib, ein Ort der Genese: Indigene Kulturen auf der ganzen Welt, wie die nordamerikanischen Stämme der Great Plains, erzählen Geschichten von Vorfahren, die tief in der Erde keimen und an der Oberfläche auftauchen.
Natürlich repräsentiert der Untergrund auch Dinge, die verboten und bedrohlich sind, doch er ist auch eine Zuflucht, der Ort, an dem wir uns verkriechen, um uns vor Gefahren zu schützen. Wir graben auf der Suche nach Schätzen und Reichtümern – Gold am Boden südafrikanischer Minen, Öl und Gas in den Fracking-Feldern von Pennsylvania –, doch wir graben auch, um gefährliche Abfälle loszuwerden, etwa die tiefen Tunnel des Endlagers Onkalo in Finnland, wo radioaktives Material entsorgt werden soll.
Psychologen assoziieren den Untergrund mit verdrängter Erinnerung, mit vergessenen und unausgesprochenen Dingen. Gleichzeitig waren die Höhlen der Welt schon immer ein Ort der Offenbarung und Erleuchtung. „Die Metapher des Untergrunds“, schreibt der Wissenschaftler David L. Pike in seinem Buch „Metropolis on the Styx“, „ist dehnbar und kann alles Leben auf der Erde umfassen.“
„Es ist, als ob der Untergrund uns daran erinnern will, dass wir in die Tiefe schauen müssen, um ein besseres Verständnis der Welt zu erlangen“
Vorbei sind die Zeiten der Höhlenrituale, zumindest in der modernen westlichen Welt. Doch wir bleiben mit dem Untergrund eng verbunden – in der Tat hat er sich uns noch nie so aufgezwungen. Auf einem Planeten, der immer wärmer wird, wo sich Hitzewellen verstärken und das Eis zurückgeht, ist der Untergrund wie die Frontlinie auf einem Schlachtfeld.
Lange Verborgenes kommt auf beunruhigende Weise zum Vorschein. In Norwegen steigen historische Artefakte, die einst im Eis eingeschlossen waren, an die Oberfläche: uralte Holzskier, eine prähistorische Ledersandale, Wikingerschwerter. Nach einer grassierenden Hitzewelle im Vereinigten Königreich wurden im Boden die Umrisse prähistorischer Bauten sichtbar.
In Sibirien taut der Permafrostboden auf und entlässt uralte Viren, die lange in der Erde eingeschlossen waren, wie Geister aus dem Erdreich. Im Jahr 2016 starb ein Kind bei einem Ausbruch von Milzbrand. Man nimmt an, dieser ging auf im Boden eingefrorene Rentierkadaver zurück, die von der schmelzenden Erde freigelegt wurden.
Es ist, als ob der Untergrund uns eine Warnung sendet, uns daran erinnern will, dass wir weiterhin nach unten schauen müssen, in die Dunkelheit hinein, um ein tieferes Verständnis unserer Welt zu erlangen.
Ich bin nie in diesen geheimen Hohlraum unter den Straßen New Yorks zurückgekehrt, doch er ist in meinem Bewusstsein geblieben. Von Zeit zu Zeit halte ich bei Spaziergängen durch die Stadt auf dem Bürgersteig direkt über diesem Ort inne und lasse meine Gedanken einfach durch das Pflaster hinunter in die unsichtbaren Schichten der Stadt wandern.
Indem ich über diese unsichtbaren Räume unter mir meditiere und das Unterirdische in meinem Kopf festhalte, werde ich gewahr, dass unsere Welt größer, tiefer und geheimnisvoller ist, als wir es uns vorstellen können.
Aus dem Englischen von Karola Klatt