Literatur | Schweden

Das ewige Hefegebäck

In ihrem neuen Roman fragt Lena Andersson, ob der schwedische Wohlfahrtsstaat glücklich macht
Mehrere Hefegebäck Stücke liegen in einer Auslage. Eine weibliche Hand greift mit einer Zange nach einem Gebäckstück. Auf einem Schild steht Kanelbulle auf einem zweiten Kardemumma-Bulle.

Schwedens traditionelles Hefegebäck (Bulla)

Mit Schweden verbindet man in Deutschland meist Idylle. Es kommt einem schwärmerisch das Wort „Bullerbü“ in den Sinn, womit eine glückliche, freie Kindheit gemeint ist. Lena Andersson, Schriftstellerin und Journalistin, richtet den Scheinwerfer in ihrem jüngsten Werk „Der gewöhnliche Mensch“ jedoch auf ein anderes Schweden.

Es geht um gesellschaftliche Normen, die dem Einzelnen, ohne dass es ihm bewusst ist, zu schaffen machen. Jenes von Freud formulierte Unbehagen in der Kultur. „Ich wollte“, sagt Lena Andersson zu ihrem Buch, „über einen Menschen von dem Schlag schreiben, der das Volksheim ermöglichte, der es verkörperte.“ Das „Volksheim“, so lautete die politische Metapher für den schwedischen Wohlfahrtsstaat, den die Sozialdemokraten bis 1976 verwirklichten.

Die Geschichte beginnt mit einem Treffen im Café. Ragnar Johansson, ein Tischler und Werkstattlehrer, ist mit einer Ethnologin verabredet, die ihn zur Idee des Volksheimes befragen möchte. Aus der Forschung wird jedoch nichts, Ragnar sei zu gewöhnlich. Dennoch, oder vielleicht genau deshalb, wird nun im Roman das Leben Ragnars von 1932 bis 1999 aufgerollt.

Denn auch Ragnar hält viel von den Dingen, die das Volksheim zusammenhalten: von gemeinsamem Sport, kommunalen Vereinen, der Volksschule für alle bis zum 16. Lebensjahr, auch dem Glauben an technischen Fortschritt.

Der Einzug der Waschmaschine in die Haushalte oder die praktischen, heute verpönten Fertigmahlzeiten ermöglichten laut Ragnar die Emanzipation der Frau. Rationalität und Pragmatismus, Funktionalität und keine Luftschlösser. „Man arbeitet nicht, um Spaß zu haben oder seine Träume zu verwirklichen“, so Ragnar.

Auf keinen Fall der Auserwählte sein, das ist gefährlich, erfährt er schon als Schulkind. Als er auf die Pfannkuchen der Lehrerin aufpassen soll, legt er die Box zur Sicherheit auf die Heizung. Es geschieht, was geschehen muss, die Box fällt herunter. Das war’s mit der Karriere als Berufener. Das war’s mit den Träumen. Statt Architektur zu studieren, begnügt Ragnar sich damit, Lehrer zu werden, Kindern das Holzhandwerk beizubringen.

Er führt ein kalkuliertes, ein angehaltenes Leben ohne Höhen und Tiefen. Herausforderungen, etwa die Beförderung zum Rektor der Schule, lehnt er ab. So vergehen die Jahrzehnte. Der Schreiner bleibt bei seinen Leisten, nur die schwedische Gesellschaft nicht.

„Lena Andersson stellt die relevante Frage, was eine Gesellschaft, ein Volksheim, zusammenhält“

Ragnar nimmt sie wahr, die kleinen Veränderungen. Etwa die vielen Geräusche, die Kaffee zu brühen heutzutage beinhaltet. Kaffee und Bulla (Hefegebäck) hingegen bleiben als Konstanten in Ragnars Familie über alle Zeiten (und Kapitel) hinweg.

Bei all den heutigen Ernährungsimperativen hat das etwas Beruhigendes. Seine Kinder trainiert Ragnar, auf dass sie Rad- und Skiprofis werden. Denn im Sport kann man es zu Höchstleistungen bringen, messbaren Erfolgen. Doch je älter die Kinder werden, desto mehr gehen diese ihren eigenen Wünschen nach.

Tochter Elsa liest lieber Kafka, als sich frühmorgens auf der Langlaufloipe zu quälen. Auch Ragnars Frau Elisabeth ist lebenslustiger. Sie würde lieber Europas Hauptstädte bereisen, anstatt jedes Wochenende die Kinder zu einem Wettkampf zu fahren. Sie schämt sich nicht wie Ragnar für Bildungslücken. Weiß sie einmal nicht Bescheid, wechselt sie einfach das Thema.

Lena Andersson hat eine schwedische Milieustudie geschrieben. Die Dramen der Familie werden nüchtern und humorvoll erzählt. Die Geschichte von Svea etwa, Ragnars Mutter, deren Mann nach Amerika ausgewandert und nie wiedergekommen ist.

Gegen Ende schwindet dem Leser zwar ein wenig die Lust, diesem eintönigen, mutlosen Leben zu folgen. In einer Zeit aber, in der der Vorschlag eines Bundespräsidenten von einem sozialen Pflichtjahr schon als Frechheit empfunden wird, stellt Lena Andersson die relevante Frage, was eine Gesellschaft, ein Volksheim, zusammenhält und was der Einzelne bereit ist, für das große Ganze zu geben.

Der gewöhnliche Mensch. Von Lena Andersson.Luchterhand, München, erscheint am 13. Oktober 2022.