Polen schaut nach Westen
In den vergangenen drei Jahrzehnten war Polen maßgeblich damit beschäftigt, in den Westen „zurückzukehren“ und vor dem Osten „zu fliehen“. Seit dem Fall des autoritären Regimes 1989 war dies das Paradigma der Außen- und Sicherheitspolitik.
Die Integration der europäischen und transatlantischen Strukturen sollte einen höheren Lebensstandard, Sicherheit, und vor allem den Schutz vor dem Osten bringen, der als Synonym für Despotismus, Armut und Aggression seitens des Kremls galt.
Die Polinnen und Polen gehören zu den Menschen in Europa, die Russland am wenigsten vertrauen. Um das zu verstehen, braucht man nur zu einem Geschichtsbuch zu greifen und sich die letzten 250 Jahre anzusehen, in denen Russland Polen wiederholt angriff und dominierte.
Daher ist die Verstärkung der NATO-Ostflanke bis heute ein Hauptziel der polnischen Sicherheitspolitik. In der polnischen Vorstellung war Russland aber auch das „Andere“, und die Abgrenzung davon stärkte die europäische Identität der Polen. „Wie soll man sich von Russland entfernen, ohne die geografische Lage zu verändern?“, überlegte der bedeutende Literaturwissenschaftler Przemysław Czapliński, der die polnische Literatur und Vorstellungswelt analysierte. „Die diskursive Praxis der Distanzierung von Russland bestärkte den Glauben, dass wir uns dem Westen annähern, wenn wir uns vom Osten unterscheiden“, führte Czapliński aus.
Russland war für die Polen immer auch eine Warnung: Wenn ihr den Test der Zugehörigkeit zu Europa nicht besteht, werdet ihr wie die Russen enden – arm und vom Machtapparat geprügelt.
Manchen erscheint Russland gar als so etwas wie ein polnischer Mr. Hyde: der patriarchale Teil unserer Seele, den wir bekämpfen müssen, um nicht wieder zum Osten zurückzukehren. Sozusagen die polnische Version des westlichen Orientalismus.
„Als es auf dem Kiewer Maidan zu Protesten kam, organisierten polnische Bürgerinnen und Politiker humanitäre Hilfe“
All die beschriebenen Emotionen führen zu einer obsessiven Bewertung der Bedrohung durch Russland. Und so kann die polnische Politik gegenüber den beiden östlichen Nachbarn Ukraine und Belarus zum großen Teil als Folge der Angst vor dem Kreml beschrieben werden.
Den größten Einfluss auf die Oststrategie der polnischen Regierung hatte eine Bewegung, die als „prometheisch“ bezeichnet wird, benannt nach dem antiken Titanen Prometheus. Im 20. Jahrhundert trat der Prometheismus (auf Polnisch: „Prometeizm“) in vielen Gewändern auf, doch die Überzeugung, dass Warschau die Unabhängigkeit der Ukraine und von Belarus im eigenen Interesse unterstützen müsse, um sich gegen den geopolitischen Einflussausbau Russlands zu behaupten, blieb fundamental.
Die beiden Nachbarstaaten sollten den Puffer zum aggressiven Russland spielen. Gleichzeitig war der Prometheismus eine antiimperiale Strategie, die auf der Auffassung beruhte, man müsse alle Völker und Maßnahmen unterstützen, die die sowjetische Großmacht schwächten.
Polen profitierte vom „geopolitischen Fenster der Möglichkeiten“ nach 1989, denn es gelang, sich von Russland loszureißen und der NATO beizutreten. Die Ukraine dagegen kämpft bis heute um die Unabhängigkeit und zahlt dafür einen hohen Preis.
Doch aus der gemeinsamen Erfahrung des „Kampfes mit dem Kommunismus“ sowie der kulturellen Nähe resultiert ein Gefühl der Brüderlichkeit zwischen Polen und der Ukraine. Als es auf dem Kiewer Maidan immer wieder zu Protesten kam, organisierten polnische Bürgerinnen und Politiker nicht nur humanitäre Hilfe, sondern sie reisten selbst in die Ukraine und schlossen sich den Protesten an.
Über viele Jahre gefiel sich Warschau in der Rolle des europäischen Botschafters von Kiew. Diese „fürsorgliche“ Haltung passte auch zu den Ambitionen Polens, das die Position einer regionalen Großmacht anstrebt. Die hier beschriebenen Denkmuster begannen allerdings zu bröckeln, als unter der Führung von Jarosław Kaczyński 2006 die PiS-Partei an die Macht kam.
„Die PiS-Regierung versteht ihre Souveränität als die Maximierung der Machtinstrumente durch die Staatsregierung“
Wie kann sich ein mittelgroßer Staat vor einem mächtigeren schützen? Die Vorgänger von Kaczyński vertrauten auf die Europäische Union und die NATO. Allein die Mitgliedschaft bei diesen Organisationen sollte den Kreml vor einem Angriff abschrecken, gleichzeitig ermöglichte sie ein größeres Einwirken auf die internationalen Geschehnisse.
Polen bemühte sich darum, die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den östlichen Partnern so weit wie möglich zu vertiefen. Das beste Beispiel sind das EU-Programm zur Unterstützung der „Östlichen Partnerschaft“, das die Staaten umfasst, die früher zur UdSSR gehörten und die heute versuchen, sich der Einflusssphäre Moskaus zu entziehen.
Die jetzige PiS-Regierung hat allerdings eine viel kritischere Beziehung zur Europäischen Union. Sie versteht ihre Souveränität als die Maximierung der Machtinstrumente durch die Staatsregierung. Statt auf die EU setzte die Equipe von Jarosław Kaczyński viel stärker auf bilaterale Beziehungen mit Donald Trump, um die eigene Sicherheit zu garantieren. Jetzt ist Trump nicht mehr da, und die Beziehungen zu Biden sind kühler.
Frühere liberale Regierungen, etwa unter Donald Tusk, versuchten einen Reset der Beziehungen zu Russland, wofür sie von der damals oppositionellen PiS-Partei kritisiert wurden. Kaczyńskis verbale Attacken sowohl gegen Putin als auch gegen Tusk explodierten nach der Flugzeugkatastrophe im russischen Smolensk.
In der Maschine waren hohe Staatsbeamte, die alle umkamen – unter ihnen der damalige polnische Präsident und Zwillingsbruder von Jarosław Kaczyński, Lech Kaczyński. Schließlich beendete Russlands Aggression gegen die Ukraine 2014 diese polnisch-russischen Experimente.
Die Rhetorik der jetzigen PiS-Regierung ist Russland gegenüber nun deutlich feindlicher als die ihrer Vorgänger. Auf der anderen Seite könnten manche Handlungen der PiS, die den ideologischen Charakter dieser Partei widerspiegeln, für den Kreml von Vorteil sein.
Sowohl in Moskau als auch in Warschau schüren die Regierungen Angst: Die traditionelle Familie und die christlichen Werte – so ihr Narrativ – werden von der LGBT-Szene bedroht, und Europa würde zunehmend islamisiert und schwächer werden.
„Erfreut über ihren Ruf als Klassenprimus teilten die Warschauer Regierungen ihre Erfahrungen in Sachen Transformation mit anderen“
Seit die PiS-Partei an der Macht ist, hat das Außenministerium an Bedeutung verloren. Viele außenpolitische Themen wurden den Interessen des Inneren und der Partei untergeordnet. Auch zur Ukraine hat sich die Beziehung seitdem verschlechtert.
Innerhalb der PiS-Partei stoßen zwei Perspektiven aufeinander: Das eine Lager ist von den beschriebenen prometheischen Konzepten der Einheit gegen Russland inspiriert, das andere beruft sich auf eine nationalistische Tradition, die den Ukrainern nicht gerade gewogen ist.
Dieses nationalistische Lager in Warschau macht eine Splittergruppe des ukrainischen Untergrunds für Massenmorde an Polen während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich. Die Ukrainer antworteten darauf mit ihrer Interpretation der Geschichte.
Das schwierige und nötige Gespräch über eine historische Aussöhnung wurde zu einem Instrument im politischen Kampf, der auf beiden Seiten die Nationalisten stärkte. Doch trotz dieser komplizierten Gemengelage verbindet die Ukraine und Polen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – die Bedrohung seitens des (post)-imperialen Russland. Die Annexion der Krim und Moskaus Krieg im Donbass entfachten auch in Polen Ängste vor einer russischen Aggression.
Blickt man nach Belarus, so konnte die Opposition fast immer auf polnische Unterstützung zählen. Polen finanziert unter anderem Belsat TV, den einzigen vom Regime unabhängigen Fernsehsender. In den vergangenen Monaten entwickelte Polen Stipendienprogramme für belarussische Studierende, die von der Uni geschmissen wurden, es unterstützt die weißrussische Diaspora und erhöht immer wieder die Finanzierung von Hilfen. Als Folge sieht sich der polnische Staat ständigen Anschuldigungen ausgesetzt, er zettele einen militärischen Angriff auf Belarus an.
Die Unterstützung des ukrainischen und belarussischen Volkes sowie der reformatorischen Bemühungen der Regierungen in Kiew waren jahrelang auch ein Teil der polnischen Soft Power.
Erfreut über ihren Ruf als Klassenprimus in Sachen Transformation, teilten Warschaus Regierungen ihre eigenen Erfahrungen mit anderen und bauten ihr Image darauf auf. Es fehlte jedoch an Konsequenz, und nachdem die PiS an die Macht kam, auch an Glaubwürdigkeit.
Der jetzigen Regierung in Warschau wird von verschiedenen polnischen und internationalen Organisationen vorgeworfen, sie würde die Rechtsstaatlichkeit verletzen und die Unabhängigkeit der Justiz, der Medien und öffentlicher Einrichtungen attackieren.
Das ist ein Grund für eine noch größere Solidarität mit den politischen Gefangenen in Russland und Belarus sowie mit Flüchtlingen aus dem Donbass und mit den Familien der vermissten Krimtataren.
Aus dem Polnischen von Joanna Manc