Kämpfen um jedes freie Wort
Irina Scherbakowa ist Germanistin und Historikerin. Seit den 1970er-Jahren widmet sie sich der Aufarbeitung der Stalin-Zeit und hat die NGO Memorial mitgegründet, die 2021 verboten wurde
Ich bin ein Tauwetterkind, ein Kind des 20. Parteitags der Kommunistischen Partei der Sowjetunion KPdSU 1956, auf dem Chruschtschow Stalins Verbrechen verurteilte. In diesem Jahr kam ich in die Schule, im Zentrum Moskaus. Unser Jahrgang war der erste, in dessen Lesebuch kein Wort über Stalin stand. Meine Familie war eine Familie jüdischer Intellektueller. Sie waren sehr politisch, und mir war von Anfang an klar, dass unser Leben davon abhing, wie sich die gesellschaftliche Lage entwickeln würde. Mein Großvater war ein Parteifunktionär der Kommunistischen Internationale. Bis zu seinem Tod glaubte er an die Ideen der Revolution.
Er war einer der wenigen in der Komintern, der – ein Glücksfall – nicht von den Repressionen Stalins betroffen war. Mein Vater war als 19-Jähriger 1943 vor Stalingrad verwundet worden. Später sah er es als seine Lebensaufgabe an, die Wahrheit über diesen Krieg zu schreiben. Die Atmosphäre meiner Kindheit, dieser Tauwetterjahre, in denen um jedes freie Wort und um die Aufarbeitung der Stalin-Zeit gekämpft wurde, hat mich geprägt. Für meine Eltern, aber auch für mich, war das ein wichtiger und auch gemeinsamer Lernprozess: Wir lasen dieselben Bücher, denselben Samisdat, also verbotene Literatur. Wahrscheinlich gab es deshalb bei uns zu Hause keinen Generationenkonflikt.
Wir wussten sehr wenig über den Krieg auf der anderen Seite und den Nationalsozialismus. Alles, was man darüber erfahren konnte, vermittelte uns die deutsche Literatur, die in den 1960er-Jahren umfangreich übersetzt wurde. Sie reichte von Heinrich Böll über Günter Grass bis zu Hermann Hesse. Deshalb wählte ich Germanistik als Studienfach, obwohl ich eigentlich Geschichte studieren wollte. Nach dem Studium arbeitete ich dann jahrelang als Übersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Russische.
„Wir versuchen zu retten, was zu retten ist, von den Archiven, von dem, was wir gesammelt und aufgearbeitet haben“
Es war für mich sehr wichtig herauszufinden, wie sich Menschen wie mein Großvater fühlten, als ihre Freunde im Großen Terror verschwanden. So fing ich 1979 an, heimlich Interviews mit Gulag-Überlebenden zu führen. Anstoß hierfür war Alexander Solschenizyns Buch „Der Archipel Gulag“. Damals gab ich auch eine Anthologie der Frauenliteratur von DDR-Autorinnen heraus. Ich fand „Guten Morgen, du Schöne“ von Maxie Wander spannend. In ihrer Oral-History-Interviewmethode sah ich für mich einen Zugang zu den Überlebenden.
Ich zeichnete deren Erinnerungen auf Tonband auf. Daraus entwickelte sich mein Engagement für die Menschenrechtsorganisation Memorial, die Ende der 1980er-Jahre gegründet wurde. Es war damals absolut notwendig, eine Organisation zu schaffen, die die Tür in die bis dahin verschwiegene Vergangenheit aufstieß.
Mit der Öffnung der Sowjetunion konnte ich ab 1989 ins Ausland reisen und an deutschen und österreichischen Universitäten arbeiten. 1999 kehrte ich endgültig nach Russland zurück und rief den Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“ ins Leben. Wir erhielten in 22 Jahren Tausende Einsendungen. Es gibt ein großes Bedürfnis bei Lehrern und Schülern, ihre lokale Geschichte zu erforschen. Mit der Auflösung von Memorial International im Dezember 2021 durch das Oberste Gericht der Russischen Föderation endete dieses Projekt.
Mein Mann war zu Sowjetzeiten Atomphysiker und daher Geheimnisträger. Später arbeitete er als Journalist. Meine beiden Töchter sind mit Memorial groß geworden. Die Ältere lebt mit ihren Kindern in New York, die Jüngere forscht an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie machen sich große Sorgen um ihre Eltern, weil wir nun in einer Diktatur leben. In unserem ukrainischen Landhaus im Dorf Schischaki haben wir seit zwanzig Jahren unsere Sommer verbracht. Ich nehme an, wir werden es nie wiedersehen können.
Die Politik ist absurd und unberechenbar geworden. Wir leben in sehr kurzen Zeitphasen, weil wir nicht wissen, was als Nächstes passiert. Ich befürchte, dass unsere Arbeit für Memorial in Russland in Zukunft sehr schwierig sein wird. Wir versuchen zu retten, was zu retten ist, von den Archiven, von dem, was wir gesammelt und aufgearbeitet haben. Dies alles ist ein kleiner, täglicher, zermürbender Kampf. Ich habe aber keine Zeit für Bitterkeit und Enttäuschung. Wenn ich über Gefühle sprechen soll, dann sind das andere, stärkere Gefühle, dann ist das Wut.
Ich bereue nicht, dass ich in den 1990er-Jahren nicht in Europa geblieben bin. Mein ganzes Leben ist mit Russland verbunden. Dennoch habe ich das Land jetzt verlassen. Was ich bereue, sind die Dinge, die ich aufgeschoben habe und für die jetzt möglicherweise keine Zeit mehr bleibt.
Protokolliert von Ivette Löcker