Bohren nach Erdgas
In Pennsylvania verbergen sich riesige Mengen Erdgas in unterirdischem Gestein. Mit Fracking wird es an die Oberfläche befördert - und spaltet die Gesellschaft
In der südwestlichsten Ecke von Pennsylvania sieht es aus wie in einem Bilderbuch. Ponys und Kühe grasen auf saftigen Wiesen und die Sonne lässt Farbtupfer in Rot- und Gelbtönen auf den Hügelkuppen leuchten.
Der Herbst kündigt sich an, doch die meisten Bäume sind noch grün und es ist erstaunlich warm. Das laute Zirpen von Grillen durchdringt die Umgebung wie ein gleichmäßiger Pulsschlag. Fährt man im Auto über die wellenförmigen Landstraßen in Washington County, muss man aufpassen, keines der braunen Streifenhörnchen zu überfahren, die alle paar Meter flink von einer Seite auf die andere huschen.
Lois Bower-Bjornson, eine zierliche Frau mit überraschend tiefer Stimme, sitzt am Steuer ihres wuchtigen Chrysler Vans und schaut nicht auf die Straße. Sie blickt suchend nach links und rechts aus den Fenstern. „Da hinten an der Bohrstelle hat es letzte Nacht geleuchtet, da arbeiten sie gerade“, sagt sie und deutet mit der Hand in die Ferne. „Und da, hinter dieser riesigen Lärmschutzwand, müsste das Tanklager sein. Von dort bringen sie das Wasser zu den Bohrstellen.“
Bower-Bjornson ist Tanzlehrerin – und bietet regelmäßig „Frackland Tours“ durch ihre Gemeinde an. Sie bringt Politiker, Reporterinnen oder Studierende in Kontakt mit betroffenen Leuten vor Ort. „Sonst glaubt uns niemand, was hier passiert“, erklärt sie. In Sportkleidung ist sie gerade ins Auto gesprungen, denn ein Nachbar hat angerufen: Mehrere Trucks von Fracking-Unternehmen seien wieder in der Gegend unterwegs.
„Pro Bohrloch sind bis zu 4.000 Truck-Fahrten nötig – auf Straßen, die gar nicht dafür ausgelegt sind“
Nirgendwo in Pennsylvania wird so viel nach Gas gebohrt wie in der idyllischen Region Washington County. Allein in einem Radius von acht Kilometern um Bower-Bjornsons Grundstück befinden sich zwanzig aktive Fracking-Bohrstellen – Metallinseln voller Rohre, Kräne und Bohrtürme.
Und das ist längst nicht alles: Da sind die Trucks, die Material liefern und wieder abtransportieren, Schlafunterkünfte für die Arbeiter, von schweren Stahlzäunen umsäumte Materiallager, Verdichterstationen, an denen das Gas für den Transport komprimiert wird, und Pipelines, durch die Erdgas an andere Orte fließt.
Bower-Bjornson fährt etwas zu schnell um die Kurve, dann sieht sie, wonach sie Ausschau hielt. Drei riesige graue Tankwagen donnern heran und hüllen die Straße in eine hellbraune Staubwolke. „Na bitte, da sind sie.“ Bis zu 4.000 Truck-Fahrten pro Bohrloch sind für den Fracking-Prozess nötig.
Die schweren Geschosse fahren oft direkt vor ihrer Haustür vorbei, erzählt Bower-Bjornson, auf Landstraßen, die nicht für das Gewicht der Trucks gemacht sind. Kurz vor der nächsten Ortschaft klafft ein Loch in der Fahrbahn. Die Straße ist hier abgebrochen und die Böschung hinuntergerutscht.
Etwa zwei Kilometer unterhalb der Erdoberfläche schlummert der Grund für das oberirdische Spektakel: der Marcellus Shale, eine Formation aus Schiefergestein, die sich entlang mehrerer Bundesstaaten im Osten der USA erstreckt – und eines der größten Erdgasvorkommen der Welt in sich trägt.
Überreste von Pflanzen und Tieren verwandelten sich hier unten über Millionen Jahre durch Druck und Hitze in Kohlenwasserstoffe. Wo möglich, bahnten sich diese ihren Weg durch die Gesteinsschichten weiter nach oben und sammelten sich dort an. So lassen sie sich heute in Form von Erdgas und Erdöl aus der Erde ziehen. Eine senkrechte Bohrung braucht es dafür, viel mehr nicht. Seit mehr als 150 Jahren werden auf diese konventionelle Weise Gas und Öl aus den oberen Gesteinsschichten gefördert.
„Als dann ein unangenehmer Geruch in der Luft lag, der ihren Kindern in der Nase brannte, beschloss sie, sich zu wehren“
Schiefergestein wie der Marcellus Shale ist allerdings besonders dicht, sodass das Erdgas teilweise nicht nach oben wandern konnte. Es sitzt in kleinen Gesteinsporen fest. Um auch an dieses Erdgas heranzukommen, nutzt man eine Methode namens „Hydraulic Fracturing“, kurz „Fracking“.
Dabei bohrt man horizontal in den Schiefer und leitet eine Mischung aus Wasser, Sand und diversen Chemikalien in das Bohrloch. Jahrzehntelang und mit massiver Förderung durch den Staat tüftelten Unternehmen an dem perfekten Rezept für diesen Cocktail, der im Boden Druck erzeugen und so das Gestein aufbrechen soll.
Anfang der 2000er-Jahre gelang der Durchbruch. Die Öl- und Gasindustrie in Pennsylvania und anderswo erlebte daraufhin eine Renaissance. Auch dank des Frackings ist Pennsylvania heute nach Texas der größte Erdgasproduzent der USA. Der Nachteil dieser innovativen Methode: Die einzelnen Bohrungen sind nicht sehr ergiebig. Deshalb muss an sehr vielen Stellen gebohrt werden.
„Sie kamen in Schwärmen“, erzählt Lois Bower-Bjornson. Zwei- bis dreimal pro Woche klopften Vertreter der Gasindustrie damals an ihre Tür. „Sie wollten geologische Tests auf unseren Grundstücken machen, unser Land pachten und uns zu Treffen mit den Unternehmen einladen.“ Wie so viele dachte sie sich anfangs nichts dabei.
Als dann aber das Licht der Arbeiten nachts bis in ihr Schlafzimmer leuchtete, und ein unangenehmer Industriegeruch in der Luft lag, der ihren Kindern unentwegt in der Nase brannte, beschloss sie, sich zu wehren. Heute engagiert sie sich in mehreren NGOs gegen die Fracking-Unternehmen, die nach und nach die Region eingenommen haben. „Ich kann ziemlich wütend werden, wenn Unrecht geschieht“, sagt sie, „und ich kann Lügen nicht ausstehen.“
Die Unternehmen, die im Westen von Pennsylvania Gas fördern, versprechen Jobs und Geld für die Gemeinschaft. Leute, die in der Industrie arbeiten, kennt hier allerdings kaum jemand – die meisten kommen von weit her und bleiben nicht lange. Die Firmen namens EQT, Olympus oder Range Resources finanzieren Schulranzen für Kinder, organisieren Bauernmärkte oder unterstützen Kriegsveteranen. „Corporate giving“ nennen sie das und zeigen auf ihren Websites Videos von glücklichen Einwohnern. Kritikerinnen wie Bower-Bjornson sagen: Sie infiltrieren die Gemeinschaft und machen sie von sich abhängig.
„Fracking ist eine effiziente Möglichkeit, Energie zu gewinnen – aber nur in dünnbesiedelten Gegenden“
Die Menschen vor Ort sind über das Thema Fracking gespalten. Eine Umfrage während der Präsidentschaftswahl 2020 ergab: Ziemlich genau die Hälfte der Bevölkerung in Pennsylvania lehnt Fracking ab, die andere Hälfte befürwortet es. Viele verdienen Geld an den Bohrungen unter ihrem Land. Auch politisch teilt sich dieser „Swing State“ ziemlich genau in zwei Hälften auf. 2016 gewann Donald Trump die Präsidenschaftswahl hier mit gerade einmal 0,7 Prozent Vorsprung. Joe Biden wiederum lag 2020 um nur 1,2 Prozent der Stimmen vorn.
Eine Autostunde nordöstlich, im benachbarten Westmoreland County, faltet am Dienstagmorgen der republikanische Landrat Douglas Chew seine großen Hände auf dem langen Konferenztisch der NGO Protect PT. Er trägt ein weinrotes Jackett über dem runden Bauch, sein teures Parfüm riecht man selbst durch den pandemiebedingten Mund-Nasen-Schutz.
Douglas Chew braucht Rat. Er soll mitentscheiden, ob unter einem Stück Land, das dem County gehört, nach Gas gebohrt werden darf. Die Verwaltung könnte daran mitverdienen. „Ich bin sehr viel umweltbewusster als viele meiner Parteikollegen“, sagt er, erzählt von seiner Kindheit auf einem Bauernhof in der Natur.
Deshalb sucht er einen Mittelweg: Fracking ist für ihn eine effiziente Möglichkeit, Energie zu gewinnen – aber nur dort, wo wenige Menschen leben, oder auf Land, das bereits industriell genutzt wird.
Gillian Graber, die Geschäftsführerin von Protect PT, empfiehlt ihm, mit einem Online-Tool die Einwohnerdichte zu bestimmen. „Es geht um die Menge der Menschen, die betroffen sind“, erklärt sie. „Dass es zu Umweltbelastungen kommen wird, steht fest.“
Laut Studien können während des Fracking-Prozesses und bei Störfällen nicht nur die in die Bohrlöcher gepumpten Chemikalien Grundwasser, Luft und Flüsse verschmutzen. Erdgas besteht auch zu einem großen Teil aus Methan, das sehr viel schädlicher für das Klima ist als Kohlendioxid.
Die Erdöl- und Erdgasindustrie ist die größte industrielle Quelle von Methan in den USA. Erst kürzlich zeigte eine Studie, dass durch Lecks an Öl- und Gasbohrstellen erheblich mehr Methan austritt als bislang angenommen. Das Kabinett von Präsident Biden kündigte im Rahmen der UN-Klimakonferenz im November an, die Methanemissionen massiv zu senken. Doch die Zeit drängt. Schließlich sollen die USA bis 2050 klimaneutral sein, so das Ziel der Regierung.
„Die Menschen vor Ort interessiert der Gaspreis mehr als Klimaziele“
Früh am nächsten Morgen bestellt Douglas Chew Spiegelei, Bacon und Pancakes in einem American Diner direkt am Highway. Die ältere Kellnerin nennt ihn „Honey“, er isst regelmäßig hier. „Ich möchte nicht zynisch klingen“, sagt er, „aber ich glaube nicht, dass die Amerikaner das Klima je zu ihrer Priorität machen werden.“
Von Klimazielen sei die Rede, seit er ein Kind war, erzählt der 52-Jährige – und damals hätte man in der Region kaum Gas produziert. Die Menschen vor Ort interessiere vor allem ein niedriger Gaspreis. Schließlich nutzen viele von ihnen Gas zum Heizen und als Treibstoff für ihre Autos, auf die sie hier auf dem Land angewiesen sind.
Chew hält den frittierten Bacon in der Hand und beißt Stück für Stück davon ab, während er zu erklären versucht, weshalb seine Partei an der Fracking-Industrie festhält. „Die Republikaner wollen, dass wir unsere eigenen Rohstoffe nutzen“, sagt er. „Sie wollen nicht von anderen Ländern abhängig sein, die plötzlich beschließen könnten, uns nichts mehr zu verkaufen.“
Die Öl- und Gasimporte der USA sind seit Anfang der 2000er-Jahre konstant gesunken und wurden von den Exporten überholt. Damit macht sich das Land tatsächlich immer unabhängiger von Produzenten im Nahen Osten und in Afrika. Die US Energy Information Administration (EIA) rechnet mit einem weiteren Anstieg der Öl- und Gasproduktion, vor allem, weil Länder in Asien sehr viel mehr Bedarf haben werden.
Erdgas gilt zudem als Übergangslösung für die Energiewende: Solange die Energiesysteme auf Wind, Sonne oder Wasserstoff umgestellt werden, soll vielerorts an Erdgas als klimafreundlichstem fossilen Brennstoff festgehalten werden. Und auch im Westen von Pennsylvania wird bald enorm viel Erdgas gebraucht: Am Ufer des Ohio River entsteht der Pennsylvania Petrochemicals Complex. Shell wird hier bald jährlich 1,6 Millionen Tonnen Plastik produzieren – aus regionalem Fracking-Gas.
Gillian Graber steht neben einem Grabstein und beobachtet den Kran, dessen Arm sich hinter der Lärmschutzmauer senkt. Auch aus mehreren Hundert Metern Entfernung ist das Dröhnen der Maschinen zu hören. Hier frackt das Unternehmen Olympus, das seine Bohrstellen nach griechischen Göttern benennt, unter einem Friedhof nach Gas. Drei Monate sind schon vergangen, bald werden die Trucks kommen und das Material abtransportieren.
„Diese Industrie trägt zu vielen Volkskrankheiten bei“
Welche Folgen die Bohrungen nach Gas für die Bevölkerung haben, will Graber mit ihrer NGO vermitteln. Das Klima-Argument wirke nicht, sagt sie. Am Ende werde die Regierung durch Tricks wie Carbon Capture – eine Methode, um Kohlenstoffdioxid unterirdisch zu speichern – ihre Klimaziele erreichen.
Grabers Argument ist ein anderes: die öffentliche Gesundheit. „Diese Industrie trägt zu vielen Volkskrankheiten im Land bei“, sagt Graber. „Wenn wir unseren Fokus hierauf verlagern, wird die fossile Brennstoffindustrie eines natürlichen Todes sterben.“ Am Marcellus Shale wurde Methan im Grundwasser und eine besonders hohe Belastung durch radioaktive Stoffe aus der Erdkruste nachgewiesen.
Immer wieder berichten Menschen von aggressiven Krebserkrankungen, Atemproblemen sowie Kindern, die mit Behinderungen zur Welt kommen. Tatsächlich zeigen Studien einen Zusammenhang zwischen den Emissionen der Industrie und der Gesundheit der Menschen vor Ort.
Graber informiert mit ihrer NGO die Einwohner darüber, wie sie Beweise sammeln können, indem sie zum Beispiel die Luftverschmutzung messen. Saubere Luft und sauberes Wasser stehen als Grundrechte in der Verfassung Pennsylvanias.
Sie zeigt Fotos von einer Bohrstation direkt neben dem Trinkwasserspeicher ihrer Gemeinde und erzählt von Unfällen und Störfällen an Pipelines, die immer wieder passieren. Dann hat sie plötzlich Tränen in den Augen. Sie lächelt entschuldigend und fügt hinzu: „Ich tue das hier für meine Kinder. Ich möchte, dass sie in Zukunft saubere Luft atmen.“