Sachbuch | Kulturgeschichte

Bibliothek unter Feuer

Bibliotheken, Archive, Manuskripte: Seit sie existieren, sind sie auch gefährdet. Der Bibliothekar Richard Ovenden hat eine Geschichte ihrer Zerstörungen geschrieben

Auf dem Boden eines Raumes liegen viele Papiere und Dokumente verstreut. Ein Mann mit einer Zeitung unter dem Arm betrachtet die Verwüstung.

Die Irakische Nationalbibliothek wurde 2003 geplündert und in Brand gesetzt, Tausende historische Dokumente wurden zerstört

Im Jahre 1814 wurde Washington, D. C., von einer rachsüchtigen britischen Armee überfallen. Sie nahm die junge amerikanische Hauptstadt unter Beschuss und zerstörte die gerade erst gegründete Library of Congress im Zuge des sogenannten Brandes von Washington.

Die Bücher und Dokumente, die den Angriff überstanden hatten, wurden auf einen Haufen geworfen und angezündet; einige Objekte wurden als Kriegstrophäen mitgenommen. Die Bibliothek war ein „Kollateralschaden“, als Symbol der aufstrebenden Republik jedoch ein sehr bedeutsamer. Später wurde sie wiederaufgebaut.

Für moderne Bibliotheken und Archive liegen Diskussionen über Bücher und Budgets nie weit auseinander. Die gut 6.000 Bände umfassende Privatbibliothek des früheren Präsidenten Thomas Jefferson bildete den Grundstock der neuen Library of Congress. War es 1814 der Krieg, der die ursprüngliche Bibliothek zerstörte, vernichtete vierzig Jahre später wieder ein — diesmal versehentliches — Feuer den neuen, weit umfangreicheren Bestand.

Etwa die Hälfte der 55.000 Bücher, darunter fast die gesamte Jefferson-Sammlung, fielen den Flammen zum Opfer. Erst nach dem Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 wurde die Library of Congress ein weiteres Mal errichtet, um zu einer der weltweit größten Bibliotheken anzuwachsen.

„In vielen Fällen wurden sie wiederaufgebaut, nur um erneut zerstört zu werden“

Die 1636 gegründete Zentralbibliothek der Universität im belgischen Leuven besaß 1914 einen Buchbestand von gut 300.000 Bänden sowie eine Vielzahl von Drucken und seltenen Handschriften. Im August jenes Jahres kam für dieses nationale Speicherhaus des Wissens ein jähes Ende, als das große Bibliotheksgebäude mit nahezu allem, was sich in ihm befand, von der kaiserlichen deutschen Armee zerstört wurde, die durch das Land zog.

Unter einer bunt gemischten Gruppe deutscher Intellektueller, darunter Max Liebermann und Max Planck, herrschte Ungläubigkeit. Sie konnten nicht fassen, dass es sich hierbei um einen vorsätzlichen Zerstörungsakt handelte. Eine internationale Kampagne sorgte für Geld- und Bücherspenden, und eine weitgehend durch amerikanische Mittel finanzierte neue Bibliothek wurde errichtet. Dies war eine große Errungenschaft internationaler und insbesondere transatlantischer Kooperation. Bedauerlicherweise wurde das neue Gebäude gerade einmal 25 Jahre später, im Mai 1940, von Streitkräften der Wehrmacht angegriffen und bombardiert.

Dies sind zwei von zahlreichen Fällen, die Richard Ovenden, Chefbibliothekar der Bodleian Library an der Universität Oxford, in seiner neuen, fesselnden Darstellung der Zerstörung von Bibliotheken und Archiven seit frühester Zeit schildert.

Welthistorisch betrachtet haben bewaffnete Männer und Feuer mehr Bibliotheken und Archive vernichtet, als wir gerne wahrhaben wollen. In vielen Fällen wurden sie wiederaufgebaut, nur um erneut zerstört zu werden. Zwar ging eine gewaltige Menge an Schriften im Laufe der Zeit auch durch Sorglosigkeit verloren; eine Bombardierung von Bibliotheken geschieht hingegen innerhalb weniger Sekunden, die Verluste sind zumeist unwiederbringlich.

„Dass Autorinnen und Autoren Selbstzensur betreiben, hat eine lange Geschichte“

Ebenso gibt es Fälle, in denen Schriftsteller oder ihre Nachlassverwalter absichtlich Manuskripte, Tagebücher oder Briefwechsel verbrannt oder geschreddert haben. Nach dem Tod des englischen Dichters Lord Byron 1824 gab es eine Kontroverse darüber, ob seine freizügigen Memoiren veröffentlicht werden sollten oder nicht. Schließlich verbrannten sein Verleger und enge Freunde das Manuskript; es blieb nichts übrig, bis auf den Einband der einzigen Kopie, die gemacht worden war.

Franz Kafka, der bis zu seinem Tod nur wenig veröffentlicht hatte, hinterließ Anweisungen an seinen Testamentsvollstrecker Max Brod, alles zu verbrennen. Glücklicherweise widersetzte sich Brod diesem letzten Willen, und so können wir heute „Der Prozess“, „Das Schloss“ und zahlreiche Erzählungen Kafkas lesen.

Der Dichter Philip Larkin, der als Bibliothekar den Wert des Bewahrens kannte, drängte seine Geliebte dazu, seine Tagebücher zu verbrennen. Die mehr als dreißig Bände wurden erst geschreddert und dann verbrannt. Dass Autorinnen und Autoren Schadenskontrolle und Selbstzensur betreiben, indem sie Tagebücher und Manuskripte zurückhalten, hat eine lange Geschichte, fast so alt wie das Schreiben selbst. Vergil wollte allem Anschein nach sein Epos „Aeneis“ in Flammen aufgehen sehen, ob als Akt der Bescheidenheit oder um sich Reputation zu verschaffen, bleibt unklar.

Das Sammeln von Wissen ist so alt wie die menschliche Fähigkeit zur Kommunikation, davon legen die Beweisstücke seit dem antiken Mesopotamien Zeugnis ab. So wie kontinuierlich Texte anwuchsen in Bibliotheken („biblio-théké“, griechisch für „Buch-Behälter“) und Archiven („archivum“, lateinisch für „Aktenschrank“ und „archeion“, griechisch für „Amtsgebäude“, ein Ort, an dem Schriftzeugnisse aufbewahrt werden), so gibt es auch eine lange Geschichte ihrer Zerstörung.

Die Bibliothek von Alexandria hingegen wurde nicht mit einem Mal zerstört, sie verschwand wohl nach und nach aufgrund einer anhaltenden Vernachlässigung. Richard Ovenden warnt vor ebensolcher Sorglosigkeit, wenn er zeigt, wie Bibliotheks- und Archiveinrichtungen in zahlreichen Ländern von Schließungen und Budgetkürzungen betroffen sind.

Die Marginalisierung von Bibliotheken und Archiven folgt der Logik, dass es keinen Sinn macht, Geld und wertvolle Flächen zu verschwenden, wo doch jeder jede Information auf dem Handy abrufen kann. Die digitale Sphäre steckt allerdings voller Probleme, öffnet sie doch Tür und Tor für Manipulation, Monopolisierung und dem schlichten Löschen digitaler Inhalte.

Richard Ovenden erzählt beeindruckende Geschichten von Bemühungen, Bücher zu schützen und zu bewahren. Etwa von jener litauischen Gruppe, die sich 1925 geformt hat, um das jüdische literarische Erbe der Region zu retten, oder von den Gefahren, denen sich die Bibliothekare Sarajevos 1992 gegenübersahen.

Er erörtert auch einen Fall, der zahlreiche ethische und rechtliche Probleme aufwirft: Der jüngste Akt von Archivraub ist der Abtransport Zehntausender Archivakten, die mehr als drei Millionen Seiten umfassen, von Bagdad in die USA, nach der US-amerikanischen Invasion von 2003. Die Invasion wurde gerechtfertigt durch Lügen von „Massenvernichtungswaffen“ und der Vorstellung von einer irakischen Bevölkerung, die die Besatzer mit Blumen begrüßen würde. In Wahrheit verursachten die Amerikaner mehr als nur die Inbrandsetzung Bagdads. Zehntausende Iraker wurden getötet.

„Auswahl, Erwerb und Katalogisierung, aber auch das Wegwerfen sind niemals neutrale Akte“

Ovenden stellt jedoch die Absichten jenes prominenten Aktivisten, Kanan Makiya, der hinter dem Abtransport des Materials steht und der die dazu USA gedrängt hat, in den Irak einzumarschieren, nicht infrage. Er behauptet, das außer Landes gebrachte Archivmaterial spiele eine ähnliche Rolle wie die Stasi-Akten der ehemaligen DDR. Das ist eine wenig überzeugende Analogie. Der Abtransport der Archivakten verletzt die Haager Konventionen von 1907 und 1954 sowie die UNESCO-Konvention von 1970. Saddam Husseins Regime wurde bis zur Invasion in Kuwait im Jahre 1990 von den Amerikanern unterstützt. Das Material in die USA zu bringen, heißt also, es zu einem einstmals aktiven Förderer des Regimes zu verlagern.

Wie Ovenden wissen muss, wird das Material sortiert und zensiert werden, und kein amerikanischer Offizieller wird je für mitschuldig befunden werden, den Tyrannen unterstützt zu haben. Es ist illusorisch zu glauben, es werde künftig eine faire Nutzung des Archivs geben. Lediglich das Material in einer öffentlichen Datenbank zugänglich zu machen, wie es geplant ist, bedeutet, dass es keine gerechte Aufarbeitung geben wird, sondern einen Kreislauf von Beschuldigungen und Abrechnungen zwischen den ehemaligen Kriegsparteien. Die Sieger werden entscheiden, wer Zugang zu dem Material bekommt. Ovenden schreibt: „Auswahl, Erwerb und Katalogisierung wie auch das Wegwerfen und Bewahren sind niemals neutrale Akte.“

Die herkömmliche Dokumentation, das Sammeln von Manuskripten und Büchern wird immer risikoreich bleiben. In einer Ära des Klimawandels kann die zunehmende Häufigkeit und Intensität von Bränden und Stürmen trotz moderner Bibliotheksausstattung und vorbeugender Brandschutz- und sonstiger Sicherheitsmaßnahmen verheerende Schäden anrichten. Und das digitale Zeitalter bringt neue Herausforderungen mit sich.

Dieses Buch eines Experten an einer der weltweit führenden Bibliotheken ist von Dringlichkeit und Leidenschaft geprägt. Alle, die ein Interesse an der Zukunft des gemeinsamen geistigen Erbes der Menschheit haben, sollten es ernst nehmen und sich über das Bewahren dieses Erbes Gedanken machen – gerade in Zeiten, in denen wir auf Knopfdruck über so viel Wissen verfügen, zugleich aber die Infrastruktur des Bewahrens vergangener Spuren so fragil ist und diese Gefahr laufen, zu verschwinden. Ovenden sagt: „Im Zentrum steht das Bewahren. Wissen kann verletzlich, anfällig und instabil sein.“ Wir sollten uns den Zugang zu ihm erhalten.

Aus dem Englischen von Christian Seeger

„Bedrohte Bücher. Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens”, von Richard Ovenden. Suhrkamp, Berlin 2021