Die zweihundert Augen der Jakobsmuschel
Menschen lieben es, über Außerirdische nachzudenken, darüber, wie sie wohl aussehen und ob wir uns mit ihnen verständigen könnten. Doch so weit brauchen wir gar nicht zu schauen, schreibt der britische Wissenschaftsjournalist Ed Yong in seinem faszinierenden neuen Buch „Die erstaunlichen Sinne der Tiere“: Die Sinne der Tiere sind exotisch genug.
Unsere Welt ist bunt, oft laut und hektisch, sie kann uns schon einmal überfordern. Und doch: Alles, was wir sehen, riechen und hören, ist nur ein kleiner Teil dessen, was man wahrnehmen könnte, wenn man die nötigen Sinnesorgane hätte. Da gibt es nicht nur Töne, die zu hoch oder zu tief für unsere Ohren sind, ultraviolettes und infrarotes Licht und Gerüche, die zwar eine Hunde-, aber keine Menschennase wahrnehmen kann. Da sind zum Beispiel auch Oberflächenvibrationen, von de-nen wir nichts mitbekommen, mit deren Hilfe aber 200.000 Insektenarten kommunizieren.
„Bei Fischen sind die Geschmacksrezeptoren über den ganzen Körper verteilt“
„Die Welt um uns herum ist voller Signale, die wir nicht bemerken“, konstatiert Yong. Er geht die Sinne der Lebewesen einen nach dem anderen durch – Riechen und Schmecken, Sehen, Hören, Schmerz-, Temperatur- und Vibrationsempfinden und die uns so fremden Sinne für magnetische und elektrische Felder – und erklärt, wie die Organe beschaffen sind, die ihnen zugrunde liegen. Dazu hat er Forscherinnen und Forscher in ihren Laboren und in der Natur besucht, hat durch Brillen mit Farbfilter geschaut und mit hochempfindlichen Mikrofonen belauscht, wie Buckelzirpen, eine Zikadenart, Vibrationen erzeugen, die sich über die Blätter, auf denen sie sitzen, zu Artgenossen übertragen.
Er hat sich Mörderfliegen zeigen lassen, die statt mit der Zunge mit den Füßen schmecken und die so schnell sehen, dass ihnen alles, was wir tun, wie in Zeitlupe vorkommen muss. Bei Fischen, so berichtet Yong, sind die Geschmacksrezeptoren über den ganzen Körper verteilt. Überall, wo keine Schuppen sitzen, kann ein Fisch schmecken, er ist eine Art schwimmende Zunge.
Yong erzählt von Tiefseewesen, die so lichtempfindlich sind, dass sie erblinden, wenn neugierige Forschende sie mit den Scheinwerfern ihres U-Bootes anleuchten, von Eiswürmern, die mit arktischer Kälte zurechtkommen, aber sterben, wenn ein Mensch sie in seine warme Hand nimmt, und von Feuerkäfern, die sich am liebsten in einem brennenden Wald paaren: Diese finden das Feuer mithilfe von kugelförmigen Infrarotsensoren, die hinter ihren mittleren Beinen sitzen.
Ebenso erstaunlich wie die Vielfalt der tierischen Sinne ist die Findigkeit der Forschenden, die ihnen auf der Spur sind. So banden sie etwa Jakobsmuscheln an kleinen Sitzen vor einem Monitor fest und zeigten ihnen Filme, um festzustellen, was sie mit ihren bis zu 200 Augen sehen können. Oder sie pinselten Ameisen mit dem Geruch toter Artgenossinnen ein, was dazu führte, dass diese von ihren Mitbewohnerinnen auf den Ameisenfriedhof verfrachtet wurden, ob sie zappelten oder nicht. Womit bewiesen war, dass Ameisen sich vor allem an Gerüchen orientieren.
Wir leben alle in einer Welt, doch diese sieht für die verschiedenen Wesen ganz unterschiedlich aus, erklärt Yong. Der Biologe Jakob von Uexküll nannte das, was ein Wesen wahrnehmen kann, seine Umwelt. Wie es in einem Haus Fenster mit unterschiedlichem Ausblick gibt, haben Tiere verschiedene Sinne, die ein jeweils anderes Bild von der Welt bieten. Wir können uns weder vorstellen, wie die Tiere einander wahrnehmen, noch, wie die Welt für sie aussieht, so der Autor.
So leuchten Blüten für manche Vogelarten und Insekten in ultravioletten Farben, die wir nicht sehen. Zudem sind Blüten von charakteristischen elektrischen Feldern umgeben. Auch diese nehmen wir nicht wahr, anders als etwa Bienen und Hummeln, die sie über ihre vielen winzigen Haare registrieren.
„Nur wir können herausfinden, welche Vielfalt es da draußen gibt“
Die Welt wirkt beim Lesen plötzlich seltsam fremd. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, so Yong, das, was man wahrnehmen kann, für alles zu halten, was wahrzunehmen ist. Und entsprechend zu handeln. So plädiert er im letzten Kapitel dafür, bei Eingriffen in die Umwelt auch an die zu denken, die anderes empfinden als wir: die vom Licht um ihre Orientierung gebrachten Insekten, Vögel und Schildkröten, die vom Lärm unter Wasser gestressten Fische.
Und auch an uns selbst: Viel zu schnell seien wir bereit, eine Welt hinzunehmen, in der viele Wahrnehmungen nicht mehr möglich sind, etwa der Blick auf die Milchstraße, die im hell erleuchteten Nachthimmel verschwindet. Es gehe ihm bei der Betrachtung der Sinne der Tiere weder um Rekorde noch um ein Besser oder Schlechter, schreibt Yong, ihn interessieren lediglich die Vielfalt und die Möglichkeit, die Lebewesen besser zu verstehen. Denn wir sind die Einzigen, die sich bewusst machen können, dass andere die Welt anders sehen. Nur wir können herausfinden, welche Vielfalt es da draußen gibt.
Ein faszinierendes, insgesamt vielleicht ein bisschen zu langes Werk, das dem Menschen seinen Platz anweist: als einer unter vielen, die in Welten leben, die wir uns kaum vorstellen können. Dieses Buch macht unsere Welt größer als jede Fantasie über Außerirdische.
Die erstaunlichen Sinne der Tiere. Erkundungen einer unermesslichen Welt. Von Ed Yong. Verlag Antje Kunstmann, München, 2022.