Die Nichtbeachteten
„Über viele Generationen“, so eröffnete der indonesische Präsident Sukarno am 18. April 1955 die Konferenz von Bandung auf der Insel Java, „hatten unsere Völker keine Stimme in der Welt. Wir waren die Nichtbeachteten, die Völker, für die andere die Entscheidungen trafen, die Völker, die in Armut und Erniedrigung lebten.
Dann verlangten unsere Nationen nach Unabhängigkeit, sie kämpften dafür, und sie erlangten Unabhängigkeit. Mit dieser Unabhängigkeit aber kam Verantwortung. Wir haben eine große Verantwortung für uns selbst und für die Welt und die noch nicht geborenen Generationen.“
Ein Ereignis von weltgeschichtlicher Dimension: Die Vertreter ehemaliger Kolonien trafen sich, um gemeinsam die Weltlage zu debattieren. Bandung steht für eine neue Epoche, für das Zeitalter der Entkolonialisierung, für das Zurückdrängen der Großmächte durch andere Methoden als den Krieg, für die Möglichkeit einer Neugestaltung der Welt.
Im Lagerdenken des Kalten Krieges war ein solches internationales Forum außerhalb der Blöcke eigentlich nicht vorgesehen. Vor allem im Westen erwartete man daher von dem Treffen wenig Gutes.
„Bandung steht für eine neue Epoche, für das Zeitalter der Entkolonialisierung, für das Zurückdrängen der Großmächte"
Für die Teilnehmer hingegen waren es Tage des Aufbruchs. Und Indonesien erhielt für einige Zeit einen Platz mitten auf der Weltkarte, Sukarno wurde über Nacht zu einem der wichtigsten Staatsmänner. Er reiste kreuz und quer über den Globus, wurde vom Westen wie vom Osten hofiert, sprach mit Eisenhower, Adenauer, Chruschtschow, Mao und dem Papst.
Nur in die Niederlande führten ihn seine Reisen nie: das Land, das sein Leben so entscheidend geprägt hatte. Und dessen Kolonialherrschaft in seiner Heimat Indonesien er so erbittert bekämpft hatte.
Der indonesische Unabhängigkeitskrieg zwischen August 1945 und Dezember 1949, in dem Sukarno eine solch entscheidende Rolle spielte, war extrem brutal. Er steht im Zentrum des dickleibigen Buches von David van Reybrouck, dem belgischen Historiker, Autor und Journalisten, hierzulande bekannt geworden durch seine vor zehn Jahren erschienene fulminante Studie zur Geschichte des Kongo.
In seinem neuen Werk bettet er die relativ kurze revolutionäre Periode des Befreiungskampfes in die Geschichte des niederländischen Kolonialimperiums ein. Auf diese Weise vermittelt er ein Verständnis dafür, wie jene Revolution aus dem Rassismus, der Ausbeutung und der Brutalität erwuchs, welche die niederländische Herrschaft in Indonesien kennzeichneten.
„Die Besatzung brachte viel Leid, Terror, Gewalt und Hunger über die einheimische Bevölkerung, wirkte aber zugleich als Beschleuniger der Unabhängigkeitsbewegung“
Van Reybrouck vergleicht die Gesellschaft des kolonial unterworfenen Indonesien (Niederländisch-Indien) mit einem Ozeandampfer mit drei Schiffsdecks. Auf dem unteren Deck drängten sich die „Habenichtse“: Bauern, Arbeiter, einfache Soldaten und Arbeitslose. Ein Stockwerk höher, schon unter deutlich bequemeren Umständen, fanden sich Händler, kleine Fabrikanten und Angestellte.
Auf dem obersten Deck schließlich die Elite der kolonialen Gesellschaft, die es sich an Bord richtig gut gehen ließ: Plantagenbesitzer, höhere Beamte und Offiziere. Die Ordnung auf dem Schiff war, schreibt der Autor, ausgesprochen hierarchisch, aber nicht völlig statisch.
Ein begrenztes Maß an sozialer Mobilität war möglich, freilich ging es abwärts am schnellsten, während Aufstiegschancen minimal blieben, sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise sogar noch verringerten. „Die Leitern zu den höheren Decks verrosteten oder wurden sogar abgebaut. Die Ordnung konnte nur noch durch Repression aufrechterhalten werden.“
Es waren zunächst allerdings weniger die verarmten Menschen vom unteren Deck, die unbequeme Fragen stellten und sich aktiv gegen diese Ordnung zur Wehr setzten, sondern die Gruppe der „sozialen Aufsteiger“. Der Autor beschreibt detailliert die antikolonialen Bewegungen, wie sie sich zwischen den beiden Weltkriegen entwickelten.
Während die Kluft zwischen Indonesierinnen und Indonesiern und Niederländerinnen und Niederländern unüberbrückbar wurde, verringerte sich der Abstand der einheimischen Bevölkerung zu einer anderen, einst ebenfalls sehr fernen Gruppe: den Japanerinnen und Japanern. Deren Präsenz in der Kolonie hatte in den früheren 1930er-Jahren stark zugenommen.
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs änderte sich die Situation radikal. Während das „Mutterland“ in Europa seit Mai 1940 von den Deutschen besetzt war, eroberte die japanische Armee 1942 Niederländisch-Indien. Sie blieb drei Jahre. Die Besatzung brachte viel Leid, Terror, Gewalt und Hunger über die einheimische Bevölkerung, wirkte aber zugleich als Beschleuniger der Unabhängigkeitsbewegung.
„Die große Stärke von van Reybroucks Darstellung besteht darin, dem Kampf für Unabhängigkeit in Indonesien ein menschliches Antlitz zu verleihen“
Sukarno kooperierte eng mit der japanischen Militärverwaltung. Dies trug ihm, nicht zuletzt in den Niederlanden, den Vorwurf ein, er habe mit Faschisten kollaboriert. Van Reybrouck formuliert hierzu eine angemessene Einschätzung. Der japanische Imperialismus habe Sukarno nie gefallen, ”die militaristische Begeisterung und das Totalitäre waren ihm fremd.
Seine gesamte politische Aktivität war auf ein Ziel, ein Ideal ausgerichtet: die Unabhängigkeit Indonesiens. Um sie zu erreichen, war er zu sehr weit gehenden Zugeständnissen an die Besatzer bereit, zumal sie aus einem Land stammten, das er bewunderte, weil es nie kolonisiert worden war und sich doch zu einer modernen Wirtschaftsmacht entwickelt hatte.“
Nach dem Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki kapitulierte Japan am 15. August 1945. Nur zwei Tage später verlas Sukarno, an der Seite von Mohammad Hatta, einem weiteren Veteranen der antikolonialen Bewegung, die „Proklamasi“, die Unabhängigkeitserklärung. Doch es sollten noch viereinhalb Jahre vergehen, bis das Land endgültig die koloniale Fremdherrschaft formal abschütteln konnte.
Die Niederlande waren nämlich keineswegs gewillt, ihre Macht aufzugeben. Auch andere Staaten mischten kräftig mit, Großbritannien zunächst, später vor allem die Vereinigten Staaten. Am Ende war es nicht zuletzt der Druck aus Washington, der die Niederlande dazu brachte, klein beizugeben.
Ökonomisch lohnte sich dieser Schritt für die ehemalige Kolonialmacht. Indonesien musste die Schulden Niederländisch-Indiens beinahe vollständig übernehmen, Den Haag erhielt zudem Zahlungen aus dem Marshallplan sowie Militärhilfe im Rahmen der NATO. Die wirtschaftliche Erholung der Niederlande in den 1950er-Jahren verdankt sich zu einem großen Maße dem zögerlichen und von Gewalt geprägten Abzug aus Indonesien, den sich die Kolonialmacht gleichsam gut bezahlen ließ.
Die große Stärke von van Reybroucks Darstellung besteht darin, dem langen Kampf für Unabhängigkeit in Indonesien ein menschliches Antlitz zu verleihen. Der Autor bezeichnet es als sein Anliegen, das zusammenzubringen, „was zahlreiche Historiker mit großer Sachkenntnis ergründet haben, ohne dass ihre Erkenntnisse immer ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit vorgedungen wären“.
„Van Reybrouck erzählt Geschichten von Leiden, Hoffnung und Heldentum, von Sadismus, Brutalität und kaltblütigen Morden"
Vor allem aber hält er sich an „die letzten Zeugen der Revolusi“. Er führte mehr als 180 Interviews mit inzwischen hochbetagten Personen aus allen Schichten und politischen Gruppierungen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg die Transformationen in Indonesien erlebt haben, darunter einheimische Nationalisten ebenso wie niederländische Militärs oder japanische Besatzer. Er erzählt Geschichten von Leiden, Hoffnung und Heldentum, von Sadismus, Brutalität und kaltblütigen Morden.
Bei allem Verdienst, diese wichtigen und oft faszinierenden Stimmen aufgespürt und aufgezeichnet und zugleich eine sehr gut lesbare Geschichte der indonesischen Unabhängigkeit geschrieben zu haben, bietet das Buch am Ende keine neuen umstürzenden Einsichten. Überdies leidet die Analyse darunter, dass der Autor die Geschichte vom bekannten Ende her schreibt.
Alle möglichen Kämpfe und Auseinandersetzungen werden als Teil des schließlich siegreichen antikolonialen Nationalismus interpretiert. Seine »Revolusi« kommt als vereinte Massenbewegung daher, die sich einem von allen geteilten Ziel verschrieben hatte: der Unabhängigkeit in einer zentralistischen Republik. Lokale Varianten, Zweifel, Divergenzen, unbegangene Wege bleiben weitgehend außen vor.
Später wurde der Geist von Bandung, der so stark aus der indonesischen Revolution schöpfte, mutwillig erstickt; und ”wieder war Indonesien der – diesmal traurige – Vorreiter“. Im Oktober 1965 diente ein angeblicher linker Umsturzversuch als Vorwand, Sukarno abzusetzen und mithilfe der CIA ein deutlich weiter rechts stehendes Regime zu etablieren – einer der ersten großen von den USA unterstützten Militärputsche des Kalten Krieges.
Im Anschluss wurden in entsetzlichen Gewaltexzessen zwischen einer halben und mehr als einer Million Indonesierinnen und Indonesier ermordet – Progressive, Kommunistinnen, ethnische Chinesen. Zahllose Lehrer, Journalistinnen und Studenten landeten im Gefängnis. General Suharto errichtete eine Militärdiktatur, die mehr als drei Jahrzehnte Bestand haben sollte.
Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Von David van Reybrouck. Suhrkamp, Berlin, 2022.