Das neue Polen

In der Zange

Polen musste sich oft gegen seine großen Nachbarn verteidigen. Wie die Geschichte die Nation zusammenschweißte – und zu ihrer Spaltung missbraucht wird

Zwei junge Frauen stehen am Geländer einer Brücke. Sie schauen ins Wasser. Im Hintergrund sind drei moderne Gebäude in rot und orange, davor die polnische Flagge.

Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig

Polen ist ein Land, in dem die Geschichte viel bedeutet, möglicherweise zu viel. Ihr Stellenwert in Gesellschaft und Öffentlichkeit bildet einen der spürbarsten Unterschiede zwischen Polen und den meisten westeuropäischen Ländern. In Polen greift das Denken oft auf die Geschichte zurück, und die Politik tut es auch. Die Parteien machen reichlich von der Vergangenheit Gebrauch, um damit ihre Identität zu stiften, Anhänger zu mobilisieren, aber auch, um Feindbilder zu entwerfen.

Diese Diskrepanzen zwischen Polen und dem übrigen Europa sind weitgehend auf historische Erfahrungen zurückzuführen. Als sich im 19. Jahrhundert im Westteil des Kontinents moderne Nationen innerhalb staatlicher Strukturen herausbildeten, besaßen die Polen keinen eigenen Staat. Sie hatten ihn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verloren, denn im Zuge dreier Teilungen hatten Russland, Preußen und Österreich das Territorium des polnischen Staates untereinander aufgeteilt – eines Staates, der noch im 16. und 17. Jahrhundert eine Großmacht dargestellt, sich dann aber, infolge verheerender Kriege, innerer Schwäche und zunehmender wirtschaftlicher Rückständigkeit, in stetigem Niedergang befunden hatte. 1795 hatten die drei Nachbarn seiner Existenz definitiv ein Ende gesetzt.

Während der darauffolgenden hundert Jahre lebten die Polen unter Fremdherrschaft und waren wiederkehrenden Wellen der Russifizierung und Germanisierung ausgesetzt, die ihre Nationalkultur bedrohten. Die Unterjochung beantworteten sie mit verschwörerischen Freiheitsbestrebungen und fehlgeschlagenen Versuchen bewaffneter Aufstände. Die größte Reichweite hatten zwei Aufstände gegen Russland in den Jahren 1830/31 und 1863/64. Trotz ihres Scheiterns gingen sie in die nationale Mythologie ein, die nachfolgende Generationen inspirierte. Während sich in Westeuropa die Nationalstaaten konsolidierten, die moderne Bürokratie ausweitete und die Industrialisierung vollzog, hatten die Polen keinen eigenen Staat, der ihre Anstrengungen in Bahnen hätte lenken können. An seiner statt war der patriotischste Teil der Nation bestrebt, die Nationalidentität aufrechtzuerhalten; ein Mittel dazu war die Erinnerung an den Glanz früherer Jahrhunderte der polnischen Historie.

„Nach 1945 verschoben die Siegermächte Polen Hunderte Kilometer nach Westen“

Der Erste Weltkrieg brachte den Zerfall der Großreiche, unter deren Herrschaft Generationen von Polen gelebt hatten: des Deutschen Kaiserreichs, des russischen Zarenreichs und Österreich-Ungarns. 1918 wurde ein eigenständiger polnischer Staat wiedererrichtet, doch mussten zunächst Kriege geführt werden: gegen die Deutschen (in Großpolen und Schlesien), die Ukrainer (in Ostgalizien) und vor allem gegen das bolschewistische Russland. Letzteres bedrohte die Existenz des soeben wiedererschaffenen polnischen Staates. 1920 konnte die Rote Armee vor Warschau zum Stehen gebracht werden. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb Polens Unabhängigkeit von Ost und West durch zwei mächtige Nachbarn bedroht, die mit dem Versailler Vertrag unzufrieden waren. Nachdem 1939 in Moskau Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow den Pakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion unterzeichnet hatten, griffen die beiden Staaten Polen an und nahmen eine erneute Teilung vor. Doch diesmal war die Fremdherrschaft viel brutaler. Im Krieg kamen etwa sechs Millionen polnische Staatsbürger ums Leben, darunter drei Millionen polnische Juden und über zwei Millionen ethnische Polen. Die Mehrheit fiel dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.

Die deutsche Besatzung in Polen war viel grausamer als im westlichen Europa und gekennzeichnet durch Massenexekutionen der Zivilbevölkerung und die planmäßige Auslöschung der Eliten. Ein besonderes Trauma ist der Warschauer Aufstand von 1944, als deutsche Truppen über einhunderttausend Zivilisten ermordeten. Zur Erinnerung meiner Familie gehört die Erzählung meiner Mutter, die im September 1944 als Vierjährige mit ihren Eltern und Brüdern von den Deutschen aus ihrem Haus geholt und auf einen nahegelegenen Platz getrieben wurde, wo die Erschießung der versammelten Zivilisten begann – und dann etwas später aus unbekannten Gründen eingestellt wurde. Die Zahl der den Sowjets zum Opfer Gefallenen war ebenfalls beträchtlich (über einhunderttausend), und die Ermordung gefangen genommener polnischer Offiziere in Katyn war ein umso größeres Trauma, als Moskau dieses Verbrechen fast bis zur Auflösung der Sowjetunion abstritt.

Als 1945 der Krieg endete, befand sich Polen formal im Lager der Sieger, büßte jedoch – trotz beibehaltener Eigenstaatlichkeit – seine Unabhängigkeit ein und verblieb bis 1989 unter der Herrschaft Moskaus und der Regierung der Kommunisten. Auch verlor es die Osthälfte seines Territoriums und erhielt als Wiedergutmachung Gebiete im Westen, die zuvor zu Deutschland gehört hatten. Aus ihnen wurden Millionen Deutsche ausgesiedelt, die dasselbe Schicksal teilten wie die Polen, die ihre Häuser im Osten verlassen mussten. Auf Beschluss der Siegermächte wurde Polen um mehrere Hundert Kilometer nach Westen verschoben. Der wiederkehrende, Demokratisierung begehrende Aufruhr gegen die kommunistischen Machthaber (besonders 1956, 1970 und 1980) schuf einen neuen nationalen Mythos. Die Kreise der demokratischen Opposition, die seit den 1970er-Jahren vermehrt aktiv waren, knüpften an frühere Revolten an und riefen historische Ereignisse in Erinnerung, die von den Kommunisten falsch dargestellt wurden, wie das Massaker in Katyn oder den Ribbentrop-Molotow-Pakt. Selbstredend machte nicht nur die demokratische Opposition sich die Geschichte zunutze, sondern auch die regierenden Kommunisten. In ihrer Lesart ging es hauptsächlich darum, die noch immer in der Gesellschaft lebendigen antideutschen Ressentiments zu schüren, die der Krieg in nahezu jeder polnischen Familie hinterlassen hatte.

Als 1989 das kommunistische System zusammenbrach, mussten die Polen nicht nur einen demokratischen Staat und die kollabierte Wirtschaft aufbauen, sondern sich auch ihrer Geschichte stellen, die in der Nachkriegszeit verfälscht worden war. Im ersten Jahrzehnt des demokratischen Polen lag das Augenmerk der Historiker darauf, die „weißen Flecken“ zu beseitigen, Themen aufzugreifen, die verschwiegen oder verfälscht worden waren. Dies betraf in erster Linie kommunistische und sowjetische Verbrechen. Doch schon ab dem Beginn des neuen Jahrhunderts standen andere Themen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: die deutsch-polnischen Beziehungen und der Holocaust. Bei Ersterem lag dies daran, dass man in Deutschland auf das Thema der Vertreibungen und der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung zurückkam. Besonderes Unbehagen weckten in Polen die Aktivitäten des Bundes der Vertriebenen und seiner damaligen Vorsitzenden Erika Steinbach, die als Versuch einer Revision des Geschichtsbildes wahrgenommen wurden: die Deutschen als Opfer darzustellen und die Polen als Verursacher ihres Leids.

„Die heutigen Machthaber schüchtern Historiker und Journalisten auf vielfältige Art ein“

Hinzu kam der Schock, den im Jahr 2000 die Aufdeckung des Massakers von Jedwabne auslöste: In der nordostpolnischen Kleinstadt hatten Polen 1941 Hunderte jüdische Nachbarn ermordet. Historiker zeigten, dass Polen während des Krieges massenhaft an der Judenverfolgung beteiligt gewesen waren. Sie hatten an den Morden teilgenommen oder auf eigene Faust getötet. Dies schockierte die Öffentlichkeit, die in weiten Teilen vor allem an polnisches Heldentum und Leid während des Krieges glaubte. Weder das eine noch das andere war anzuzweifeln, doch nun kamen neue Fakten ans Licht, die Polen auch als Schergen der Nationalsozialisten zeigten. Nimmt man die breit diskutierten Vertreibungen der Deutschen hinzu, wird die Abwehrreaktion der polnischen Gesellschaft verständlich.

Diese Ängste wurden von der politischen Rechten vereinnahmt, insbesondere von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Sie schuf das Konzept der Geschichtspolitik, das heißt der Verpflichtung des Staates, das heroische Bild der polnischen Geschichte aktiv zu verteidigen. Es war die Rede von einer „Geschichte des Ruhmes“, die wieder eine Vorrangstellung einnehmen solle, statt der „Geschichte der Schande“, wie sie angeblich von liberalen Eliten propagiert werde. Auf diese Weise wurde die Geschichte zu einem wichtigen politischen Treibstoff, mit dem sich die eigenen Anhänger mobilisieren und gleichzeitig die angeblichen Bedroher dieses Bildes brandmarken, ja aus der nationalen Gemeinschaft ausschließen ließen. In den Folgejahren wurden Verweise auf die Geschichte zu einem Schlüsselthema der Politik und Ideologie rechter Populisten. Aus den oben angeführten Gründen ist die Geschichte Polens komplizierter als in anderen Ländern. In Polen ist das nationale Selbstverständnis und Zugehörigkeitsgefühl nicht vorwiegend staatlich geprägt. Patriotismus und Zugehörigkeit zur Gemeinschaft definieren sich stattdessen weitgehend durch Bezüge auf die Vergangenheit, auf historische Symbole, mit denen Gefühle wie Stolz, aber auch Ängste verbunden sind.

Diese Ängste beutet die seit 2015 regierende PiS aus, wenn sie argumentiert, die polnische Identität sei infolge des Beitritts Polens zur Europäischen Union in Gefahr durch die Übernahme dortiger kultureller Muster, die einheimische Traditionen bedrohten. Dem sei entgegenzuwirken, indem der polnische Katholizismus und das traditionelle Familienbild verteidigt würden, durch Stärkung der Kirche, Schließung der Staatsgrenze für Flüchtlinge, den Kampf gegen LGBT, das Verbot der Abtreibung. Doch ein ebenso wichtiger Schauplatz der Auseinandersetzung ist die Geschichte. Die Regierenden sind bemüht, Themen aus der Öffentlichkeit zu verbannen, die einem Geschichtsbild der Polen als Helden und Opfer nicht entsprechen. Im Jahr 2018 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden konnte, wer den Polen eine Beteiligung an der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges anhängt. Unter internationalem Druck wurde die Gefängnisstrafe zurückgenommen, doch die Machthaber schüchtern auf viele Arten Historiker und Journalisten ein, die den Mut haben, sich des Themas anzunehmen.

„Die Geschichte ist vor allem Stoff für Konflikte und Polarisierung“

Auch bereinigte die Regierung den öffentlichen Raum von Interpretationen der Vergangenheit, die nicht mit der offiziellen Parteilinie übereinstimmen. Dies betrifft in erster Linie die Museen, die in Polen massenhaft besucht werden. Die bekannteste Kontroverse betraf das größte historische Museum Polens: das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, dessen Ideengeber und Gründungsdirektor ich war. Es wurde 2017 für den Publikumsverkehr geöffnet, de facto gegen die Regierung, die versuchte, dies zu vereiteln. Die PiS war der Ansicht, das Museum sei nicht polnisch genug und präsentiere eine zu europäische Sicht auf den Krieg, weil es nicht nur das Schicksal der Polen, sondern auch anderer Völker zeige. Dem Museum wurde „Pazifismus“ vorgeworfen, da der Krieg als Tragödie gezeigt werde. Jarosław Kaczyński, der Chef der Regierungspartei, warf den Museumsmachern und unterstützenden Politikern vor, sie handelten in fremdem Interesse. In einem Fernsehinterview sagte er: „Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig, ein eigentümliches Geschenk von Donald Tusk an Angela Merkel, ist nichts anderes als ein Beitrag zur deutschen Geschichtspolitik.“ Dies war keine leicht dahingesagte Bemerkung; dieselbe Ansicht fand Eingang ins Parteiprogramm der PiS. Nachdem die Regierung nach einem Gerichtsstreit das Museum unter ihre Kontrolle gebracht hatte, wurde damit begonnen, in der Ausstellung Veränderungen gemäß der Linie der Regierungspartei vorzunehmen.

Heute ist Geschichte in Polen in der Öffentlichkeit überall präsent. Allerdings bildet sie nicht mehr den gemeinsamen Boden, auf welchem Menschen mit unterschiedlichen Anschauungen zusammenkommen, sondern sie ist vor allem Stoff für Konflikte und Polarisierung. Die Geschichte als pluralistischen Raum des Dialogs wiederherzustellen, wird in Zukunft eine ebenso wichtige Herausforderung sein wie der Wiederaufbau des demokratischen Rechtsstaats, dessen Grundlagen in Polen seit einigen Jahren systematisch unterhöhlt werden.

Aus dem Polnischen von Hans Gregor Njemz