Verborgene Entwürfe
Die Kulturgeschichte erinnert sich kaum an selbst gemachte Gegenstände. Dabei erzählen diese oft außergewöhnliche Geschichten
Nachdem Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hatte, bastelten sie sich vermutlich irgendein Stockwerkzeug, mit dem sie die Erde umgraben oder Dinge zu sich heranfischen konnten. Das war die Geburtsstunde der materiellen Kultur. Dieses Werkzeug ist nicht erhalten, und in die große Kulturgeschichte ist das Phänomen der handgefertigten nützlichen Dinge für den Alltagsgebrauch bis heute auch nicht eingegangen. Nach wie vor gibt es auf der ganzen Welt kein einziges Museum für Selbstgemachtes, obwohl Millionen von selbst gemachten Dingen existieren. Ich rede nicht von professionell handgefertigten Gebrauchsgegenständen – davon gibt es sogar Milliarden.
Ich rede von jenen Dingen, die jeden Tag um uns sind, ohne dass wir sie beachten. Und wieso beachten wir sie nicht? Weil ihre Schöpfer weder Künstler noch Designer oder Architekten sind (die eben alles dafür tun, damit ihre Werke Beachtung finden), sondern „einfache“ Leute.
Normalbürger, die sich für ihre Hervorbringungen oft sogar genieren, weil sie in ihnen unliebsame Zeugnisse ihrer eigenen Armut und Isoliertheit und ihrer – je nach Land – bewusst oder notgedrungen begrenzten Möglichkeiten sehen. Andererseits sind diese Gegenstände, weil sie niemandem zu gefallen suchen und nur für den eigenen Gebrauch bestimmt sind, das Resultat freier Improvisationskunst. Sie zeigen die Begabung und den Einfallsreichtum ihrer Erzeuger – und damit eine paradoxe Mischung aus Notwendigkeit und Freiheit.
Nicht standardmäßige Problemlösungen führen in der Regel zu ungewöhnlichen und nicht zuletzt ästhetischen Ergebnissen
Für mich gilt: Je weniger es dem Urheber darum geht, etwas Schönes herzustellen, umso größer ist der ästhetische Wow-Effekt. Aus irgendeinem Grund wird üblicherweise davon ausgegangen, dass es zur Hervorbringung ästhetischer Werte Menschen der entsprechenden Berufsgruppen braucht. In Wahrheit aber ist Ästhetik ein Nebenprodukt praktisch jeder beliebigen Arbeit.
Der springende Punkt ist die Reflexion oder der Beurteilungsmaßstab: Welchen Dingen messen wir einen Wert bei? Wertvorstellungen sind je nach Kontext unterschiedlich. In einer Quarantänesituation oder in erzwungener Isolation ist es zum Beispiel wichtig, dass man eine Steckdose reparieren oder, wie in einem bekannten russischen Märchen, Suppe aus einer Axt kochen kann. Nicht standardmäßige Problemlösungen führen in der Regel zu ungewöhnlichen und nicht zuletzt ästhetischen Ergebnissen.
Als Russland noch sowjetisch (und von der Welt isoliert) war, herrschte allerorten Gütermangel. Die Menschen versuchten ihre Alltagsprobleme irgendwie auf eigene Faust zu lösen. Mein Vater Wasilij Grigorjewitsch Archipow arbeitete in den 1960er-Jahren als Ingenieur in einem Betrieb, in dem man zwei Jahre auf seinen bestellten Kühlschrank warten musste.
So beschloss mein Vater, einen Kühlschrank selbst zu bauen. Das Ergebnis war ein rechteckiger Holzkühlschrank, denn Sperrholz lässt sich bekanntlich nicht biegen (Anfang der 1960er-Jahre waren „bauchige“ Kühlschränke in Mode). Auf diese Weise wurde mein Vater zum Vorreiter eines neuen Zeitalters im Kühlschrankdesign.
In den 1990er-Jahren war der Gütermangel in Russland so gut wie überwunden. Die Dinge verloren ihren Fetischcharakter, und Kühlschränke landeten schon wegen kleiner Defekte auf der Müllkippe.
Boris Tichonowitsch Kapustin besorgte sich einen dieser Kühlschränke, weidete ihn komplett aus, riss die Tür heraus. Er legte ihn flach und stellte den Kühlschrank auf Kinderwagenräder – fertig war das Thermos-Wägelchen, mit dem er auf dem Markt seines Städtchens Tschebureki, gefüllte Teigtaschen, verkaufte (siehe Abbildung oben).
Diese sonderbaren Apparate werden von Menschen aller Konfessionen, Nationalitäten und Altersgruppen angefertigt
Als ich mich 1994 für das Phänomen der selbst gemachten Gebrauchsgegenstände zu interessieren begann, dachte ich zunächst, solche Gegenstände würden nur von armen Leuten und nur in Russland angefertigt. Ich trieb rund 1.700 russische Gegenstände auf, von denen einige in dem Buch „Home-Made: Contemporary Russian Folk Artifacts“ vorgestellt werden.
Als ich später die Möglichkeit bekam, andere Länder nach selbstgemachten Dingen zu durchforsten, begriff ich, dass dieses Phänomen etwas Universelles ist. Diese sonderbaren Dinge und Apparaturen werden von Menschen aller Konfessionen, Nationalitäten und Altersgruppen angefertigt. Wenn Kinder nicht mit Lego-Bausteinen zugeschüttet werden, denken sie sich ständig irgendwelche Spiele und Spielrequisiten aus.
Sie lassen den Stock zum Säbel und zur Rakete werden. Diese Reinkarnationen sind allerdings so kurzlebig und zerbrechlich, dass man sie nur schwer nachverfolgen, von ihnen erzählen oder sie im Internet teilen kann (insbesondere wegen der neuen YouTube-Kinderschutzrichtlinien). Die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, ist ein Gattungsmerkmal des vernunftbegabten Menschen und zeigt sich besonders deutlich in der Kindheit.
Später gewinnt unsere Rationalität Überhand, wir lassen uns von gesellschaftlichen Konventionen hemmen und erinnern uns nur dann an unsere kreativen Anfänge, wenn „der Schuh drückt“ – also wenn die Notwendigkeit uns zwingt, uns auf sie zu besinnen. Man kann auf kreative Weise Brot aufschneiden oder Suppe zubereiten, aber man darf das kreative Schaffen ebenso wenig wie die Liebe als Geschäft betreiben – man darf lieben und erschaffen oder auf den Zufall vertrauen.
Dinge, die als Zufallsprodukte entstehen, unterscheiden sich deutlich von absichtsvoll geplanten Objekten. Zufallsgegenstände kann auch jemand erschaffen, der über keinerlei berufliche Fertigkeiten und Kenntnisse verfügt – ihm oder ihr kommt es nur darauf an, für ein Problem schnell eine Lösung zu finden – wie etwa der zusammengebastelte Rasierer oder die aus einer alten Krücke gebaute Schaufel (zweite Abbildungen oben). Hat man hingegen Zeit zum Nachdenken und sorgfältigen Ausführen, kommen oft ausgereiftere Gegenstände dabei heraus.
So oder so ist die Ästhetik des Selbstgemachten, die sich von den Funktionen des jeweiligen Gegenstands ableitet, für ihre Urheber nicht die Hauptsache. So gesehen sind die Urheber von selbst gebauten Erfindungen keine richtigen „Designer“. Auf der anderen Seite ist dieses Design vielleicht das „richtigste“ überhaupt. Denn es handelt sich um ideale, ja sakrale Gegenstände: Sie lassen sich nicht kopieren; sie gehören nur einem einzigen Menschen und sind nur einem Menschen zu Diensten: ihrem Urheber.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld