Die neue Realität
Ist die Klimakrise noch zu stoppen? Christiana Figueres und Tom Rivett-Carnac, Autoren des Pariser Klimaabkommens, bestehen darauf, nach vorn zu schauen
Wie schreibt man über den Klimawandel? Als Leserin oder Leser könnte man meinen, das sei ein ganz normales Thema, schließlich handeln zahlreiche Bücher davon. Doch bevor wir uns auf dieses Buch einlassen, sollten wir einen Moment innehalten. Was ist die Intention dahinter – und damit auch von vielen weiteren Büchern, die den Klimawandel zum Thema haben?
Die Antwort liegt auf der Hand: zu verhindern, dass sich die Erde durch das Verbrennen fossiler Energieträger überhitzt, dass Gletscher abschmelzen, der Meeresspiegel steigt, die niedrig gelegenen Küstenregionen der Welt überschwemmt werden, Wälder verbrennen, Millionen Menschen fliehen und Arten aussterben. Erklärtes Ziel des Buches ist es, all das durch Aufklärung der Öffentlichkeit und Einflussnahme auf globale politische Entscheidungen zu verhindern. Vielen mag dies als ganz normales Vorhaben erscheinen.
„Die Zukunft in unserer Hand“ handelt von „der Mutter aller Probleme“, wie Figueres und Rivett-Carnac schreiben – denn jedes einzelne Problem der Gegenwart wird durch den Klimawandel verschärft: Hunger, Kindersterblichkeit, Flüchtlingskrisen, Kriege und so weiter. Und letztlich wird auch die Lösung all dieser Probleme maßgeblich von einer stabilen Erde abhängen. Von einer Erde mit vorhersehbaren Zyklen und Jahreszeiten, mit einschätzbaren Wettermustern und einer funktionierenden Infrastruktur.
Die Autorin Christiana Figueres ist, so könnte man zugespitzt sagen, eine Art Mutter der Mutter aller Probleme: Als Generalsekretärin der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen war sie unter anderem für das Pariser Klimaabkommen von 2015 mitverantwortlich. Wie der englische Titel des Buches „The Future We Choose“ sagt, handelt das Buch von unseren Entscheidungen. Denn es liegt an uns, mit welcher Dringlichkeit wir das Verbrennen fossiler Energieträger stoppen. Es liegt an uns, ob wir das totale Klimachaos vermeiden werden.
„Als wäre der Klimawandel einzig für ,klimabesorgte Leser‘ von Interesse. Als wären Liebhaber von Krimis nicht betroffen von den Folgen der Klimakrise“
Unsere Menschheit hat das Problem des sogenannten „Shifting-Baseline-Syndrom“: Die Welt verändert sich, und wir normalisieren die neue Realität. So, wie zum Beispiel das Coronavirus für viele heute eine „normale“ Situation ist, wenngleich ein solches Virus vor einigen Jahren noch absurd geklungen haben mag. Kürzlich las ich in einer Rezension der Zeitschrift „Publishers Weekly“ den schönen Satz: „Klimabesorgte Leser finden hier zahlreiche Denkanstöße.“
Als wäre der Klimawandel einzig für „klimabesorgte Menschen“ von Interesse. Als wären Liebhaber von Krimis, von Vampir- oder Golfbüchern nicht betroffen von den Folgen der Klimakrise. Es versteht sich von selbst, dass „Die Zukunft in unserer Hand“ nicht nur für Menschen wichtig ist, die sich bereits mit dem Thema Klimawandel auseinandergesetzt haben, sondern auch für diejenigen, die eine Einführung wünschen und das Gefühl haben, sie bräuchten mehr Informationen.
Das Buch ist gut strukturiert, verständlich, informativ und oft inspirierend. Es beinhaltet Instrumente und Leitlinien, die von persönlichen und politischen Entscheidungen bis zu Empfehlungen für den Umgang mit düsteren Prognosen reichen. Das Buch beginnt mit zwei Möglichkeiten: einer fast utopischen kohlenstofffreien Welt im Jahr 2050 und der Welt des „business as usual“, in der viele der schlimmsten Vorhersagen zur Realität geworden sind.
Figueres und Rivett-Carnac stellen zehn leicht verständliche Maßnahmen vor, die alle Lesenden umsetzen sollten, um eine Welt nach ersterem Szenario zu erschaffen, darunter: „Sehen Sie sich selbst als Bürger – nicht als Konsument!“ und „Engagieren Sie sich politisch!“ Die aufgezeigten Maßnahmen erscheinen bei allem guten Willen allerdings mitunter etwas vereinfacht. Zudem identifizieren die Autorin und der Autor drei unterschiedliche Denkweisen, mit denen Menschen sich des Themas Klimawandel annehmen: die des „unerschöpflichen Überflusses“, der „radikalen Regeneration“ und des „hartnäckigen Optimismus“.
„Unerschöpflicher Überfluss“ beruht auf dem Grundgedanken einer Welt ohne Limit, in der der bloße Gedanke an Knappheit zum Horten oder zu Verschwendung führen kann. „Radikale Regeneration“ steht für die Haltung, dass wir einen Großteil der Schäden beheben können, die der Mensch in den vergangenen Jahrhunderten angerichtet hat: durch die Umstellung unserer Ernährung auf pflanzliche Lebensmittel, die Rekultivierung wilder Natur und Wiederaufforstung.
Mit der dritten Denkweise, dem „hartnäckigen Optimismus“, kennt Autorin Figueres sich persönlich gut aus: Ihr Vater José Figueres Ferrer war dreimal Präsident von Costa Rica, wobei es ihm nicht nur gegen alle Widerstände gelang, dass heute 25 Prozent des Landes zu Nationalparks gehören und sogar fünfzig Prozent Costa Ricas von Wald bedeckt sind. Für einen ähnlichen Wandel auf der ganzen Welt brauchen wir sicherlich allen Optimismus, den wir zusammenkratzen können.
„Ich denke, Worte waren noch nie zuvor in der Geschichte so mächtig“
Worte können die Welt verändern. Denn Worte können die Öffentlichkeit und die Politik beeinflussen, die wiederum Gesetze, Vorschriften und internationale Abkommen beschließt, die unser Verhalten beeinflussen oder einschränken und damit das Abschmelzen der Gletscher verhindern. Ich denke, Worte waren noch nie zuvor in der Geschichte so mächtig. Wenn wir die globale Erderwärmung aufhalten, haben wir bewiesen, dass der Mensch ein intelligentes Wesen ist, dessen Zukunft zu Recht in seiner Hand liegt. Andernfalls sind wir wie eine Alge dazu verdammt, in die uns umgebenden natürlichen Ressourcen hineinzuwachsen – nur, um bei deren Erschöpfung zu verenden.
Wann in der Menschheitsgeschichte haben sich die führenden Köpfe der Welt zu einer Konferenz getroffen und darüber diskutiert, wie weit sie die Gletscher schmelzen und die Meeresspiegel ansteigen lassen können? Nicht zu Zeiten von Napoleon, Dschingis Khan, Kleopatra, Stalin oder Moses. Doch nun, im 21. Jahrhundert, treffen sich demokratisch gewählte Präsidenten, Könige, Diktatoren und Häuptlinge und diskutieren über einen Anstieg des Meeresspiegels um einen oder zwei Meter und die Erwärmung um 1,5 oder zwei Grad Celsius.
Daran ist nichts normal – und das dürfen wir nicht vergessen. Erst seit Kurzem ist es überhaupt möglich, ein Buch mit der Absicht zu schreiben, Gletscher zu retten und die Ozeane zu beruhigen. Kriege und Pandemien treten seit Jahrtausenden auf, sie sind „normalere“ menschliche Probleme. Doch die Klimakrise ist es nicht. Wir rütteln an den Grundfesten unserer Existenz und verhindern möglicherweise, dass unsere Kinder auf einem lebenswerten Planeten leben können.
Wir leben in Zeiten, die nicht nur ein neues Kapitel in den Geschichtsbüchern, sondern auch in den Geologiebüchern darstellen: das Anthropozän, in dem der Mensch so mächtig geworden ist, dass er eine wesentliche geologische Kraft darstellt.
„Die Zukunft in unserer Hand“ erschien 2020, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie auf Englisch bei Knopf Borzoi Books, und ist nun auf Deutsch verfügbar. Seit Pandemiebeginn leben die Menschen mit extremen Einschränkungen. Ein Jahr lang sind sie in ihren Wohnungen geblieben, haben auf alle Zusammenkünfte, auf Kultur, Schule, Reisen und Umarmungen ihrer Großmütter verzichtet. Was aber haben wir in Sachen globale Erderwärmung getan, um zu verhindern, dass die Welt aus den Fugen gerät?
In jüngster Zeit ereilten uns zahlreiche ungemütliche Wetterphänomene: massive Hitzewellen, Waldbrände und Jahrhundertüberschwemmungen. Ganz langsam scheinen wir Menschen aufzuwachen. Aber verstehen wir den Ernst der Lage erst, wenn die Flut vor unserer eigenen Haustür steht? Kann ein Buch genug Menschen davon überzeugen, eine kluge Wahl zu treffen, bevor es zu tragischen Folgen kommt?
Noch liegt unsere Zukunft tatsächlich in unserer Hand. Aber nicht mehr lange.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte