Machtwechsel | Afghanistan

„Der Rückzug begann schon vor Jahren“

Als Radiomoderator berichtete Waheedullah Orya aus der Metropole Masar-e Scharif – bis die Taliban ihn mit dem Tod bedrohten. Aus dem Exil sah er nun mit an, wie sie Afghanistan zurückeroberten. Ein Gespräch

Auf einem Landstreifen stehen viele afghanische Menschen. Im Hintergrund sind Berge, wenige Häuser und Strommasten. Über den Menschen fliegt ein Flugzeug.

Menschen blicken in Kabul einem abhebenden Militärflugzeug nach

Das Interview führte Kai Schnier

Herr Orya, in den letzten Wochen und Monaten beherrschten Bilder von der Evakuierung der Koalitionstruppen aus Afghanistan und von chaotischen Momenten am Flughafen von Kabul die Schlagzeilen. Wie haben Sie auf diese Nachrichten reagiert?

Ich war zunächst sehr schockiert. Als ich hörte, dass die Taliban Masar-e Scharif eingenommen hatten, konnte ich es nicht glauben. Dann fiel wenige Tage später Kabul. Ich wusste zwar, dass die Dinge schlecht standen, aber dass alles so schnell zusammenbrechen würde, schien mir unvorstellbar. Und dann kam die Angst. Angst um meine Verwandten und um die Menschen in Masar-e Scharif.

Was hören Sie über die Lage vor Ort?

Angehörige und Freunde berichten, dass das Masar-e Scharif, das ich noch kenne, sich seit der Machtübernahme völlig verändert hat: Man sieht weniger Frauen auf der Straße und viele Medienschaffende und Journalisten – wie etwa zwei meiner Brüder – verstecken sich in ihren Häusern. Polizisten und Soldaten haben ihre Kleidung und ihre Berufsausweise verbrannt, um sich zu schützen. Und die Taliban gehen mit Maschinengewehren von Tür zu Tür.

Ist das Leben Ihrer Familie in Gefahr?

Das ist schwer zu sagen. Klar ist aber, dass es für sie in Afghanistan keine Zukunft mehr gibt. All jene, die für die Medien oder die Koalition gearbeitet haben, werden verhaftet werden oder zumindest keine Arbeit mehr bekommen. Das grundsätzliche Problem ist aber, dass ihr Leben ein anderes sein wird. Denn unter der Herrschaft der Taliban, das wissen viele Afghanen aus eigener Erfahrung, lebt man immer in Angst. Man muss stets in Alarmbereitschaft sein. Man spürt ihren Atem tagein, tagaus im Nacken.

Was halten Sie angesichts dieser Entwicklungen von dem Rückzug der internationalen Streitkräfte?

Nun, die von den USA angeführte Koalition kam vor rund zwanzig Jahren ins Land. Damals hatten die Taliban nichts anderes als ein paar Motorräder. Und trotzdem hat man den Krieg jetzt verloren. Manchmal denke ich darüber nach und lache. Und manchmal denke ich darüber nach und weine. Manchmal bin ich auch wütend und kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Westen Afghanistan einfach an die Taliban zurückgegeben hat. Anders ist es nämlich kaum zu erklären, dass sie das Land innerhalb weniger Wochen einnehmen konnten. Gleichzeitig war mir und vielen anderen Afghanen schon lange klar, dass es zu einem solchen Szenario kommen könnte.

Könnten Sie das näher erläutern?

Meiner Einschätzung nach war der Vormarsch der Taliban ein viel längerer Prozess, als in den letzten Monaten berichtet wurde. Schon 2017 begannen Journalisten wie ich darüber zu berichten, dass die Taliban von Tag zu Tag stärker wurden. Ein Beispiel: Schon vor vier Jahren stieß man, wenn man in Masar-e Scharif ins Auto stieg und dann 15 Kilometer aufs Land hinaus fuhr, auf die ersten Taliban-Checkpoints und auf Dörfer, die vollständig unter ihrer Kontrolle waren. Und das, obwohl Masar-e Scharif der Hauptstützpunkt der Bundeswehr war.

Anstatt die Region zu kontrollieren, zogen sich die deutschen und amerikanischen Soldaten schon damals mehr und mehr in ihre Lager zurück – und wenn sie ihre Basis doch verlassen mussten, dann taten sie das nur in großen Konvois von dreißig oder mehr Militärfahrzeugen und einigen Hubschraubern. Bereits 2018 hatten die Truppen es also scheinbar aufgegeben, sich gegen die Übernahme der Taliban zur Wehr zu setzen. Der eigentliche Rückzug begann schon vor Jahren.

Glauben Sie, dass das eine aktive Entscheidung der Koalition war?

Aus meiner Berichterstattung weiß ich, dass die Regierung unter Präsident Ashraf Ghani und US-Vertreter schon damals begannen, bessere Beziehungen zu den Taliban aufzubauen. Welche konkrete Strategie dahintersteckte, lässt sich schwer beurteilen. Ich glaube allerdings, dass bereits zu dieser Zeit die Entscheidung reifte, das Land mehr oder weniger friedlich zu übergeben.

Sie selbst mussten nur wenig später, Ende 2019, aus dem Land fliehen, weil die Taliban Sie bedrohten ...

Ja, ich arbeitete damals in Masar-e Scharif und moderierte eine Radiosendung namens »Tahlil«, was so viel bedeutet wie »Analyse«. Eines Tages erhielt ich dann einen Anruf von einem Taliban-Kommandanten. Er hatte meine Sendung gehört – und war kein Fan meiner Berichte. Er sagte, ich müsse meine Arbeit niederlegen oder die Konsequenzen tragen.

In einem zweiten Anruf wurde ich danach aufgefordert, vor einem Taliban-Gericht zu erscheinen. Spätestens da wusste ich, wie gefährlich die Lage war, denn ein »Taliban-Gericht« hat nichts mit Gesetz und Ordnung zu tun. Es ist ein Euphemismus für ein paar Männer mit Waffen, die nur ein Urteil kennen.

Konnten Sie sich damit nicht an die Polizei in Masar-e Scharif wenden?

Sicher, das habe ich. Aber 2019 war es bereits ein offenes Geheimnis, dass die Taliban Teile der Polizei, der Armee und sogar der Bürokratie unterwandert hatten. Man wusste nicht mehr, wem man vertrauen konnte. Als ich zur Polizei ging und dort die Anrufe der Taliban abspielte, die ich mit einem Aufnahmegerät mitgeschnitten hatte, sagten die Beamten: »Ja, wir können bestätigen: Das waren Taliban.« Mehr Hilfe bekam ich nicht.

Man sagte mir, man könne nichts für mich tun. Also nahm ich meinen Reisepass, fuhr in den Iran und arrangierte von dort aus die Flucht meiner Frau und meiner Kinder. Über die Türkei kamen wir bis nach Griechenland, wo ich nun seit einem Monat einen offiziellen Flüchtlingsstatus habe.

Glauben Sie, dass es für die Zurückgebliebenen, für Ihre Familie und Freunde, noch Hoffnung gibt?

Ich denke, einige von ihnen haben tatsächlich noch Hoffnung. Zum Beispiel darauf, dass die Taliban eine Regierung bilden, an der sich auch andere politische Gruppierungen beteiligen können. Manche sind überzeugt, dass die Taliban, die wir heute sehen, andere sind als die, die wir vor zwanzig Jahren erlebt haben. Und in gewisser Weise stimmt das ja auch: Sie haben mittlerweile kluge Wortführer und Pressesprecher, sie versuchen ihre Macht langsam zu konsolidieren und zu legitimieren, statt Chaos zu verursachen.

Heißt das aber, dass das Leben unter den Taliban anders sein wird als vor zwanzig Jahren? Ich persönlich glaube, dass es nur einen Unterschied geben wird: Damals haben die Taliban ihre Gegner auf offener Straße erschossen, vor den Augen der ganzen Welt. Jetzt werden sie es in einer dunklen Seitengasse tun.