Umweltschutz | Kasachstan

„Wir können den Aralsee nicht wiederherstellen“

Die kasachische Ökologin Zauresh Alimbetova kämpft um die Rettung des einst viertgrößten Sees der Welt. Ein Gespräch
Zwei Kamele stehen in einer Steppenlandschaft und schauen in die Kamera. Dahinter liegt das rostige Wrack eines Schiffes auf dem Trockenen.

Rund 60 km von der Stadt Aralsk liegt ein Wrack auf dem Grund des ausgetrockneten Aralsees

Frau Alimbetova, fast zwanzig Jahre lang leiteten Sie das kasachische Naturreservat Barsakelmes im nördlichen Teil des Aralsees. Bis in die 1990er-Jahre lag auch die Insel Barsakelmes dort. Heute ist das Areal nicht von Wasser, sondern von einer Wüste umgeben. Der See ist zu neunzig Prozent ausgetrocknet, weil seinen Hauptzuflüssen Amudarja und Syrdarja große Wassermengen für die Bewässerung riesiger Anbauflächen für Baumwolle in Kasachstan und Usbekistan entnommen wurden. Wie gehen Sie mit diesen Veränderungen um?

Meine Generation ist am Aralsee aufgewachsen, und unsere Eltern hatten Mühe, uns zu erklären, wie es mit dem ehemals viertgrößten See der Welt so weit kommen konnte. Ich möchte nicht, dass die Älteren dafür schuldig gesprochen werden. Gleichzeitig kann mir meine Tochter heute kaum glauben, dass es hier mal einen prächtigen See gab. Für sie ist das „Meer“, wie wir den Salzsee hier nennen, eine Art Märchen, eine Wunderwelt aus vergangenen Zeiten. Ich gehöre der Generation an, die dafür kämpft, dass der Aralsee erhalten bleibt.

Wie sieht die Insel Barsakelmes heute aus?

Die ausgetrocknete Fläche des Sees erstreckt sich inzwischen über fünf Millionen Hektar. Wenn Sie durch diese neue Wüste fahren, werden Sie irgendwann eine Erhöhung, einen Hügel sehen, das ist die eigentliche Insel. Sie maß 24 Kilometer in der Länge und 13 in der Breite und war einmal ein funktionierendes Ökosystem, vollständig von Wasser umgeben. Die Uferlinie ist noch sichtbar, man erkennt auch Spuren des Wassers, aber es ist weg. Wenn ich vor Ort bin und dann zurückfahre, bitte ich die Insel immer um Verzeihung für das, was wir ihr und dem See angetan haben.

Welche Bedeutung hat die Insel für die Menschen der Region?

Es kursierten immer viele Legenden über Barsakelmes, zum Beispiel über geheimnisvolle Tiere, die dort lebten. Der Name „Barsakelmes“ kommt aus dem Kasachischen und bedeutet so viel wie: Wenn du hingehst, kommst du nicht wieder.

„Ende der 1960er-Jahre begann der See auszutrocknen. Zwanzig Jahre später war das Wasser um die Insel verschwunden"

Wie sah das Ökosystem des Naturreservats aus, bevor das Meer verschwand?

Bereits 1929 wurde auf der Insel ein Gebiet für Zieselmäuse eingerichtet, eine Art Erdhörnchen, deren Fell begehrt war. 1939 machte die kasachisch-sowjetische Verwaltung ein Naturschutzgebiet aus Barsakelmes. Da die gesamte Fellproduktion eingestellt und jegliche landwirtschaftliche Nutzung verboten wurde, konnte sich die Artenvielfalt sehr gut entwickeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Kulan wieder angesiedelt, ein asiatischer Wildesel, der in Kasachstan seit den 1930er-Jahren als ausgestorben galt und bis heute zu den gefährdeten Arten zählt.

Nach ihm wurde Barsakelmes übrigens auch manchmal die Kulanen-Insel genannt. Auch Kropfgazellen und Saigaantilopen tummelten sich dort. Sie entwickelten sich sogar so prächtig, dass ein Teil der Population in andere Regionen übersiedelt werden musste. Alle Tiere tranken das Salzwasser.

Wie machte sich die Umweltkatastrophe des Austrocknens zuerst bemerkbar?

Ende der 1960er-Jahre begann der See auszutrocknen. Zwanzig Jahre später war das Wasser um die Insel verschwunden. Die Tiere hatten nichts mehr zu trinken, und die Kulane wurden woandershin gebracht, zum Beispiel in den Altyn-Emel-Nationalpark. Die Antilopen sind nach Kaskakulan abgewandert, auf eine Nachbarinsel, wo es noch Wasserquellen gibt. In den Wintermonaten sind sie erstaunlicherweise nach Barsakelmes zurückgekehrt, weil sie dort genügend Futter finden und geschmolzenen Schnee trinken konnten.

Welche Maßnahmen wurden zum Schutz der Tiere getroffen?

Wir haben, mit Unterstützung internationaler Organisationen, darunter deutsche wie die GIZ und die Universität Bielefeld, erreicht, dass die kasachische Regierung neue Flächen in das Naturschutzgebiet aufgenommen hat. In dem Reservat darf es keinerlei Eingriffe geben, keine Forstwirtschaft, keine Fischerei, es soll möglichst in seinem urspünglichen Zustand erhalten bleiben, damit die Tiere nicht gestört werden.

2005 wurde dann beschlossen, das Areal zu erweitern, auch um Bereiche, die einst unter der Wasseroberfläche lagen und heute trocken sind. Die Fläche ist um das Zehnfache gewachsen und erstreckt sich heute über 160.000 Hektar. Das Ganze umfasst inzwischen eine Auenlandschaft, die wir „das Delta“ nennen, mit dem Zufluss Syrdarja.

„Das Mikroklima hat sich verbessert, und die Biodiversität hat zugenommen“

Dazu kommt die Kaskakulan- Insel und natürlich Barsakelmes. In diesen Gebieten besteht eine gute Trinkwasser- und Futterversorgung. Mithilfe der Weltbank konnten wir 2006 einen Staudamm fertigstellen und den nördlichen Teil des Sees, den sogenannten Kleinen Aralsee, schützen. Das Mikroklima hat sich verbessert, und die Biodiversität hat zugenommen. Es gibt wieder mehr Fische und Schwimmvögel wie Rosaflamingos, Pelikane und Schwäne, die am Syrdarja nisten.

Der Kleine Aralsee und die Seenlandschaft haben einen internationalen Schutzstatus gemäß der Ramsar- Konvention erhalten, einem Abkommen zum Erhalt von Feuchtgebieten. Somit konnten wir auch die ökonomische Situation der Bevölkerung vor Ort verbessern, die traditionell von der Fischerei lebt.

Wird wieder mehr Wasser zurückkommen?

Uns ist klar, dass wir den See nicht in seiner ursprünglichen Größe wiederherstellen können. Wir haben kaum mehr Zuflüsse, zumindest nicht auf der kasachischen Seite. Der Amudarja mündet nicht mehr in den Aralsee und der Syrdarja nur teilweise. Durch die komplette Austrocknung wurden sehr viel Salz und Staub vom einstigen Meeresgrund aufgewirbelt. Tausende Tonnen wurden vom Wind verstreut. Das hatte schlimme Auswirkungen auf die Natur und auf die Gesundheit der Menschen, Allergien, Atemwegs-, Herz- und Gefäßkrankheiten haben zugenommen.

Wie kann man den giftigen Staub in den Griff kriegen?

Damit der Boden den Staub und das Salz binden kann, wird ein Teil des versteppten Meeresgrundes, etwa ein Fünftel, eine Million Hektar, mit einheimischen Pflanzen und Baumarten wie dem Haloxylon oder der Tamariske aufgeforstet. Dazu gab es bereits Ende der 1970er-Jahre eine Testphase. Seit 2007 wurde mit einer flächendeckenden Aufforstung begonnen.

2016 wurde das Gebiet zum UNESCO-Bionaturreservat erklärt, das mittelfristige Ziel ist der Status als Weltnaturerbe. Was würde das für die Region bedeuten?

Das würde zusätzliche Investitionen und Aufmerksamkeit für den Umweltschutz bringen und dazu beitragen, die Bevölkerung weiter für einen behutsamen Umgang mit der Natur zu sensibilisieren. Auch ließen sich so Projekte über Landesgrenzen hinweg fördern, denn es geht hier ja nicht nur um das Anliegen einzelner Staaten. Beim Natur- oder Kulturschutz braucht es eine internationale Zusammenarbeit.

Hat die Umweltkatastrophe in der Region ein Umdenken mit Blick auf die Ressource Wasser bewirkt?

Wir müssen die Bevölkerung für Umweltthemen gewinnen, sie informieren und über die Vorteile aufklären. Ein Teil der Menschen hat verstanden, wie wichtig es ist, die Natur zu schützen und zu bewahren. Die anderen sind schlicht von Existenzängsten getrieben und wollen die natürlichen Ressourcen so lange wie möglich nutzen. Sie haben schon erlebt, wie der See ausgetrocknet ist, und fürchten nun, noch mehr Ressourcen zu verlieren.

„Wenn wir über Renaturierung sprechen, dann müssen wir auch über das Einkommen der Menschen nachdenken“

Es betrifft vor allem den Kleinen Aralsee und das Deltagebiet, wo sehr viel gefischt wird. Wenn wir über Renaturierung sprechen, dann müssen wir auch über das Einkommen der Menschen nachdenken. Wir brauchen Alternativen des Gelderwerbs. Wir müssen den Tourismus und Ökotourismus entwickeln und ausbauen. Die Region ist ja sehr interessant, wir haben auf dem ausgetrockneten Meeresgrund zum Beispiel alte Siedlungen aus dem 12. bis 14. Jahrhundert entdeckt. Diese Siedlungen, auch Atlantis vom Aralsee genannt, verweisen auf Zeiten, bevor es den See gab.

Das heißt, durch die Austrocknung des Sees entdecken Sie auch Ihre Kultur neu?

Ja, das kann man so sagen.

Das Interview führte Cécile Calla 
Dolmetscherin: Irina Bondas