Sachbuch | Klimawandel

Der Beginn eines neuen Zeitalters

Der Klimawandel stellt uns vor noch nie da gewesene Herausforderungen. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty ruft einen Perspektivwechsel aus und entdeckt dabei die Menschheitsgeschichte neu

Luftansicht einer rot-braunen Landschaft, aus einem Krater steigt Dampf auf.

Die vielen Gesichter der Erde: Aufnahme des Astronauten Pedro Duque während der Mission „Cervantes“ aus der ISS, 2004

Einer der größten Schocks meines Berufslebens als Umweltberichterstatter für die britische Zeitung „The Guardian“ ereilte mich vor dreißig Jahren. Eine leitende Redakteurin, deren Analysen des Weltgeschehens ich sehr schätzte, weigerte sich, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Mensch durch sein eigenes Handeln etwas so Großes wie das globale Klima beeinflussen könnte.

Sie zweifelte keine wissenschaftlichen Erkenntnisse an, etwa über den Anstieg des Meeresspiegels, extreme Temperaturen oder das Artensterben. Doch sie konnte aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen und ihrer kulturellen Prägung einfach nicht nachvollziehen, dass wir Menschen so viel Macht haben könnten. Der Konflikt spitzte sich in einer Redaktionssitzung zu. Allen Anwesenden wurde klar, dass dieses Thema geistigen Sprengstoff enthielt und dass es von fundamentaler Bedeutung sein würde.  

Das war Anfang der 1990er-Jahre. Seither mussten wir alle unsere Annahmen revidieren. Die Wissenschaft hat sich weiterentwickelt, und die Globalisierung bringt fortwährend tiefgreifende politische, wirtschaftliche und geistige Umwälzungen mit sich.

Innerhalb nur einer Generation – also eines verschwindend kurzen Zeitraums nach erdgeschichtlichen Maßstäben – wurde der uralte Glaube, dass wir das Zentrum der Welt seien und dass Geschichte menschenbezogen sei, in seinen Grundfesten erschüttert. Der Klimawandel bringt alles ins Wanken und zwingt uns, unsere Stellung in der Welt neu zu bewerten und über unsere eigene Zukunft und die aller anderen Lebewesen nachzudenken.

„Chakrabarty ist ein Chronist des Wandels, der sich in unserem Denken vollzieht“

Niemand hat sich eingehender mit den philosophischen und ethischen Fragen auseinandergesetzt, die der menschengemachte Klimawandel aufwirft, als Dipesh Chakrabarty. Der 1948 geborene indische Historiker, der als junger Mann Kalkutta verließ und über einen Aufenthalt in Australien an die University of Chicago gelangte, ist kein politischer Aktivist. Er ist ein Chronist des Wandels, der sich in unserem Denken vollzieht – und diesen Wandel beschreibt er in seinem Buch „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ auf umfassende Weise.

Chakrabarty verschweigt nicht, dass auch er – wie damals meine Kollegin – völlig überfordert damit war, die historische Bedeutung des Klimawandels zu verstehen, als er sich in den 1990er-Jahren zum ersten Mal damit befasste. „Ich erkannte, dass meine gesamte Lektüre von Globalisierungstheorien und postkolonialer Forschungsliteratur über 25 Jahre hinweg [...] mich nicht in die Lage versetzt hatte, die globale Verstrickung, in der sich die Menschheit heute befindet, zu begreifen“, sagt er.

Also fing er noch einmal ganz von vorn an. Er las Hobbes und Heidegger, die Schriften der indischen Ökologin Vandana Shiva und die Werke des französischen Anthropologen Bruno Latour. Dabei überschritt er althergebrachte intellektuelle Grenzen zwischen Natur- und Geistesgeschichte, asiatischen Kulturen und westlichen Wissenschaften, aber auch die Klüfte zwischen den politischen Traditionen Indiens, Chinas und anderer Regionen.

„Der Klimawandel mag das Werk der Reichen sein, aber er trifft zuerst die Armen“

Ich denke, dass er dabei westlich ausgebildeten Forscherinnen und Forschern etwas voraus hatte: Sein Verständnis für die Bedürfnisse der Länder des globalen Südens half ihm, die Entwicklung von den Imperien, die der europäische Kolonialismus schuf, zu unserer heutigen Welt nachzuvollziehen.

Heute leben doppelt so viele Menschen auf dem Planeten wie zur Kolonialzeit, aber sie verfügen über weniger Ressourcen. Ein Großteil der Menschheit muss sowohl gegen Armut als auch gegen die Natur ankämpfen. Der Klimawandel mag das Werk der Reichen sein, aber er trifft zuerst und am schlimmsten die Armen, und er lastet natürlich besonders auf der Jugend. 

Aber erst in dem Moment, als Chakrabarty einen Bezug zwischen der Klimawissenschaft und der Erdgeschichte herstellte, wurde seine Arbeit wirklich bahnbrechend. Das Holozän, das vor etwa 11.700 Jahren am Ende der letzten Eiszeit begann, sollte seiner Auffassung nach als Anthropozän bezeichnet werden, weil der Mensch in diesem Zeitraum erstmals einen signifikanten Einfluss auf das Klima und die Ökosysteme der Erde ausübte. Um jedoch diesen gewaltigen historischen Wandel erfassen zu können, müssen wir laut Chakrabarty begreifen, dass wir an der Schwelle zweier voneinander getrennter Zeitalter stehen, nämlich des globalen und des planetarischen.

„Die Erde wurde nicht für uns Menschen erschaffen – und sie braucht uns nicht“

Während das globale Zeitalter den Menschen in den Mittelpunkt stellt und Politik, Wirtschaft, Handel und Technologie einschließt, verläuft das planetarische auf einer anderen Zeitebene und konnte die Menschheit bislang sozusagen ignorieren. Doch der menschengemachte Klimawandel zeige uns, so schreibt Chakrabarty, dass wir jetzt selbst eine noch nie da gewesene Naturgewalt mit weltweiter Wirkungsmacht seien, die auf beiden Zeitskalen wirke.

„Wir befinden uns in einer beispiellosen Phase der Menschheitsgeschichte, in der wir zum ersten Mal bewusst eine Verbindung herstellen zwischen Ereignissen, die sich in riesigen erdgeschichtlichen Dimensionen abspielen – wie etwa Veränderungen im gesamten Klimasystem des Planeten –, und dem, was wir im Alltag tun können, als Individuen, Institutionen oder Länder“, schreibt er. Das wirft eine Vielzahl von Fragen auf.

Das philosophische Dilemma besteht darin, dass wir, obwohl wir die Erde in einem Maße verändern, wie es seit Milliarden von Jahren nicht geschehen ist, für sie nur von geringer oder gar keiner Bedeutung sind. Die Erde wurde nicht exklusiv für uns Menschen erschaffen, und sie braucht uns nicht. Es ist so ernüchternd wie schockierend zu erkennen, dass die Zukunft nicht zwingend die Menschheit enthalten muss, dass wir nicht vermisst würden und dass es anderen Lebewesen ohne uns besser gehen könnte.

„Kein Tag scheint mehr ohne neue Warnmeldungen zu vergehen“

Wie sollten wir also politisch, moralisch und ethisch reagieren, angesichts des jüngsten Berichtes des Weltklimarats, der schlimmsten Dürren in der Geschichte Amerikas oder Australiens, extremer Monsune und Hitzewellen in Indien, des Zusammenbruchs von Ökosystemen und der Aussicht auf eine eisfreie Arktis im Sommer? Kein Tag scheint mehr ohne neue Katastrophen und Warnmeldungen zu vergehen.

Wenn führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verkünden, dass wir dabei sind, die Voraussetzungen für neue Pandemien zu schaffen, die uns vernichten werden, und dass eine Million Arten noch zu Lebzeiten unserer Kinder aussterben werden, ist das beängstigend.

Wenn uns die UNO und Naturforscher wie David Attenborough sagen, dass der Planet für einen Großteil der lebenden Organismen unbewohnbar werden könnte, dann ist das verstörend. Wenn junge Forscherinnen und Forscher wie Britt Wray eine Generation der Angst, eine „Generation Dread“, heranwachsen sehen, könnte man verzweifeln.

Chakrabarty wiederum bezeichnet es als schockierend, dass der Klimawandel für das selbstgefällige und engstirnige westliche Establishment aus dem intellektuellen, literarischen und kulturellen Nichts kam. Erschreckend sei auch, wie sich liberale Institutionen und Disziplinen, die Medien, die politischen Entscheidungsträger und vor allem die Religionen vor den Kopf gestoßen fühlen, weil sie die Natur bis vor Kurzem ausschließlich als Gottes Werk ansahen.

„Die Regierungen begreifen, dass sie den Menschen ein gefährliches Wirtschaftssystem aufgezwungen haben“

Niemand hatte den Klimawandel kommen sehen, nur wenige wollten sich mit ihm befassen, und in kürzester Zeit hat er Generationen gespalten und die Frage aufgeworfen, was Weiterentwicklung und Fortschritt der Menschheit eigentlich bedeuten. Nun ist es an der Zeit, das Versäumte nachzuholen.

„Die Krise durch den Klimawandel verlangt von den Wissenschaftlern, ihre Voreingenommenheiten zu überwinden, denn sie ist eine Krise mit vielen Dimensionen“, schreibt Chakrabarty. Diese unerwartete Erschütterung des globalen Systems mag mit der westlichen Wissenschaft begonnen haben, aber sie setzt sich nun durch alle Disziplinen und Kulturen fort und erzeugt Zukunftsängste.

Jetzt, so Chakrabarty, müssen die Regierungen begreifen, dass sie den Menschen ein gefährliches Wirtschaftssystem aufgezwungen haben. Junge Menschen, ob in Lahore oder Loui-siana, müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Welt in einer permanenten Krise befindet und dass ihre Zukunft auf dem Spiel steht.

Es ist ungewiss, auf welche Weise und in welchem Zeitraum sich der Klimawandel vollziehen wird und ob die Menschheit seine Auswirkungen begrenzen kann. Doch der Kampfschauplatz hat sich von den Naturwissenschaften hin zu Ethik, Gerechtigkeit und Theologie verlagert.

Der Weg nach vorn, so Chakrabarty, besteht darin, die Unterscheidung zwischen Natur- und Menschheitsgeschichte aufzugeben und anzuerkennen, dass der Klimawandel sowohl ein globales als auch ein erdgeschichtliches Ereignis ist. Das erfordert ein neues Denken und eine neue Herangehensweise an das Leben an sich. Und das ist eine beängstigende und zugleich aufregende Perspektive. 

Aus dem Englischen von Caroline Härdter