In den Fluten
In ihrem Debütroman geht Kayo Mpoyi ihrer Familiengeschichte auf den Grund
Diese Geschichte rettet Leben, wenn man der jungen Erzählerin glauben kann. Denn als ihre kleine Schwester vom Tod bedroht wird, fragt sie ihren guten Geist, wie sie sie retten könne. Erzähle „die ganze Geschichte“, antwortet der, das könne die kleine Mai retten.
In „Mai bedeutet Wasser“ erzählt die sechsjährige Adi Mukendi aus kindlicher Perspektive davon, wie sie im Diplomatenviertel von Daressalam aufwächst. Dort lebt sie Ende der 1980er-Jahre gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Dina. Ihre jüngere Schwester Mai ist in ihrer Vorstellung noch eine Erdnuss, die die Mutter erst einmal verschlucken muss.
Während Mai sich den Tag mit Singen und Tanzen vertreibt, verdient der strenggläubige Vater als Ingenieur den Unterhalt. Wenn er abends nach Hause kommt, zieht er sich mit Wörterbüchern zurück. Seine Töchter lässt er nach den Hausaufgaben zum „Wortbüfett“ antreten, einem Spiel, bei dem Dina und Adi willkürlich ausgewählte Wörter erklären müssen. Scheitern sie, schickt er sie hungrig ins Bett.
Vier weitere Geschwister von Adi leben zu Beginn der sich bis Mitte der 1990er-Jahre erstreckenden Erzählung in Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Im Laufe des Romans werden sie vor den politischen Unruhen nach Tansania und Südafrika fliehen, bevor einige alles auf eine Karte setzen, um nach Europa zu gelangen.
„Im Roman taucht Wasser immer wieder als mächtiges und mythologisch aufgeladenes Element auf“
Die Zerstreuung der Familie über den Kontinent ist ein Anzeichen dafür, dass es das Schicksal nicht gut mit den Mukendis meint. Das hat eine lange Geschichte: Zu Beginn der belgischen Kolonialherrschaft wurde Adis schwangere Urgroßmutter Mai entführt, um die Männer der Familie zur Arbeit zu zwingen. In den Händen ihrer weißen Entführer gebar sie einen Sohn, den die Familie freikaufte. Seine Mutter aber befreite die Familie nicht, sie starb als Leibeigene der Belgier.
Seither lastet diese Schuld auf der Familie, sodass es sogar gefährlich ist, jemanden Mai zu nennen, denn „der Tod treibt seine Schulden immer ein“. Und so stellt sich schnell die Frage, ob die Krankheit von Adis kleiner Schwester, die den Namen ihrer Urgroßmutter als Zeichen und Mahnung trägt, nicht vielleicht eine schicksalhafte Folge dieser Familiengeschichte ist.
Aber „Mai bedeutet Wasser“, wie der Titel verspricht. Im Roman taucht es immer wieder als mächtiges und mythologisch aufgeladenes Element auf, das Läuterung verspricht. Etwa wenn sich junge Frauen, die ungeschützt Sex hatten, nackt in die Fluten eines Flusses stellen und die Wassergeister anrufen, damit sie sie von ihren Sünden reinigen und das Leben, das in ihnen wächst, mit sich reißen.
„Die wirklich schmutzigen Figuren in diesem Roman sind aber die Männer“
Die wirklich schmutzigen Figuren in diesem Roman sind aber die Männer. Zu ihnen gehört auch Monsieur Éléphant, der von der ersten Seite an den Mädchen nachstellt, sie bedrängt und beschmutzt. Doch sie können sich an niemanden wenden, da die Mutter mit sich selbst beschäftigt ist und der Vater alles zur Sünde macht, was nicht in sein enges Weltbild passt. Kabongo Mukendi ist der zweite Gewalttäter in diesem Roman. Im Namen Gottes prügelt er regelmäßig auf seine Töchter ein oder knallt ihre Köpfe auf Tischplatten.
Die naive Schilderung von Gewalt und Missbrauch durch Kayo Mpoyis Erzählerin lässt die Lektüre an der Oberfläche weniger grausam erscheinen. Tatsächlich wird aber erst so das Ausmaß dieser unbegreiflichen Taten sichtbar. Denn in den kindlichen Erklärungsmustern bleibt vieles ungesagt.
In dieser Sprachlosigkeit spiegelt sich die Traumatisierung der Leidtragenden. Elke Ranzinger hat dies mit Gespür für sämtliche Zwischentöne feinfühlig ins Deutsche übertragen.
Die männliche Gewalt hat in der postkolonialen afropolitischen Literatur der Gegenwart einen festen Platz. Das religiöse Konzept der Sünde spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Sündigen sind in der Regel Frauen, die durch Worte, Gesten oder Kleidung die Aufmerksamkeit von Männern auf sich ziehen.
Manchmal aber auch Männer, die nicht der Norm entsprechen. So wie Adis älterer Bruder Zo, dessen Homosexualität nur eines der vielen Geheimnisse in dieser Familiengeschichte ist.
Schmutz, Gewalt und Schandtaten sind in diesem ebenso bilderreichen wie fantasievollen Roman allgegenwärtig. Die Erzählung selbst bildet den unaufhörlichen Strom, der die sündhaften Laster der Protagonisten erst an die Oberfläche spült und dann davonträgt. Dieser Strom trägt die Geschichte auch immer wieder auf verschlungene Seitenpfade, die zu den verdrängten Traumata in der Familiengeschichte führen.
Kayo Mpoyi ist wie ihre Erzählerin in Zaire geboren und verbrachte ihre frühe Kindheit in Tansania. Mit zehn Jahren kam sie nach Schweden. Ihr erster Roman wurde dort 2020 als bestes Debüt ausgezeichnet. Er ist ihrem sechsjährigen Ich gewidmet.
Mai bedeutet Wasser. Von Kayo Mpoyi. CulturBooks, Berlin, 2021.