Popkultur | Belarus

Schweigen die Häuser?

Musik war in Belarus stets ein verbindendes Element. Doch seit 2020 müssen sich Musiker politisch positionieren: entweder für die Regierung – oder gegen sie
Eine Band aus drei Personen bestehend steht auf der Bühne, linker Nebel im Hintergrund, die Sängerin reckt ihre Hand nach oben, ihre Augen sind geschlossen

Das „Basovišča”–Festival für belarussische Rockmusik fand in den Jahren 1990 bis 2019 bei Gródek im Osten von Polen statt. Es war eine der wichtigsten Plattformen belarussischer Musik im Ausland. Im Bild der Auftritt der Band By cry im Jahr 2015.

In ,friedlichen Zeiten‘ wäre es ein Leichtes, einem ausländischen Freund gute belarussische Musik zu empfehlen. Man würde einfach Musiker nennen, die man selber mag, oder die andere mögen, oder die man laut den Medien mögen soll. Da die Zeiten aber im Moment alles andere als friedlich sind, geht es nicht mehr darum, hippe Songs, Ohrwurm-Texte, schrille Popstar-Lifestyles, oder besondere Kunstfertigkeit zu wählen, wenn man heute die Top Ten der belarussischen Musik erstellt.

Ein Großteil der Musik, die ich vor ein paar Jahren empfohlen hätte, trifft nicht mehr den „Nerv der Zeit“ – um den Journalisten und Kulturaktivisten Sergej Budkin zu zitieren, der zurzeit beim Belarussischen Kulturrat arbeitet. Das ist eine Organisation, die die Unterdrückung von Kulturschaffenden dokumentiert. Belarus ist heutzutage ein Ort des Schmerzes und wird vom Rest der Welt immer mehr isoliert – eine Gefängniszelle, in der die Insassen singen, um nicht verrückt zu werden. Werden unsere Gefängnislieder irgendeine Relevanz für die Außenwelt haben?

Belarussische Musik heute

Seit der späten Sowjet-Ära bestehen in der belarussischen Kultur zwei Parallelwelten: eine offizielle und eine alternative, die im Untergrund stattfindet. Staatlich geförderte Musik ist eine Mischung aus fadem Softpop und ‚patriotischen‘ Schlagern – entweder eine Fortsetzung des sowjetischen Kanons oder eine Billigvariante des durch russisches Ölgeld finanzierten Pops. Der Zusatz halbauthentischer Volksmusik soll den Eindruck vermitteln, dass in diesem russophonen Land die belarussische Kultur und Sprache irgendwie noch zählen.

Die Hauptmusikveranstaltung der offiziellen Kulturszene ist der „Slavic Bazaar“ – ein Festival für Popmusik und Estrada, das jährlich in Wizebsk stattfindet. Ursprünglich ein Wettbewerb für junge Talente aus den slawischen Ländern, verkörpert das Event den Musikgeschmack des Staates – zuckersüßer, stumpfer Pop von staatlich geförderten Künstlern, aufgepeppt mit russischen Superstars. Jede Ausgabe des Festivals wird von Lukaschenko selbst eröffnet und ist vor allem bei älteren Menschen beliebt, die nostalgisch auf ihre Jugend in der Sowjetzeit zurückblicken.

Die alternative Kunst- und Musikszene hingegen gedieh trotz Mangel an ­Geld und Medienaufmerksamkeit in einer Parallelwirklichkeit im Untergrund. Die alternative Kultur sickerte durch die Poren der offiziellen kulturpolitischen Landschaft und fand ein kleines, aber treues Publikum. Avantgarde, Impro, experimentelle Electronica und Rave, Weird Pop sowie alle möglichen Formen von Rock – von Punk und Post-Punk bis Metal – bestanden nebeneinander, häufig ohne miteinander in Berührung zu kommen. Nur selten kamen sie bei allumfassenden Festivals zusammen, wie etwa dem legendären „Dach“.

Die belarussischsprachige Rockmusik, die in den späten 1980er-Jahren ihren Höhepunkt hatte, spielt eine große Rolle in der zeitgenössischen belarussischen Kultur. Mit der oppositionellen Unabhängigkeitsbewegung assoziiert, wurde sie wegen ihres Protestpotenzials nie vom Staat gebilligt. Viele Jahre lang waren die Orte, an denen sich Rockmusiker und ihre Fans wirklich frei treffen konnten, am ehesten im Ausland zu finden. Der Hauptort für solche Treffen war „Basovišča“ – ein Festival für belarussische Rockmusik, das in den Jahren 1990 bis 2019 bei Gródek im Osten von Polen stattfand, wo es eine belarussische Minderheit gibt.

Viele Künstler im Untergrund fungierten als kulturelle Botschafter. Sie machten Belarus in europäischen und globalen kulturellen Szenen bekannt und brachten viele Künstler und kreative Köpfe miteinander in Kontakt. Diese Beziehungen wurden sowohl in Belarus wie auch in der EU vertieft durch die Zusammenarbeit von experimentellen Electro- und Medienkünstlern mit Festivals wie „Unsound“, „Up To Date“ und „Live Performers Meeting“, aber auch durch den Künstleraustausch über das Goethe-Institut.

„Zuletzt kam die Hoffnung auf, dass sich die belarussische Musik vom Klischee ,blinder Fleck auf der europäischen Kulturlandkarte‘ befreien könnte“

Zwischen den Welten des Untergrunds und der offiziellen Musikszene etablierte sich über die letzten dreißig Jahre ein weiterer Strom populärer Musik. Pop-, Hip-Hop- und Rock-Künstler heizten Clubs und Stadien sowohl in Belarus als auch im Ausland ein. Weder lobten sie das Regime noch waren sie staatlich gefördert, aber sie waren auch nicht auf ein enges Publikum mit ausgeprägtem ‚Nationalbewusstsein‘ ausgerichtet. Viele Künstler behaupten mit trauriger Ironie, dass sie Erfolg im Ausland brauchen – oder dort einfach wahrgenommen werden müssen –, bevor sie sich einen Namen in Belarus machen können.

Manche suchen Erfolg in Russland, um dort Teil der mächtigeren Musikindustrie zu werden und davon zu profitieren, dass die russische Sprache in den post-sowjetischen Ländern immer noch vorherrscht. Andere wiederum arbeiteten hart an einem Durchbruch im Westen. Die bekannteste Folk-Band Troitsa ging jahrzehntelang auf Tournee weltweit. Jüngere Bands wie Super Besse, Mustelide, Molchat Doma und viele andere spielten auf führenden Festivals, bevor sie entdeckt wurden und Verträge mit Labels und Agenturen abschließen konnten.

Während der Herrschaft von Alexander Lukaschenko hat es verschiedene Phasen gegeben, in  denen die Schrauben abwechselnd festgezogen und dann wieder gelockert wurden. Künstlern auf ,schwarzen Listen‘ war es erst verboten, Konzerte zu geben, dann durften sie in Stadien auftreten – es gab einfach keine Logik. Die relative kulturelle Liberalisierung sowie die zunehmende Offenheit von Belarus zwischen 2014 und 2020 ließen Künstler und Publikum hoffen, dass sich einige kulturelle Strömungen freier entwickeln könnten.

Zuletzt kamen sogar Hoffnungen auf, dass sich die belarussische Musik von Medienklischees wie „die letzte Diktatur“ oder „blinder Fleck auf der europäischen Kulturlandkarte“ befreien könnte – dank der visafreien Einreise nach Belarus seit 2017, dem zunehmenden Touristenverkehr vor der Corona-Pandemie sowie wachsender Aufmerksamkeit von ausländischen Medien und unterstützt durch harte Arbeit von Promotern und Musikern.

Diese Illusionen wurden im Sommer 2020 zerschlagen nach den Verhaftungen von alternativen Präsidentschaftskandidaten und Oppositionsführern, gefolgt von manipulierten Wahlen und Polizeigewalt. Den Musikern war es nicht mehr möglich, sich von der Politik zu distanzieren, „reine Kunst“ zu schaffen und lediglich die Massen unterhalten zu wollen. Einige Künstler, wie zum Beispiel die Post-Punk-Band Molchat Doma (der Name bedeutet auf Russisch „die Häuser schweigen“), sagen, dass sie zwar nicht vorhaben, offensichtlich politische Songs zu schreiben, sich aber auch nicht vollkommen von Politik freimachen können. 

Die gestohlenen Stimmen zurück fordern

2020 wurde für viele Belarussen – einschließlich Künstlern und Musikern – zur Stunde der Wahrheit. Einige Künstler bekannten sich sofort zu einer bestimmten politischen Haltung und ,wählten eine Seite‘. Andere sahen sich dazu erst veranlasst, als ihre Fans in sozialen Medien verlangten, dass sie sich zu den aktuellen Geschehnissen äußerten oder ihre bevorstehenden Auftritte bei staatlich geförderten Veranstaltungen absagten.

Max Korzh, der seine Laufbahn in der belarussischsprachigen Rap-Band LunKlan begann und heute als beliebtester belarussischer Rapkünstler in allen post-sowjetischen Ländern bekannt ist, wurde von seinen Anhängern förmlich gezwungen, zu reagieren. Sein uneindeutiger Post machte jedoch alles nur noch schlimmer, sodass er nicht nur den Post, sondern auch seine Einstellung ändern musste.

Er besuchte das Freiwilligenlager in der Nähe der Haftanstalt Okrestino und veröffentlichte später ein Musikvideo, in dem Aufnahmen von den Protesten zu sehen waren. Ein weiterer Rap-Star, Oleg LSP, war direkter in seiner Unterstützung der Demonstrierenden sowie seiner Kritik an der Staatsgewalt. In einem späteren Interview meinte er jedoch etwas ausweichend, die Politik könne man nicht verstehen, weil sie zu komplex sei, und er als Musiker könne die Situation sowieso kaum beeinflussen.

Viele Künstler wussten über die politischen Entwicklungen allerdings sehr wohl Bescheid und schlossen sich der Protestbewegung bewusst an. Die beliebtesten Protesthymnen waren zwar Klassiker, wie zum Beispiel „Peremen“  der spätsowjetischen Band Kino oder lokale Versionen von Jacek Kaczmarskis „Mury“ (sowohl in belarussischer als auch in russischer Fassung). Einige der ikonischen Protestlieder jedoch wurden sprichwörtlich erst am Vorabend der Sommerproteste geschaffen – „My nie narodiec“ (Wir sind kein gemeines Volk) von Tor Band, „Pravily“ (Regeln) von Nizkiz  oder „Baju Baj“ von Daj Darohu.

„In der belarussischen Kultur ist es nicht üblich, dass einfache Menschen singen. Das ist professionellen Sängern, Laiengruppen und Straßenmusikanten vorbehalten – oder Betrunkenen“

Die akademische Musikszene in Belarus bleibt einem konservativen Kanon klassischer europäischer und einer Handvoll einheimischer Komponisten größtenteils treu und vermeidet musikalische Innovationen. Im Sommer 2020 jedoch gehörten klassische Musiker zu den ersten, die auf die dramatischen Ereignisse reagierten und versuchten, den Volksgeist zu stärken, indem sie neue Musikstücke komponierten, Chorauftritte organisierten und zeitgenössischen Tanz vor der Musikakademie, der Oper und der Philharmonie präsentierten.

Diese Community klassisch ausgebildeter Musiker, Komponisten und Dirigenten rief ein einzigartiges Phänomen ins Leben: Volny Chor, den Freien Chor. Seine Mitglieder blieben anonym und tauchten wie aus heiterem Himmel auf, um Volkslieder oder religiöse und patriotische Hymnen in Einkaufszentren, in der Oper oder in der Metro zu singen. Nachdem sie diese alltäglichen öffentlichen Räume auf diese Weise ,geheiligt‘ hatten, verschwanden sie wieder von der Bildfläche.

Der Volny Chor ist ein so weit verzweigtes und allgegenwärtiges Gebilde, das seine Wurzel so weit und breit schlug, dass mittlerweile keiner weiß, wie viele Chöre tatsächlich existierten. Viele Mitglieder mussten das Land verlassen, als die Behörden damit begannen, Sänger und Dirigenten zu verfolgen. Der Chor tritt nun im Ausland auf, doch er hat seine Wurzeln in vielen belarussischen Stadtvierteln (siehe zum Beispiel die Vorführung von Sergio Ortega Alvarados Song aus dem Minsk-Vorort Baraulany oder von der Haupttruppe).

In der mit ‚Zwangsjacke‘ gefesselten belarussischen Kultur ist es nicht üblich, dass einfache Menschen singen. Das ist professionellen Sängern, Laiengruppen und Straßenmusikanten vorbehalten – oder Betrunkenen. Die Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben gilt als unerhört und unanständig. Der Volny Chor dagegen hat viele Stadtbewohner zum Singen inspiriert – möglicherweise zum ersten Mal seit ihrer Zeit im Schulchor.

Diese Emanzipierung der Stimmen spiegelte den Zeitgeist wider. Wie im Deutschen gibt es auch im Belarussischen und im Russischen (hołas, golos) nur ein Wort für die menschliche Stimme und für die Stimme, die man bei einer Wahl abgibt. Die Menschen gewannen also buchstäblich ihre gestohlenen Stimmen zurück, befreiten sich aus der erdrückenden Stille und forderten die Wahrheit.

Von großen Bühnen in die Hinterhöfe

Als Paveł Latuška, Direktor des Nationalen Akademischen Janka-Kupala-Theaters, im August 2020 entlassen wurde, kündigten die meisten Mitglieder des Theaters ebenfalls. Das wichtigste Theater in Belarus stand damit – kurz vor seinem 100. Geburtstag – vor dem Aus. Die Schauspieler arbeiteten jedoch unter dem Namen Volnyja Kupałaŭcy weiter. Sie traten bei selbstorganisierten Nachbarschaftsveranstaltungen auf und übertrugen ihre Stücke auf YouTube. Sie schufen auch eine Reihe von kurzen Videos, in denen klassische belarussische Lyrik durch Drama und filmische Tongestaltung neu interpretiert wurde.

Einige renommierte Opernsänger, die vom Staat hoch geschätzt werden, haben die Proteste von Anfang an unterstützt. Der Starbariton Ilja Silchukoŭ etwa wurde aufgrund seiner politischen Ansichten gefeuert. Die Opernsolistin Margarita Levchuk wurde zu einer der wichtigsten Stimmen der Protestkultur und ermunterte die Menschen in dunkelsten Zeiten. Als vielseitige Sängerin und talentierte Komikerin sang sie sowohl erheiternde als auch beißend satirische Lieder.

Zusammen mit Andrej Pavuk postet sie regelmäßig YouTube-Parodien der offiziellen Politik, wie zum Beispiel lächerlicher Fernsehpropagandisten oder gedankenlos grausamer Sicherheitskräfte. Um eine satirische Wirkung zu erzielen, benutzt Margarita – auch Margo genannt - Trasianka’, eine Mischung aus Belarussisch und Russisch. Sie wird mit Leuten assoziiert, die zwischen zwei Identitäten gefangen sind. Da sie sich für ihre belarussischen Wurzeln schämen, versuchen sie sich als russischsprechende Großstadteliten zu tarnen.

„Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich mich an die Darbietung von ,Angiel, zołotyje głaza‘ in einem Hinterhof 2020 erinnere – eine Insel des Lichts im herbstlichen Dunkel“

Trasianka wird sehr gerne in der Musik und in der Literatur eingesetzt – auch um die Art zu parodieren, wie Lukaschenko redet. Zu den Meistern dieser Kunst gehört RSP (Razbitaje Serce Pacana/Das gebrochene Herz eines Kerls), eine Gruppe virtuoser Instrumentalisten. In unwiderstehlichen Texten voller betrunkener Romantik singen sie Geschichten über ganz gewöhnliche Jungs und Mädels aus der Arbeiterschicht. Ihre Musik ist eine Melange aus Pop, Rock, Funk und sogar Jazz, die jedes Publikum garantiert zum Tanzen bringt.

Sveta Ben  von der Kabarettgruppe Sieriebrianaja swad’ba (Silberhochzeit) hat ebenfalls viele humorvolle Songs. Wenn sie auftritt, singt sie für Kinder, Eltern und Großeltern gleichzeitig – und auch für die Kinder und Großeltern in uns allen. Wenn Sveta und RSP jedoch zusammenspielen, nehmen sie einen mit auf eine tiefgehende musikalische Reise.

Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich mich an ihre gemeinsame Darbietung von „Angiel, zołotyje głaza” (Engel mit goldenen Augen) in einem Hinterhof 2020 erinnere – eine Insel des Lichts im herbstlichen Dunkel. Getragen von den sich hochschaukelnden Synthesizertönen, dem gleitenden Bass und einer krassen Schlagzeugpassage, die zwischen den vierstöckigen Häusern nachhallte, riss Svetas zerbrechliche und doch kräftige Stimme all unsere Seelen in Stücke, um sie dann wieder zu verschmelzen und zu heilen.

Musik der Solidarität

Einige hundert Protestlieder und Musikvideos sind seit August 2020 kreiert worden. Hunderte Musiker waren zusammen mit ihrem Publikum bei den Demonstrationen, bei selbstveranstalteten Konzerten, in Polizeiwagen und in Gefängnissen. Ihre Musik trug enorm dazu bei, die Menschen zu solidarisieren, zu inspirieren und zu heilen. Die Auswahl der viel gesungenen und gehörten Lieder lässt vermuten, dass die Situation eine andere Art von Musik forderte – weniger abstrakt, stärker verbindend.

Viele musikalischen Erfahrungen aus der Zeit der Proteste können gar nicht auf Video oder mp3 erfasst werden – dafür sie sind einfach zu physisch. Du bist nach einem Protestmarsch von zehn Kilometern erschöpft, hörst aber auf einmal Sambatrommeln – und vergisst sofort deine schmerzenden Beine und deinen Hals, der vor lauter Schreien ganz rau ist. Deine Kolonne zieht sich zurück, nachdem die Sicherheitskräfte ein paar Blendgranaten gezündet und die Brücke blockiert haben – und Mädchen singen einen Song von Brutto.

Oder du singst als Teil eines zufällig versammelten Chores in irgendjemandes Hinterhof – und dein Körper füllt sich mit einem wirren Cocktail aus Traurigkeit, Angst und Wut, aber auch aus Sorge, Liebe und Bewunderung für die Menschen, die du triffst.

Die Stimmen und Geräusche von Tausenden von Menschen waren eine Quelle der Energie und Hoffnung während der Protestmärsche. Und die selbstorganisierten Konzerte in den Hinterhöfen gehörten zu meinen schönsten und ergreifendsten Erlebnissen im Jahr 2020. Sie begannen im August und waren ganz anders als die üblichen Konzerte und Festivals an ‚richtigen‘ Veranstaltungsorten. Das Publikum war viel heterogener. In diesem Fall kamen die Musiker, Schauspieler und Lyriker zum Publikum und nicht umgekehrt, wie es sonst der Fall ist.

An diesen Abenden wurden die in der dramatischen Situation neu entstandene Solidarität und Freiheit gefeiert. Man schlenderte von einem Hofkonzert zum nächsten, als würde man verschiedene Bühnen bei einem Freiluft-Festival in Stadtgröße erkunden, wobei man hier nicht über ein Feld oder durch einen Wald spazierte, sondern durch einen Asphaltdschungel mit seinem eigenen speziellen Raubtier-Geschöpf.

Anfangs sahen die Sicherheitskräfte diese Versammlungen nicht als ernste Gefahr an, also hatten wir zwischen Mitte August und Anfang November ein paar Monate außergewöhnlicher Freiheit in diesen freundlichen und kreativen Räumen.

„Die selbstorganisierten Konzerte in den Hinterhöfen gehörten zu meinen schönsten und ergreifendsten Erlebnissen im Jahr 2020“

Einige der Höfe und ihre Veranstaltungen wurden so populär, dass Leute aus anderen Vierteln extra dorthin reisten, um die Konzerte zu besuchen. Ein Hof inspirierte den nächsten und es entstand ein Wettbewerb um die interessantesten Musiker. Die Nachfrage nach einheimischer Musik war so groß, dass man versuchte, irgendwie dafür zu sorgen, dass alle Stadtviertel – nicht nur die beliebtesten – dieselben Chancen hatten, jeden Künstler einzuladen.

In den Jahren zuvor hatten viele interessante Künstler Probleme damit, gehört zu werden – nun fanden sie bei den Hofkonzerten ein Publikum. Künstler, die vorher nur einem Nischenpublikum bekannt waren, wurden populärer. Eine ganze Reihe von jüngeren Pop- und Rock-Musikern schafften dank dieser Veranstaltungen den Durchbruch, und auch viele ältere Rocker traten bei den Hofkonzerten auf, wie zum Beispiel Lavon Volski, Pit Paŭłaŭ (Pawlaw), Źmicier ‘Todar’ Vaiciuškevič, Aleh Khamenka, Pomidor/Off  und J-Mors. Die ‚klassischen‘ belarussischsprachigen Rockhymnen – wie „Try Čarapachi“ und „Pavietrany Šar“ – gehörten zu denen, die überall und von mehreren Generationen gesungen wurden.

Der Auftritt von Dzivasil Trio auf dem Płošča Pieramien („Platz des Wandels”) war eine echte Entdeckung für mich. Ihre Folk-inspirierte Electronica, verträumter Gitarrensound und der schamanische Gesang von Una würden in einem großen Festival genauso gut passen wie bei einem kleinen Chill-Out im Wald – aber an diesem windgepeitschten Ort inmitten der Wohnblocks und kantigen Betonstrukturen gewann ihre Musik einen besonders warmen und besänftigenden Klang.

Ich beziehe mich in meiner Arbeit häufig auf Volksmusik, und tatsächlich ist das eine reiche Inspirationsquelle für belarussische Musiker, die sie entweder voll authentisch wiedergeben wollen oder aber mit Electro (Shuma), Jazz oder Metal kombinieren. Koob Dele ist ein Soloprojekt der Dee Tree -Vokalistin, die genauso in Gospel zu Hause ist wie in Soul, Jazz und Folk. Ihr Song „Nie čapai“ (Nicht berühren) ist denen gewidmet, die während der Proteste gestorben sind, und geht vom Klagegesang zum Verfluchen der Mörder über.

Das beliebteste Volkslied, das überall gesungen wurde – von öffentlichen Plätzen bis zu Gefängniszellen – war „Kupalinka“. Als Uładź Lankievič, Lyriker und Frontmann der Art-Rock-Band Tonqixod, vor Gericht gefragt wurde, warum er dieses Lied sang, antwortete er, dass es ihm half, seine Angst zu überwinden. Die Dichterin und Übersetzerin Hanna Komar meinte, dass dieser Song einen ,magischen Kreis‘ herstelle, der Schutz vor den Sicherheitskräften biete.

Valeryja Valadzko, Sängerin bei den Bands Harotnica Mix und Kriwi, die Jugendlichen beibrachte, wie man „Kupalinka“ singt, wurde gefeuert, nachdem ihre politischen Ansichten denunziert wurden. Es handelt sich in Wirklichkeit aber nicht um ein anonymes Volkslied, sondern wurde von dem Dichter Michaś Čarot und dem Komponisten Uladzimir Teraŭski geschrieben. Beide wurden in den 1930er-Jahren hingerichtet, als Stalin in massivem Umfang belarussische Intellektuelle ermorden ließ.

Jagd auf die Musiker

Die Staatsgewalt hat ein Interesse daran, dass die Menschen verunsichert, feindselig, paranoid und passiv bleiben. Und der Staat hat sehr wohl verstanden, welch solidarisierende Wirkung diese Musikveranstaltungen haben können und welche Gefahr dieser Widerstand der Künstler – oder auch nur der Umstand, dass Leute in ihren Hinterhöfen Tee trinken und reden – für den Autoritarismus darstellen kann.

Beim allerersten Konzert in unserem Hof fühlten wir uns recht sicher. Lear, eine junge Sängerin mit einer starken Stimme und Autorin berührender Texte, wartete nach ihrem Konzert auf ein Taxi, ohne sich verstecken zu müssen. Aber mit jeder weiteren Veranstaltung wurde die Lage gefährlicher. Man einigte sich vor den Konzerten, welcher der Nachbarn im Falle einer Razzia welchen Musiker verstecken und wer die Instrumente nehmen würde.

Volha Padhajskaja, Komponistin und Instrumentalistin des avantgardistischen Five-Storey Ensembles, berichtete, dass die Hofkonzerte zu einer völlig neuen Herausforderung für die Künstler wurden: Neben den üblichen Sorgen darüber, wie der Auftritt wohl verlaufen würde, waren sich die Musiker nie sicher, ob sie an dem Abend nach Hause zurückkehren würden.

Dutzende Musiker, Chor- und Orchester-Dirigenten, Schauspieler und Kulturaktivisten wurden während oder nach den Konzerten oder bei Proben festgenommen und bis zu zwanzig Tage lang inhaftiert. Zu den schwerwiegenden Folgen gehörten horrende Bußgelder, der Verlust von beschlagnahmtem Equipment, Prügel sowie die Gefahr, sich in überfüllten Gefängniszellen ohne jegliche medizinische Versorgung mit COVID zu infizieren.

In manchen Fällen wurden Musiker sogar strafrechtlich für die ,Koordination‘ von Protesten verfolgt. Einige wurden mehrmals verhaftet und viele mussten emigrieren – und entkamen häufig erst kurz vor der Festnahme.

„Der Schlagzeuger Alexej Sanchuk wurde im Mai 2021 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt – weil er Unordnung gestiftet und den Menschen das Händeklatschen beigebracht habe“

Mangels ‚sichtbarer‘ Anführer – den Leuten, die die Protestmärsche tatsächlich anführten – verhafteten die Sicherheitskräfte Musiker, die während der Demonstrationen häufig in den ersten Reihen marschierten. Ein Clip, in dem die Mitglieder der Band Irdorath Dudelsack spielen und dabei die Demonstrationshymne singen, flößte den Menschen Mut und Freude ein.

Diese Fantasy-Folk-Band ist in ganz Europa, aber vor allem in Deutschland sehr wohl bekannt, wo sie früher auf Festivals wie dem Wave Gothic Treffen spielte. Im August 2020 wurden die Bandmitglieder sowie einige Personen aus dem Umfeld der Band gewaltsam festgenommen und der „Organisation von Aktionen, die eine schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung darstellen“ angeklagt. Sie sind nach wie vor in Haft.

Alexej Sanchuk, einer der Schlagzeuger, die als Teil des Musikkollektivs Platform_by (Gehen Sie bitte auseinander!) bei den Protesten mitspielte, verbrachte sechs Monate in Untersuchungshaft, bevor er im Mai 2021 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde – weil er Unordnung gestiftet und den Menschen das Händeklatschen beigebracht habe. Jury Stylski, Frontmann der Punk-Band Daj Darohu!, leitete eine Kolonne in seiner Heimatstadt Brest – zu seiner eigenen großen Überraschung. Er wurde zweimal verhaftet und musste Belarus verlassen, als das Video zu „Baju Baj“ aufgrund seines „extremistischen Inhalts“ verboten wurde. Das sind nur einige Beispiele politischer Repressionen gegenüber Musikern.

Kann man nach den Ereignissen in Okrestino noch feiern?

Obwohl man viele Amateuraufzeichnungen von Konzerten auf YouTube findet, sind bei Spotify die ‚offiziellen‘ Songs unzugänglich. Der übliche künstlerische Prozess wurde unterbrochen – und zwar nicht nur durch die Pandemie, wie es in vielen anderen Ländern der Fall war. Für die Musiker, die an den Protesten beteiligt waren, wurde es jetzt viel schwieriger, zu proben und neue Musik aufzuzeichnen, geschweige denn aufzutreten, selbst wenn sie sich derzeit in Sicherheit befinden.

Das bloße Überleben in Belarus erfordert nun sehr viel Energie. Viele von denen, die im Land geblieben sind, sind deprimiert und haben den Mut verloren, künstlerisch tätig zu sein. Pavel Arakelyan, einer der begabtesten Jazz-Instrumentalisten, der einst viele Konzerte gab, verkauft nun seine Musikinstrumente, weil er das Gefühl hat, nicht mehr wie früher Musik machen zu können. Nizkiz-Frontmann Alaksandr Iljin gab zu, dass er nach dem August 2020 seine Gitarre einige Monate lang nicht mal anfassen konnte.

Ich kann ihre Gefühle gut verstehen. Ich selbst habe meine letzte Aufnahme während einer der ersten, brutalsten Augustnächte gemacht – den Acid Noise-Remix einer Rede von Lukaschenkos Pressesprecherin Natalia Eismant, in der sie die „Variante belarussischer Diktatur“ mit Sarkasmus lobt und darüber fantasiert, dass die Nachfrage nach Diktatoren weltweit sehr bald zunehmen wird.

Als ich die verschiedenen Töne zusammenbastelte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass diese Frau, zusammen mit ihren Freunden aus der Sport-, Staatsmedien- und Kulturwelt, die Protestierenden persönlich verfolgen würde (mit Unterstützung der OMON-Spezialeinheiten, versteht sich). Eine dieser nächtlichen Verfolgungen auf dem Płošča Pieramien („Platz des Wandels”) führte zum Tod von Raman Bandarenka, einem 31-jährigen Aktivisten und Maler. Nachdem der Staat zuerst einen Gedenkort für ihn zerstört hatte,  wurde eine Karte der aufständischsten Stadtbezirke erstellt, um dort regelmäßige Patrouillen einzusetzen, die jegliche Veranstaltungen verhinderten.

Viele überlegen nun, ob es nach der Polizeigewalt und den Folterungen im Okrestina-Gefängnis überhaupt noch möglich ist, ‚reine Kunst‘ zu schaffen und das Leben wie gewohnt zu genießen. Für mich sind derzeit Techno und schrankenlose experimentelle Musik allgemein keine angemessenen Musikformen – sie sind einfach nicht in der Lage, die ganze Wut und Trauer zu packen und zu verarbeiten.

Ich kann meine Zuhörer nicht bezaubern und auf einen Sci-Fi-Elektrotrip schicken, wenn ich die Musik eigentlich nur in eine Waffe umwandeln will. Der Hass wird uns aber nirgendwohin führen. Ich kann weder sagen, wann ich wieder Musik machen kann, noch welche Art Musik das dann sein wird. Seit August 2020 zeichne ich die Klänge der Proteste auf. Im Moment gibt es nicht viel aufzuzeichnen – ‚die Häuser schweigen‘ wieder, und die Stille wiegt schwer.

„Wir haben Hunderte von talentierten Elektro-Musikern, DJs und leidenschaftlich engagierten Promotern, die es verdienen, auch ohne Verweis auf ihre düsteren Arbeitsbedingungen anerkannt zu werden“

Das Calvert Journal schrieb im Jahr 2019 über die belarussische Elektro-Szene und fragte mich, ob Minsk die nächste Clubbing-Hauptstadt werden könnte – vergleichbar mit Moskau oder Berlin. Meine (nicht veröffentlichte) Antwort lautete, dass ich nicht möchte, dass unsere Szene nur nach einer politischen Katastrophe für Ausländer attraktiv wird, wie es bei der ukrainischen Szene nach 2014 der Fall war. Wir haben Hunderte von talentierten Elektro-Musikern, DJs und leidenschaftlich engagierten Promotern, die es verdienen, auch ohne Verweis auf ihre düsteren Arbeitsbedingungen anerkannt zu werden.

Während der belarussischsprachige Rock die vorherrschende Kultur und Ideologie offenkundig herausforderte, war die Elektro-Szene heimlicher und subversiver. Es gibt in Belarus schon seit 1992 eine Rave-Kultur, doch sie trat erst im letzten Jahrzehnt aus dem Untergrund heraus und wurde „trendy“. Die Szene ist so reich und vielfältig, dass es schwierig ist, bestimmte Namen zu nennen. (Radio Plato ist die beste Quelle, wenn man sich mit den belarussischen Subkulturen vertraut machen möchte – da gibt es DJ-Mixes und Podcasts mit Musikern, Künstlern und Kuratoren.).

So sehr ich jedoch unsere Elektro-Szene seit den späten 1990er-Jahren geliebt, erforscht, gefördert und befürwortet habe, bin ich derzeit ‚sozial distanziert‘. Die opportunistische und größtenteils apolitische Einstellung der Szene ist enttäuschend, und dementsprechend fielen ihre Reaktion auf die Pandemie und die politische Krise aus. Die ersten Anzeichen, dass etwas schieflief, waren zu sehen, als es üblich wurde, dass Rave-Partys in mehrstöckigen Clubs durch Alkohol- und Tabakfirmen gesponsert wurden.

Sie fanden oft an Orten statt, die einer Bank gehörten (zu 99,98 Prozent im Besitz von Gazprom), und lockten Tausende von jungen Leuten an, die den Rausch von „Corpo-Rave” entdeckten. Mit den selbstveranstalteten Raves der späten 1990er- und früher 2000er-Jahre hatten sie wenig zu tun – nicht, was die Qualität von Musik, Mode, Sounds, visuellen Effekten oder Lichtern betraf, wohl aber was deren Ethos anbelangte.

Abgesehen von einer dreimonatigen Pause während der ersten Pandemiewelle und ein paar Wochen nach den Präsidentschaftswahlen ging das Clubleben so weiter wie sonst, mit Festivals auf mehreren Dancefloors wie dem „375 Festival“ und mit noch mehr Sponsoren als je zuvor.

Im Oktober 2021 fanden zwei Boiler Room-Sessions in Minsk und Homel statt. Ich wurde als Moderator für eine dieser Veranstaltungen eingeladen, musste aber absagen. Als erster belarussischer Musiker, der bei einem dieser Events gespielt hatte, und als jemand, der genau weiß, wie lange die Szene auf eine Boiler Room-Session vor Ort gewartet hatte, hätte ich mich natürlich auf die DJs, Promoter und Unmengen von Besuchern gefreut.

Doch angesichts der Tatsache, dass die Krankenhäuser und Gefängnisse überfüllt waren, die Impfquote bei 20 Prozent lag und die Leute weiterhin feierten, als ob alles in Ordnung gewesen wäre, war mir die Teilnahme unmöglich. Es stimmt zwar, dass man den gestressten Bürgern nicht auch noch ihre letzte Freude nehmen sollte, aber ein derartiger Eskapismus erweckt den falschen Eindruck, dass das Leben immer noch normal sei.

Obwohl die Szene insgesamt nicht gut genug auf die Krise reagiert hat, unterstützten aber doch viele ihrer Mitglieder die Proteste auf unterschiedliche Weise. So gab etwa in den ersten Protestwochen Elena Sizova, eine der besten belarussischen DJanes, in Zusammenarbeit mit dem polnischen Radio Kapitał eine Musikkompilation heraus, deren Einnahmen zur Unterstützung der Demonstrationen bestimmt waren.

Und es gab mutige Initiativen jenseits der Clubwelten. ‚Rave, nicht Dažynki‘ war eine Reihe von ‚Bluetooth‘-Tanzdemonstrationen im August 2020. Eine dieser Demos tanzte am KGB-Hauptquartier vorbei. Die Sicherheitsbeamten beäugten diese kunterbunte Masse von LGBTQ+-Aktivisten, Müttern mit Kinderwagen und verschiedensten Menschen, rührten sie aber zu dem Zeitpunkt noch nicht an.

Papa Bo alias Alexander Bogdanov, ein renommierter Konzert-Promoter und Leiter des Korpus Kulturzentrums, nahm sein mobiles DJ-Deck mit zu den Straßendemos und legte für die Protestierenden auf. Abends spielte er dann auf Hofparties. Im August 2021 wurde er verhaftet und sitzt jetzt mit seinem Kollegen Maksim Kruk im Gefängnis.

Sprache und Identität

Wenn man das Ausmaß der Unterdrückungen und der staatlichen Gewalt genauer betrachtet, ist es kein Wunder, dass mindestens 100.000 Belarussen, darunter viele Musiker und Künstler, das Land seit Sommer 2020 verlassen haben. Die meisten der emigrierten Musiker leben derzeit in Polen, der Ukraine oder Litauen.

Emigration ist für die Belarussen nichts Neues. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sind viele Menschen nach Nord- oder Südamerika ausgewandert, um Geld für ihre Familien zu verdienen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es erneut eine Auswanderungswelle – und die USA und Kanada wurden zur neuen Heimat für viele Belarussen. Die belarussische Rada BNR ist die älteste Exilregierung überhaupt. Sie existiert seit 1919 und erhält die politischen und kulturellen Traditionen aufrecht, bis ein demokratisches Belarus entstehen wird. Sie wird derzeit von Ivonka Surviłła geleitet, deren Tochter, die Musikwissenschaftlerin Maria Paula Surviłła, ein Buch über die Rolle der belarussischen Rockmusik in der Bildung einer nationalen Identität veröffentlichte („Of Mermaids and Rock Singers”).

Ich muss in diesem Zusammenhang auf die Sprache eingehen, da diese die Stratifizierung der belarussischen Kultur, Politik und Musikgemeinschaften erklärt. Die anhaltende politische Krise läuft auf eine ganz simple Fragestellung hinaus: Wird Belarus ein unabhängiges und neutrales Land mit eigener Kultur werden, oder wird es weiterhin ein russischer Marionettenstaat bleiben, in dem alle Überbleibsel der belarussischen Kultur langsam ausradiert werden?

Zunächst führten die Polonisierung des einheimischen Adels und die Erweiterung der katholischen Kirche dazu, dass die belarussische Sprache als Bauernsprache wahrgenommen wurde. Danach folgten fast 250 Jahre der Russifizierung aller sozialen Schichten durch die orthodoxe Kirche sowie erst durch die zaristische und später die sowjetische Verwaltung, Bildung und Kultur.

Da es keine umfassende Hochschulbildung in belarussischer Sprache gibt, muss man die russische Sprache benutzen, um zu studieren, eine Stelle zu bekommen und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden. Die russische Sprache herrscht in Medien und Kultur vor und wird von den meisten Belarussen gesprochen – auch wenn sie bei der Volkszählung angeben, dass Belarussisch ihre Muttersprache ist.­­­

„Die belarussische Sprache gewinnt unter den ‚kulturellen Eliten‘ etwas von ihrem verlorenen Status zurück, ist aber immer noch ein gefährlicher Marker“

Belarussisch war schon immer die Sprache der Unabhängigkeitsbewegung, aber im Jahr 2020 schlossen sich auch Hunderttausende russischsprachige Belarussen den Protesten an. Die meisten von ihnen hatten sich davor nie politisch engagiert. Folglich sind die Proteste nun zweisprachig, wobei Russisch vorherrscht. Die unabhängigen Präsidentschaftskandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020 waren ebenfalls russischsprachig und wollten sich von der ‚älteren Opposition‘ distanzieren.

Zunächst sträubten sich die neuen Politiker dagegen, die nationalen Symbole zu benutzen – die rot-weiße historische Flagge sowie das ‚Pahonia‘-Wappen – da sie befürchteten, die Massen würden solche ‚nationalistischen‘ Symbole nicht mögen. Sie fühlten sich nicht besonders sicher, wenn sie die belarussische Sprache benutzten, und wollten die entscheidende Rolle, die Russland bei der Unterstützung des Regimes spielte, nicht öffentlich kritisieren.

Die Protestierenden übernahmen aber die weiß-rot-weiße Flagge. Das Interesse an der belarussischen Sprache und Kultur wuchs. Diese gewinnt nun unter jüngeren Leuten und den ‚kulturellen Eliten‘ etwas von ihrem verlorenen Status zurück, ist aber immer noch ein gefährlicher Marker. Wenn sie festgenommen und inhaftiert werden, werden belarussisch-sprachige Bürger wortwörtlich mit Farbe gebrandmarkt und deutlich härter behandelt. Es verlangt einiges an Mut, um die belarussische Sprache für die eigene kreative Leistung zu wählen.

Es mag eine etwas kontroverse Meinung sein, aber ich glaube, dass jene Künstler, die über die ‚russische Schiene‘ populär geworden sind, oftmals die russischsprachige Kultur verbreiten und bereichern. Sie stammen zwar aus Belarus und lieben das Land, und viele bleiben trotz der Gefahr hier. Doch obwohl sie in ihrer Kunst Bezug auf unsere Wirklichkeit nehmen, ist es oft so, dass sie sich der sowjetische Ästhetik bedienen und daraus Kapital schlagen – eine Ästhetik, die Belarus so lange trübte und die der Westen aus unerklärlichen Gründen reizvoll findet.

Die russischen Medien beanspruchen belarussische Künstler wie zum Beispiel Petlya Pristrastiya, Molchat Doma, Dlina Volny, IOWA und LSP häufig für sich – für das russische Vaterland. Zahlreiche YouTube-Kommentare erwähnen, dass die düsteren Texte, das ferne Trommeln und der Gesang der Post-Punk- und Soviet-Wave-Bands „unsere Ästhetik” widerspiegeln, das heißt die deprimierende Wirklichkeit der post-sowjetischen Ära.

Wenn man diese russischsprachige Musik oder auch die Interviews mit den Musikern hört, kann man durchaus etwas über Belarus lernen. Aber vielleicht entdeckt man mehr Leidenschaft, Wahrheit, Inspiration und Zauber in Musik, die sich ihrer tieferen Wurzeln und lokalen Identität nicht schämt und die die Sowjetästhetik-Tropen satt hat – so wie Acute, Tonqixod, Recha, Harotnica Mix, Palina, Koob Dele, Dee Tree, Shuma – um nur eine Handvoll Beispiele zu nennen.

Musik für die Befreiung der Geister

Jahrelang wollten viele Belarussen im Ausland nicht zugeben, woher sie stammen. Manche behaupteten sogar, sie seien Russen, weil sie es satt hatten zu erklären, wo sich ihr Land überhaupt befindet. Tausende Emigranten lösten sich in einer russischsprechenden ‚post-sowjetischen‘ Diaspora auf oder integrierten sich vollständig in ihren neuen Kulturkreisen. Dies ändert sich aber gerade.

Obwohl wir das Regime noch nicht gestürzt haben, gab es doch einen Sieg, mit dem keiner gerechnet hat – die Belarussen haben aufgehört, sich ihrer Herkunft zu schämen. Der bedeutende Impro-Musiker Leanid Naruševič sagte in einem seiner letzten Interviews, dass improvisierte Musik (bzw. ‚intuitiver Jazz‘, wie er es nennt) das beste Mittel für die Befreiung des Geistes und für die menschliche Kommunikation sei:

„Dieses gemeinsame Schaffen ist eine Art Vorschule, die uns lehrt, wie wir leben sollten, und wie wir einander zuhören sollten… Und eventuell ergibt sich daraus ein besserer Staat“

Naruševič starb im Jahr 2019. Noch sehen wir kein besseres und demokratischeres Belarus, aber andere Musiker machen da weiter, wo Naruševič aufgehört hat. Obwohl ein Großteil des alternativen kulturellen Raums – Musik, Kunst, Theater, Literatur – fast ausradiert wurde, wachsen selbst auf diesem verbrannten Feld immer neue Büschel von Grassroots-Musik und einer Grassroots-Kultur. Sie widersetzen sich der alles durchdringenden Angst und dem Terror. Man kann keine freie Gesellschaft nur mit Musik allein erschaffen. Aber ohne Musik geht es ganz sicher gar nicht.


[1] Belarus entschied im Zusammenhang mit der russischen Aggression in der Ukraine, international stärker in Erscheinung zu treten und sich unentbehrlich zu machen.

Übersetzt von Chris Cave